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Politik

Kante statt Krone

Das Bündnis »Grimma zeigt Kante« verteidigt die Demokratie im Fürstentum an der Mulde

  Kante statt Krone | Das Bündnis »Grimma zeigt Kante« verteidigt die Demokratie im Fürstentum an der Mulde  Foto: Grimma zeigt Kante

»Guck mal, da sind viele Briefkästen«, ruft Kerstin Köditz über die Lange Straße und deutet auf einen Hauseingang. Mit großen Schritten läuft Jonas Siegert auf die in der Vormittagssonne gegenüberliegende Straßenseite – und kommt etwas enttäuscht zurück: »Da war nur einer ohne ›Keine Werbung‹«. Das Duo ist ein interessantes Bild für die wenigen Passanten in der Grimmaer Innenstadt. 

Die 57-jährige Kerstin Köditz muss immer etwas gegen die Sonne blinzeln, wenn sie mit dem mehrere Köpfe größeren 20-jährigen Jonas Siegert spricht. Und auch auf den zweiten Blick verbindet die beiden wenig: Köditz, seit Jahrzehnten trotzig-eiserne Kämpferin gegen Rechts, zog 2001 für die PDS in den sächsischen Landtag ein – Siegert war da noch nicht mal geboren. Vor der Bundestagswahl 2021 trat er in die FDP ein, weil deren Themen für junge Menschen ihm zugesagt hätten. Jetzt verteilen sie zusammen Flyer – und stehen auf einer gemeinsamen Liste für die Stadtratswahl in Grimma. 

»Grimma zeigt Kante« heißt das Aktionsbündnis, für das sie in der Altstadt Werbung machen. Seit den ersten Protesten gegen die Coronaspaziergänge vor zwei Jahren organisiert das Bündnis in Grimma Demonstrationen und Lesungen. Als sich Anfang des Jahres abzeichnete, dass die FDP keine eigene Liste für Stadtratswahl in Grimma zusammenbekommen würde, fragte Siegert bei Köditz an. Schnell wurde klar, dass man nur gemeinsam eine Liste würde aufstellen können, weil sich auch bei der Linken zu wenige Freiwillige fanden. Insgesamt sieben Namen stehen nun da. Neben Mitgliedern von Linken und FDP sind auch zwei der Grünen und eine parteilose Kandidatin gelistet. Hätten sie früher angefragt, wäre auch die SPD dabei gewesen, sagt Siegert. Die Sozialdemokraten stehen jetzt mit einer eigenen Liste und acht Kandidierenden zur Wahl. Zwei weitere FDPler, darunter der Vorsitzende des Stadtverbands, schlossen sich der Liste der CDU an. »Wir sind kein Parteienbündnis, sondern ein Menschenbündnis«, betont Köditz. Man kenne sich aus der Arbeit für Demokratie und gegen Rassismus. 

Russlandnähe auch ohne BSW in Grimma

Vor einer Buchhandlung unweit des Marktplatzes bleibt Köditz stehen. Von drinnen winkt die Buchhändlerin. Die beiden kennen sich, stehen nah nebeneinander, als die Buchhändlerin Köditz für eine Rede lobt, in der sich die Politikerin für Solidarität mit Geflüchteten ausgesprochen hatte. »Solidarität,«, fragt die Buchhändlerin mit gesenkter Stimme, »wo ist die bei euch zuletzt geblieben?« Köditz, die noch immer vor allem als Gesicht der Linkspartei erkannt wird, ahnt, worauf die Frau anspielt. »Ja, ich weiß«, flüstert sie fast entschuldigend. Der Streit in ihrer Partei, aus dem das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hervorging, beschäftige viele, mit denen sie spreche, erzählt Köditz. Doch die Nato-kritische Linie des BSW oder dessen restriktive Haltung zur Einwanderung verfangen bei vielen aus dem Linken-Wählerklientel im Osten, das zeigten zuletzt die zum Teil zweistelligen Ergebnisse des BSW bei den Kommunalwahlen in Thüringen. Köditz redet sich regelrecht in Rage, wenn es um Wagenknecht geht. Dass »Sahra« jetzt raus aus der Linken ist, darüber sei sie froh. An einen langfristigen Erfolg des BSW glaube sie nicht. Als Indiz führt sie Grimma auf: Hier stellt die Wagenknecht-Partei keine Kandidierenden zur Stadtratswahl auf.

Dass das BSW mit seinen Positionen zum russischen Angriffskrieg einen Nerv trifft, zeigt sich aber auch in Grimma. Wer von der Autobahn in die Stadt fährt, könnte denken, Gabriele Krone-Schmalz und Peter Hahne wollen für die Freien Wähler – aktuell die größte Fraktion im Rat – in den Stadtrat einziehen. An den Straßenlaternen hängen mehr Plakate der Partei für den neurechten Autoren und die Russlandverteidigerin als für die eigenen Kandidaten. Zwei Wochen vor der Wahl treten beide in Grimma auf. Organisiert und beworben von den Freien Wählern. »Wahlkampf für Geld«, nennt Siegert den Vortrag von Krone-Schmalz, für den man knapp 20 Euro Eintritt zahlen muss. 500 Menschen kamen zum Vortrag in die Stadthalle. Den russlandfreundlichen Stimmungen beugen sich einige: Die FDP hatte zum Beispiel zunächst mit ihrer Spitzenkandidatin Marie Agnes Strack-Zimmermann im Landkreis plakatiert – weil die aber als Befürworterin von Waffenlieferungen an die Ukraine in Ostdeutschland besonders unbeliebt ist, entschied sich der Kreisverband, die Großplakate mit ihr teilweise wieder abzunehmen. 

