2016 hat der damalige Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums, Rainer Eckert, im Auftrag der Stadt ein Gutachten über die Runde Ecke geschrieben. Im Interview erklärt er, was in den letzten vier Jahren passierte und was nicht und welche Chancen das Bürgerkomitee endlich nutzen sollte.
Sie haben 2016 ein Gutachten zum »Geschichtsort Runde Ecke Leipzig« erstellt. Wie kam es dazu?
RAINER ECKERT: Die Diskussion um die Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) und damit der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wurde schon 2016 geführt. Wichtige Fragen waren und sind dabei die restauratorische Sicherung der Archivalien um ihren Verfall aufzuhalten und die Frage danach, wie nach ihrer Übergabe in das Bundesarchiv die territoriale Struktur der bisher in den ehemaligen Bezirksstädten der DDR bestehenden Außenstellen gestaltet werden soll. Unter Fachleuten war relativ schnell klar, dass es künftig pro ostdeutschem Bundesland nur eine Außenstelle geben würde. Leipzig ist dabei durch seine Geschichte, seine ausschlaggebende Rolle in der Friedlichen Revolution, seine aktive Zivilgesellschaft und der hier arbeitenden erinnerungspolitischen Einrichtungen sowie Initiativen der geeignete Ort. Auch der Leipziger Oberbürgermeister, Burkhard Jung, vertrat diese Auffassung und bat mich, dafür ein grundlegendes Gutachten zu schreiben. Das sah auch der Bundesbeauftragte für die Akten des MfS, Roland Jahn, so und so kam es zu der Beauftragung, ein solches Papier zu erarbeiten. Wichtige Akteure der Pflege der Erinnerung an die Friedliche Revolution in Leipzig waren damit mehr als einverstanden. So übernahm ich diese Aufgabe und konnte das Papier bereits nach drei Monaten vorlegen. Bei der Arbeit half mir, dass ich mich nach fast 19 Jahren Arbeit als Leiter bzw. Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in der Thematik gut auskannte. Das Gutachten wurde von der Stadt Leipzig und vom BStU gut aufgenommen.
In ihrem Gutachten empfahlen Sie unter anderem: die »Neugestaltung« der Dauerausstellung »möglichst schnell in Angriff zu nehmen, da sie sonst aus restauratorischen Gründen gefährdet ist. Dabei muss ein Weg gefunden werden, den authentischen Charakter der Dauerausstellung mit modernen Sichtweisen besonders der nachrückenden Generationen in Übereinklang zu bringen.« Haben Sie in den letzten vier Jahren Veränderungen zur Umsetzung wahrgenommen?
In meinen Gutachten ging es zuerst um die Neugestaltung des gesamten Areals der »Runden Ecke«, also des Matthäikirchhofes, zu einem »Campus der Demokratie« bzw. einem »Forum für Freiheit und Bürgerrechte« wie es heute genannt wird. Entscheidend war dabei der Neubau eines Archivgebäudes für die Akten des Staatssicherheitsdienstes aus ganz Sachsen. Ein zweiter Punkt war, den wichtigsten »Aufarbeitungs«-Einrichtungen und -Initiativen hier einen Ort für ein für die Zukunft gesichertes gutes Zusammenarbeiten zu geben. Dazu gehörte auch, das Zusammenwirken der bereits in der »Runden Ecke« arbeitenden Einrichtungen zu verbessern und zu ermöglichen. Dabei kamen zwangsläufig auch die Ausstellungen in den Blick, die hier heute zu sehen sind. Von entscheidender Bedeutung war natürlich die Dauerstellung des Bürgerkomitees über »Macht und Banalität« des Staatssicherheitsdienstes. Diese Ausstellung hielt und halte ich angesichts ihres Zustandes für gefährdet. Außerdem ist die Frage zu beantworten, ob die Inhalte der Ausstellung noch heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und ob moderne Elemente einer Ausstellungsgestaltung auch hier angewandt werden sollten. Darüber hätte vor vier Jahren eine Diskussion beginnen müssen. Stattdessen verweigerten das Bürgerkomitee und Tobias Hollitzer als Leiter des Museums den Diskurs, behaupteten falsch, dass mein Gutachten nicht mehr »kommuniziert werden würde« und verschanzten sich hinter dem »authentischen Charakter« der bisherigen Ausstellung. Daran hat sich vier Jahre lang nichts geändert und erst in letzter Zeit scheint es im Eingangsbereich einige Veränderungen gegeben zu haben.
