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Kultur

Mors ex machina

Die Uraufführung »Goldie« zeigt rechnergestützte Trauerarbeit

  Mors ex machina | Die Uraufführung »Goldie« zeigt rechnergestützte Trauerarbeit  Foto: Wolfgang Eschenhagen

Meerwasser wogt, die Wellen ersterben am Strand. Der Blick wendet sich, fällt auf Sand, überall. Erst beim Umdrehen des Körpers zeigt sich, dass der Strand von Palmen eingerahmt wird. Dann steht ein muskulöser Mann in Badehose vorm Betrachter. Dass muss Murat sein, der schmerzlich Vermisste – virtuell-real in Erinnerung gebracht dank 3-D-Brille. Im Hintergrund summt ein Rechner. 

Beim Besuch auf der Probebühne darf der kreuzer-Journalist die Perspektive einnehmen, die die Trauernde in der Inszenierung sonst exklusiv hat. Die namenlose Frau nutzt in Emre Akals Auftragswerk fürs Schauspiel Leipzig die Dienste einer KI-Firma für die Trauerarbeit. Das Unternehmen erstellt aus Social-Media-Daten persönliche Situationen, in denen Trauernde ihren Verlorenen wiederbegegnen können; in Form von Avataren. Verlust und der Umgang damit sowie die Frage, ob man Daten erben kann, werden in der Uraufführung – Regie führt der Autor Akal selbst – auf mehreren Ebenen verhandelt. Beziehungsweise sieht das Publikum mehrere Perspektiven zugleich, was den Clou wie auch die Herausforderung dieses ungewöhnlichen Requiems darstellt. 

»Das ist ein VR-Dauertrip«, sagt Paul Schengber. Zusammen mit Emma Chapuy bildet er das Leipziger Medienkunstteam Polza, das schon für »Das kalte Herz« virtuelle Realität erschuf. Die beiden haben, wenn man so will, das digitale Bühnenbild für die Produktion geschaffen. »Auf der Bühne wird die Schauspielerin mit der Virtual-Reality-Brille stehen«, erklärt Programmiererin Chapuy. Ihre Perspektive aus der Brille wird auf vor der Bühne gespannte halbdurchsichtige Gaze fürs Publikum sichtbar projiziert. Den in der Brillen-Innenwelt auftretenden Murat-Avatar spielen, oder besser: animieren zwei Schauspieler. Einer steckt in einem Greensuit mit umgeschnallten Motion-Caption-Sensoren: Das Grün dient dem Freistellen für die 3-D-Animation, über die Sensoren werden die Bewegungen des Spielers auf die Figur übertragen. Die Gesichtsbewegungen stammen von einem zweiten Schauspieler, dessen Mimik erfasst und in Murat simuliert wird. 

»Gegen Bezahlung soll die Trauernde Momente mit dem lebendig gemachten Murat wieder nachvollziehen können. Das für die Bühne umzusetzen, war fordernd«, sagt Schengber, der für den »Softcode« zuständig ist, wie er das nennt, also das Design. Für den Quelltext ist Emma Chapuy zuständig. Programmiert haben beide die VR-Welt, die neben dem Strand unter anderen das gemeinsame Zuhause und romantische Regenschauer enthält, mit einer Engine für Computerspiele. 

Der Effekt, dass das Publikum auf der Bühne sieht, wie die künstliche Welt erschaffen wird – also den Schauspielern beim Motion-Caption zuschaut –, und zugleich diese Welt als Innenleben der – ebenfalls äußerlich sichtbaren – Trauernden erfährt, macht »Goldie« zur besonderen Erfahrung. »Magisch« nennt es Paul Schengber, der natürlich am besten weiß, wie viel Arbeit statt Zauberei in dem Abend steckt. Zu den Feinabstimmungen zu gelangen, sei enorm aufwendig. Er clickt am Rechner durch einige Szenen der VR-Welt. »Jede Bewegung bringt Veränderung, die das Programm erfassen und umrechnen muss. Für die Schauspieler ist das eine Herausforderung.« Sie müssten sich an diese rechnergestützte Umgebung anpassen, sich einfügen – ein großer Unterschied zu anderen Theaterarbeiten, wo sie eher aus ihrem kreativen Repertoire schöpfen können. »Der Schauspieler Wenzel Banneyer witzelte schon, dass man den Schauspielberuf bald abschaffen könnte«, sagt Emma Chapuy. 

Natürlich braucht auf irgendeine Weise Theater Menschen – selbst wenn es so ein virtuelles Puppen- oder Materialtheater ist wie in »Goldie«. Außerdem stecken genügend Spontaneität und Zufall in der Produktion, auch wenn sich das mit dem Ansatz der Programmiertheit eigentlich nicht verträgt. Und das hat dann Züge des momenthaften Theaters, das eben nicht festverfügt ist, sich nicht wiederholen kann. »Es kann jederzeit ruckeln oder etwas stürzt ab«, sagt Paul Schengber. »Dann müssen wir improvisieren, bis es wieder hochfährt.« Das permanente Rechnersummen klingt nun fast wie ein Stöhnen.

> »Goldie«: 20.1., 20 Uhr, Diskothek/Schauspielhaus 

> Die Rezension von Daniel Emmerling zur Premiere gibt es hier.


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