In dieses Bild passt auch das Friedensfest, das die Stadtverwaltung vor wenigen Wochen am 8. Mai ausrichtete, dem Tag, an dem die deutsche Wehrmacht 1945 bedingungslos kapitulieren musste. Die Rednerinnen und Redner in Grimma forderten an diesem Tag einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine und in Gaza und sprachen sich gegen deutsche Waffenlieferungen aus. Während ein paar weiße Tauben fliegen gelassen wurden, protestierte »Grimma zeigt Kante« mit Ukraineflagge gegen die »Instrumentalisierung« des Gedenktags. »Die Kapitulation der deutschen Wehrmacht erfolgte nicht aufgrund von Diplomatie. Das war ein bewaffneter Kampf der Alliierten gegen den Faschismus«, beschwert sich Köditz, als sie nach dem Flyer-Verteilen an ihrem Schreibtisch platznimmt. »Das Wort Faschismus spielte beim Friedensfest überhaupt keine Rolle.«

»Viele haben Angst, dass ihre Kinder in der Schule angegangen werden«

Im Büro von Köditz stehen an allen Wänden Regale, darin Ordner über deutsche Geschichte, unzählige Bücher über Rechtsextremismus. Nikotingeruch hängt in der Luft, Siegert kippt das Fenster an. Am Eingang zum Büro liegen die Haustürschilder von Köditz‘ Linken-Wahlkreisbüro, die irgendwann alle einmal draußen neben dem Eingang gehangen hatten. »Das sind nur die aus den letzten zwei Jahren«, erzählt die Landtagsabgeordnete. Immer wieder werden die Schilder mit Hakenkreuzen beschmiert, zerkratzt oder abgerissen. Die Bedrohung sei im Alltag angekommen, berichtet Köditz. »Es ist alles so verroht.« Auch wenn sie solche Angriffe schon lange kenne, sei es in den letzten Jahren noch schlimmer geworden. 

Siegert macht diese Erfahrungen erst, seitdem er auf Demos spricht und Interviews gibt. Seitdem die rechtsextremen Freien Sachsen sein Foto in ihrem Telegramkanal geteilt haben, bekommt er immer öfter Beleidigungen und Drohungen zu hören. Manche Dörfer lasse er beim Verteilen der Wahlflyer in den Abendstunden bewusst aus. Gerade Jüngere kennen Siegert von Demos oder Social Media und beschimpfen ihn, wenn sie ihn zufällig treffen. Siegert wurde auch zum Direktkandidaten der FDP im Landkreis Leipzig für die Landtagswahl gewählt. In der Kritik am eigenen Landesverband wird er dennoch deutlich: »Klar Position gegen rechtes Gedankengut und Demokratiefeinde zu beziehen, fällt einigen Mitgliedern, oft den Älteren, extrem schwer. Das ist in anderen Landesverbänden nicht so.« Anstatt Rechtsextreme bürgerlich zu machen, wünscht er sich von der sächsischen FDP klare Haltung, etwa bei der Unterstützung von Demokratie-Demos. »Mittlerweile gehört auch eine ganze Menge Mut dazu, sich auf eine Bühne zu stellen, wenn ein paar Meter weiter 50 Faschos stehen, dein Gesicht rumschicken und dich dann anpöbeln«, sagt Siegert. 

Auch, weil es die potenziellen Bedrohungen so schwer machen, Kandidierende für die Kommunalwahlen zu finden, kam es zum parteiübergreifenden Zusammenschluss. »Viele würden selber noch ihr Gesicht in die Kamera halten, haben aber Angst, dass ihre Kinder in der Schule angegangen werden«, erzählt Köditz. 

Aktueller Stadtrat: Konservativ bis rechtsextrem

Die 57-Jährige ist selbst nachdenklich geworden, bei der Landtagswahl im September tritt sie nicht mehr an. »Ich kandidiere auch deswegen nicht mehr für den Landtag, weil ich müde bin«, erzählt Köditz. Die 23 Jahre im Parlament hätten sie geschlaucht. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, sich mal ein, zwei Jahre zurückzulehnen, ihr Büro aufzuräumen. Aber mit »Grimma zeigt Kante« und dem Gefühl, hier nicht alleine zu sein, überlegte sie es sich nochmal anders: »Jetzt ist die Zeit, nochmal zu versuchen zu retten, was noch zu retten ist.«

