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Politik

»Wenn Redaktionen Umfragen in Auftrag geben, muss es sich für sie auch lohnen«

Der Politikwissenschaftler Hendrik Träger über Wahlumfragen in den Medien

  »Wenn Redaktionen Umfragen in Auftrag geben, muss es sich für sie auch lohnen« | Der Politikwissenschaftler Hendrik Träger über Wahlumfragen in den Medien  Foto: Christiane Gundlach

Hendrik Träger schiebt einen Stuhl in seinem Büro für seinen Gast zurecht. Der Politikwissenschaftler der Uni Leipzig schlängelt sich zwischen ausladenden Schreibtischplatten und einem Bücherregal gefüllt mit Fachliteratur zu seinem Platz vor der großen Fensterfront, die auf einen Innenhof des Geisteswissenschaftlichen Zentrums blickt. Ob die Medienanfragen sich derzeit häuften? Man merke, es ist Wahljahr, sagt Träger. Mit dem kreuzer spricht der Wahlforscher über politische Meinungsumfragen und wie diese von Medien und Politik vereinnahmt werden.

Herr Träger, wie sinnvoll ist, dass ständig neue Umfragen zur sächsischen Landtagswahl am 1. September escheinen?

Entscheidend ist, wie darüber berichtet wird. Eine Nachkommastelle anzugeben, ist völlig absurd. Außerdem sollte ein Plus oder ein Minus von einem Prozentpunkt nicht überbewertet werden. Wenn aber eine Partei laut Umfrage 37 Prozent hat, die sonst bei 33 steht, dann wird das auch statistisch relevant. Darüber kann dann entsprechend berichtet werden – aber auch mit dem Hinweis, dass es eine Umfrage und kein Wahlergebnis ist. Je näher der Wahltag rückt, desto klarer sollte herausgestellt werden, dass das eine Momentaufnahme ist. Es gibt Länder, in denen erstens in einem bestimmten Zeitraum vor der Wahl keine Umfragen mehr veröffentlicht werden dürfen und in denen zweitens nicht nur Werte, sondern Wertekorridore, also statistische Schwankungsbereiche, genannt werden.


Der Presserat entschied 2018, dass es Redaktionen nicht abzuverlangen sei, Wahlumfragen auf ihre wissenschaftliche Methodik hin zu überprüfen. Ziehen sich Medien damit aus der Verantwortung?

Ich glaube, da macht es sich der Presserat zu einfach. Die meisten Leserinnen und Leser interessiert die Methodik nicht. In der Redaktion sollte aber darüber nachgedacht werden, wie mit Umfrageergebnissen umgegangen wird. Ich muss in der Redaktion vielleicht nicht komplett methodisch durchsteigen, was da passiert, aber ich muss zumindest kritisch damit umgehen.


Aufgrund der hohen Kosten für Telefoninterviews und weil immer weniger Menschen an ihnen teilnehmen, gehen Institute dazu über, mehr auf Onlineumfragen zu setzen. Welche Nachteile ergeben sich daraus?

Zum Beispiel weiß man nicht so genau, ob jemand mit verschiedenen Endgeräten mehrmals teilnimmt. Außerdem stellt sich die Frage: Wen erreiche ich damit? Auch wenn es nicht mehr ganz so wie vor 10 oder 20 Jahren ist, sind immer noch bestimmte Bevölkerungsteile, insbesondere ältere Menschen, nicht online-affin. Diese Gruppe wird mit einer Online-Umfrage nicht erreicht. Bei telefonischen Umfragen haben wir aber auch das Problem, dass manche Leute nicht mitmachen. Insofern ist ein Telefon-Online-Mix, den viele Institute anwenden, eine gute Variante, um beide Gruppen zu erreichen. Grundsätzlich ist die Methodik aber auch immer abhängig von den finanziellen Möglichkeiten des Auftraggebers. Hat der Auftraggeber ein relativ knappes Budget, können die Umfrageinstitute nicht methodisch aus dem Vollen schöpfen.


Kosten für Umfragen können in den fünfstelligen Bereich gehen. Wie beeinflusst der finanzielle Aufwand die Berichterstattung?

Wenn Redaktionen Umfragen in Auftrag geben, muss es sich für sie auch lohnen. Die wollen ja nicht in einer Spalte mit zehn Zeilen schreiben: »Wir haben die Umfrage durchgeführt, es ist alles beim Alten.« Das kann die eine oder andere Redaktion dazu verleiten, Umfragewerte überzuinterpretieren. Wenn Sie die dritte Zeitung in der Woche sind, die über die politische Stimmung in Deutschland berichtet, und es verändert sich nichts im Vergleich zu den beiden anderen, dann ist das ungünstig.

Träger schlägt auf dem Bildschirm vor ihm die Internetseite Wahlrecht.de auf, auf der die neuesten Umfrageergebnisse gelistet sind.

Nehmen wir INSA, das ist das Haus-und-Hof-Institut der Bild. Die haben am 9. Januar eine Umfrage veröffentlicht und am 13. Januar. Darüber muss die Bild irgendwas berichten. Jetzt gibt es keine exorbitanten Unterschiede zwischen den Werten: Das sind mal 15, mal 16 Prozent, mal 30 oder 32 Prozent. Das ist alles im erwartbaren Bereich der statistischen Schwankungsbreite. Aber die Berichterstattung suggeriert eine erhebliche Veränderung, je nachdem, wie es medial geframed wird.