Sie empfahlen ebenfalls: »eine Evaluation der Dauerausstellung Leipzig und die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirats«. Wie war damals das Feedback seitens des Trägervereins der Gedenkstätte und der Stadt Leipzig?
Die Evaluation von Dauerausstellungen und die Arbeit wissenschaftlicher Beiräte in Museen und Gedenkstätten sind in der Bundesrepublik eine reine Selbstverständlichkeit. Für Leipzig und die »Runde Ecke« gilt das nicht. Zu meinen entsprechenden Vorschlägen haben sich Trägerverein und die Stadt Leipzig nicht geäußert, passiert ist nichts. So bleibt die Hoffnung auf den Einzug von Normalität beim Aufbau eines »Forums für Freiheit und Bürgerrechte«.
Christine Gundermann, Professorin am Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Universität Flensburg, interpretiert in ihrem Artikel »Die Quellen sprechen für sich! Die Gedenkstätte Museum in der Runden Ecke in Leipzig als Lernort« in der Fachzeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht die Gedenkstätte als »Gedenkstätte für das Bürgerkomitee«. Würden Sie dem zustimmen?
Ein harter Vorwurf. Zuerst ist festzuhalten, dass die Revolution im Herbst 1989 mit ihren Werten allen gehört. Die Friedlichen Revolutionen in ganz Ostmitteleuropa zählen zu den grundlegenden Werten des gesamten Westens. Mit Blick auf den Herbst 1989 sind natürlich zuerst die Bürgerrechtler mit ihrem Engagement zu nennen, die schon Jahre davor den Widerstand gegen die SED-Diktatur trugen. Dazu kommen die hunderttausende Ostdeutsche, die im revolutionären Herbst auf die Straßen gingen und sich gegen die Herrschenden wehrten. Die Mitglieder des Bürgerkomitees gehören sicher dazu, sie waren im Gesamtgeschehen aber nur einige und nicht die entscheidenden Persönlichkeiten. Dem heutigen Bürgerkomitee empfehle ich so eine schnelle und grundlegende Öffnung für alle, die sich aktiv an seiner Arbeit beteiligen wollen und eine offene Diskussion über die künftige Arbeit. Es kann nicht sein, dass engagierte Bürgerrechtler und politisch aktive Menschen davon ausgeschlossen werden. Ich befürchte, dass hinter diesem Vorgehen die Absicht steckt, Kritiker der Leitung des Bürgerkomitees von der Arbeit auszuschließen.
Tobias Hollitzer erklärte am 4. Juni in der Leipziger Volkszeitung, dass die Friedliche Revolution ein »Pfund« für die Stadt sei, mit dem »müssen wir wuchern und dürfen es nicht einer allgemeinen Beliebigkeit opfern«. Ich interpretiere die Aussage so, dass Kritik an der Gedenkstättenarbeit von externen Wissenschaftlern wie auch Mitarbeitern nicht ernst genommen wird. Reicht das als Konzept aus?