Erste Umfragen listen zudem bereits die Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), obwohl es in Sachsen noch gar keinen Landesverband gibt.

Da ist die mediale Berichterstattung schneller als die politische Entwicklung. Es ist noch gar nicht klar, ob das BSW überall bei der Europawahl oder den Landtagswahlen antritt. Es wird dann suggeriert, dass es bereits eine Partei gibt, die es definitiv auf den Stimmzettel schafft. Unter Umständen gucken die Leute am 1. September auf den Stimmzettel und sagen: »Oh, die steht ja gar nicht drauf!«


Bei der Landtagswahl 2021 in Sachsen-Anhalt sagten Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD voraus. Tatsächlich siegte die CDU mit 17 Prozentpunkten Vorsprung. Beeinflussen Umfragen das Wahlverhalten?

Auf jeden Fall, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichem Maße. Da gibt es einerseits den klassischen Trittbrettfahrer-Effekt: Ich möchte auf der Seite der vermeintlichen Gewinner stehen. Und dann gibt es den Punkt, dass Wählerinnen und Wähler sagen: Ich will nicht, dass die eine Partei auf Platz eins kommt, deshalb wähle ich die andere. Nicht unbedingt aus inhaltlicher Überzeugung, aber sozusagen als kleineres Übel. Das sind unter Umständen aber auch Wählerinnen und Wähler, die eigentlich Parteien wählen würden, die dann der Fünf-Prozent-Hürde gefährlich nahekommen.


… was in Sachsen laut Umfragen aktuell auf die SPD zutrifft und Ministerpräsident Michael Kretschmer spotten lässt, dass Parteien seiner Koalition aus dem Landtag fliegen könnten. Profitiert die CDU demnach von den Zahlen am meisten?

Das lässt sich jetzt, sieben Monate vor der Wahl, nicht sagen. Aus Sicht eines Wahlkämpfers mag es naheliegend sein, seine eigene Partei möglichst weit vorne zu sehen. Am Wahlabend nach Schließung der Wahllokale könnte sich herausstellen, dass das zu kurz gedacht war. Wenn mögliche Koalitionspartner unter der Fünf-Prozent-Hürde verschwinden, erschwert es auch jemandem auf Platz eins die Regierungsbildung. Und vielleicht ist die sächsische Union etwas erfolgsverwöhnt gewesen in den Jahren 1990 bis 2004, als die Frage lautete: Wie weit kommen wir über 50 Prozent? Es gibt mittlerweile eine erhebliche Pluralisierung und eine erhebliche Fragmentierung des Parteiensystems. Da gehört es zur Jobbeschreibung eines Politikers oder einer Politikerin, auch mit schwierigen Mehrheitsverhältnissen umzugehen. Da kann ich nicht sagen: Das ist jetzt ein bisschen ungemütlich in der Koalition.


Diese Gefahr der Unregierbarkeit rückt auch ein Bündnis mit der AfD ins Blickfeld. Ist es aus Ihrer Sicht vorstellbar, dass die AfD an der nächsten sächsischen Regierung beteiligt ist?

Man sollte niemals nie sagen. Der Unvereinbarkeitsbeschluss der Bundes-CDU ist von 2018. Das war damals eine völlig andere Situation als jetzt. Wenn man sagt: Mit der AfD geht es nicht, mit der Linken geht es nicht und demnächst geht es vielleicht auch nicht mit dem BSW, dann wird das schwierig und geht an der politischen Realität vorbei. Damit keine Situation der Unregierbarkeit entsteht, ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, ob es nicht eine atmende Grenze bei diesem Unvereinbarkeitsbeschluss geben sollte. Die Akteure vor Ort müssen entscheiden. Man kann den sächsischen Wählerinnen und Wählern schlecht sagen, die Bundes-CDU hätte es gerne, dass hier nicht mit X, Y oder Z regiert oder zusammenarbeitet wird, deshalb müssen Sie noch mal wählen.


Eine Aufweichung des Unvereinbarkeitsbeschlusses in die eine Richtung liefert aber auch Argumente, diesen in die andere Richtung aufzubrechen.

Ja, das bringt jemanden wie Michael Kretschmer in die Bredouille. Dass er jetzt nicht vor der Wahl sagt, er möchte mit der AfD regieren, ist klar. Und ich glaube tatsächlich, dass er nicht mit der AfD regieren will. Aber es muss so sein, dass man Handlungsmöglichkeiten hat – und sei es ein Tolerierungsbündnis oder eine Minderheitsregierung. So was sind wir in Deutschland nicht gewohnt, aber etwa in Skandinavien ist das gang und gäbe. Es hat Züge von Unverantwortlichkeit, den eigenen Landesverbänden durch zu viele Ausschlüsse sehr enge Fußfesseln anzulegen. Das mag auf dem Papier sinnvoll erscheinen, aber in der politischen Praxis in manchen Regionen nicht mehr funktionieren.


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1 Kommentar(e)

Frank 16.02.2024 | um 22:07 Uhr

Interessante Analyse...vor allem sind die aufgezeigten Probleme mit dem sich vergrößernden Parteienspektrum nicht von der Hand zu weisen....