Nein es reicht natürlich nicht aus. Auf der Grundlage meines Gutachtens und weiterer inzwischen angestellter Überlegungen muss ein Konzept für das gesamte »Forum für Freiheit und Bürgerrechte« erarbeitet werden. Die Überlegungen zur Überarbeitung der bisherigen Dauerausstellung und zur Gestaltung einer neuen Ausstellung müssen hier einfließen. Gleichzeitig hat Herr Hollitzer Recht, wenn er auf die Bedeutung der Friedlichen Revolution für Leipzig hinweist. Aber es darf auch nicht vergessen werden, dass es in dieser Stadt mit dem 9. Oktober 1989 zwar den »Tag der Entscheidung« gab, dass dieser aber in die Geschichte der gesamten Revolution einzuordnen ist. Die Kompetenz von Mitarbeitern ist grundsätzlich immer zu nutzen. Dazu sollten Wissenschaftler und Zeitzeugen von außerhalb kommen. Entscheidend für zur gründende Gremien ist die Mischung von Ost- und Westdeutschen, Frauen und Männern, jung und alt. Auch ausländische Sachkenner sollten willkommen sein. Unbedingt sind dabei Menschen zu berücksichtigen, die Erfahrung beim Aufbau historischer Ausstellungen, Museen und Ausstellungen besitzen und nicht nur »reine« Wissenschaftler sind. Auch Persönlichkeiten mit eigener Lebenserfahrung mit Opposition und Widerstand in der DDR sowie mit der Friedlichen Revolution sind unverzichtbar.
Aus den Debatten der letzten Jahre, die sowohl die inhaltliche Arbeit als auch die Intransparenz der Vereinsarbeit des Bürgerkomitees betrafen und immer noch betreffen, könnte sich die Idee entwickeln, dass die Gedenkstätte von einer Stiftung geführt wird. In ihr könnten das Bürgerkomitee, externe Wissenschaftler und Vertreter von Stadt und Land als Geldgeber gleichberechtigt über die Runde Ecke sprechen. Wäre das ein Weg aus der anhaltenden Krise?
Zuerst geht es um die Gestaltung des Gesamtkomplexes Matthäikirchhof als Ort des sächsischen Stasi-Unterlagenarchivs. Die Leitung und Durchführung dieses Projekts wird in enger Abstimmung mit der Stadt Leipzig beim Bundesarchiv liegen. Dieser Komplex soll jedoch nicht nur ein Ort der sachgerechten Aufarbeitung, sondern auch Gedenkort, Museum und Veranstaltungsort sein. Hier sollen auch das Schulmuseum, das Leipziger Bürgerkomitee, das Archiv Bürgerbewegung und die Stiftung Friedliche Revolution in Unabhängigkeit voneinander, aber auch in Kooperation, arbeiten. Eine gemeinsame Leitung halte ich weder für notwendig noch für wünschenswert. Eine andere Frage ist die nach den Aufgaben des Leipziger Bürgerkomitees, mit seinen Ausstellungen, Veranstaltungen, Publikationen, Außenstellen und Gebäudeführungen. Dies wird weiter bei diesem Bürgerkomitee bleiben. Allerdings muss es sich neuen Mitgliedern, wissenschaftlicher Beratung und inhaltlicher Diskussion künftig öffnen. Das liegt aus meiner Sicht zweifellos auch im Interesse des Bürgerkomitees – auch wenn sich hier diese Einsicht noch nicht durchsetzen konnte.
Derzeit wird das Forum für Freiheit und Bürgerrechte geplant. Welche Chancen sehen Sie darin?
Das Forum für Freiheit und Bürgerrechte in seiner Gesamtheit birgt die Chance, ja bringt die Sicherheit, das Erbe von Opposition und Widerstand sowie der Friedlichen Revolution, aber auch die Belege für politische Repression, dauerhaft zu sichern und für künftige Generationen zu erhalten. Dabei geht es vordergründig um die Sicherung der Akten, aber im Kern um das, was aus der Geschichte widerständigen Verhaltens in der Diktatur heute und morgen wichtig und deshalb erhaltenswert ist. Es geht um Freiheit, Demokratie, Wahrhaftigkeit, die Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit und die Wahrung von Bürgerrechten. Dies ist so wichtig und notwendig, dass es mit den offenen und verdeckten kleinlichen Streitigkeiten rund um die »Runde Ecke« endlich ein Ende haben sollte.