Siegert schlägt die Seite auf einem Flipchart um. Auf dem weißen DIN-A2-Blatt, das vom ersten Treffen des Bündnisses zeugt, sind Wortgruppen unter-, andere durchgestrichen, in einer Ecke ist ein Satz umkreist: »Unsere Alternative heißt Solidarität«. An der Trias »Demokratie, gegen Rechts, Zukunft« richte sich das inhaltliche Programm aus. Was darunter zu verstehen ist, das passt auf einen kleinen Flyer. Es sind die kommunalpolitischen Klassiker für eine linke Liste: Der ÖPNV soll ausgebaut werden und im Rahmen eines nachhaltigen Stadtentwicklungsprogramms mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer geschaffen werden. Ob der Stadtkern komplett autobefreit werden soll, darüber habe sie noch andere Vorstellungen als die Listen-Kandidierenden von den Grünen, gibt Köditz zu. Einig sei man sich darüber, dass es mehr öffentliche Toiletten brauche, auch in Grimma ein leidiges Thema. Begegnungsräume für Jugendliche sollen entstehen. 

Vor allem wolle das Bündnis aber wieder Leben in den Stadtrat bringen, in dem aktuell mehr Steffens als Frauen sitzen. Die Freien Wähler stellen die mit Abstand größte Fraktion, dahinter folgt der Fraktionszusammenschluss aus den Wählervereinigungen »Bürger für Grimma« und »Allianz Stadt + Land Grimma«. Die beiden CDU-Stadträte bilden eine Fraktion mit dem einzigen SPDler. Die AfD hat vier Sitze. Nach der Wahl könnten noch die rechtsextremen Freien Sachsen dazukommen. Im klassischen Parteienspektrum ist es bisher nur die Linke, die mit zwei Sitzen eine Fraktion links der Mitte stellt. Die Grünen verpassten 2019 den Einzug in den Stadtrat.

Der »Fürst« im Rathaus

Um die Grimmaer Stadtpolitik zu verstehen, muss man über 20 Jahre zurückgehen. Außerhalb Sachsens wird Grimma bis heute mit den Bildern von der Jahrhundertflut 2002 verbunden. Auch in der Stadt erinnern die vielen Wasserstandsmarken an den inzwischen strahlend renovierten Hauswänden an die Katastrophe, die den damals frisch gewählten Bürgermeister der Stadt schlagartig populär machte. Matthias Berger lenkt seit 2001 fast unangefochten die Geschicke im Rathaus. Mit Wahlergebnissen um die 90 Prozent wurde der Parteilose immer wieder im Amt bestätigt. Dass die Freien Wähler bei der letzten Stadtratswahl so stark waren, hatten sie auch Berger zu verdanken. Der hatte sich damals mit auf die Liste schreiben lassen, holte allein 8.000 Stimmen – Steffen Pollow von der AfD-Liste brachte es als Zweitstärkster auf 1.527. Nach der Wahl verzichtete Berger auf sein Mandat, um Bürgermeister zu bleiben – ein Schachzug, den auch andere Stadtoberhäupter gerne ziehen. Dieses Jahr verzichtet Berger auf eine Kandidatur.

Die aktuelle Stadtratswahl wird trotz möglichen Verschiebungen die Grimmaer Mehrheitsverhältnisse wohl nicht auf den Kopf stellen. Die vielleicht noch wichtigere Wahl könnte für Grimma daher Anfang September anstehen: Wenn Berger als Spitzenkandidat der sächsischen Freien Wähler in den Dresdner Landtag einziehen sollte, steht Grimma vor einer ungewissen Zukunft. »Es gibt einfach seit 20 Jahren Herrn Berger und dann erstmal lange nichts«, meint Siegert. Er hoffe, dass Grimma ohne Berger demokratischer werde und die Stadt wieder zu mehr Miteinander finde. 

Als er noch mehr Zeit hatte, habe Siegert regelmäßig die Stadtratssitzungen besucht. »Herr Berger ist der einzige mit Mikrofon und redet im Zweifelsfall rein, wenn jemand eine Frage stellt«, beschreibt Siegert seine Eindrücke. »Er lässt eine richtige Diskussion gar nicht zu.« Köditz hat den Oberbürgermeister schon als Stadträtin erlebt: »Das ist so ein richtiger Fürst.« Bei Fragen oder Kritik lade Berger sowohl Stadtratsmitglieder als auch Bürgerinnen und Bürger in seine Amtsstube, statt in den öffentlichen Sitzungen darauf einzugehen. Diese Intransparenz der Stadtpolitik ärgert Siegert und Köditz. Auch vor dieser Wahl findet in der Stadt kein Wahlforum statt. Für Köditz ist deswegen entscheidend, gut vorbereitet zu sein, falls »Grimma zeigt Kante« es ins Rathaus schaffen sollte. Man wolle das »Handwerkszeug der Stadtverwaltung« beherrschen, damit man sich etwa beim Beschluss der Geschäftsordnung nicht über den Tisch ziehen lasse: »Wenn ich als Stadträtin eine Frage stelle, möchte ich das dann auch vom Oberbürgermeister öffentlich in der Sitzung erklärt bekommen.«

Wenn das Bündnis seine Kräfte auch im Stadtrat bündeln kann, könnte Grimma auch ein Vorbild für andere Kleinstädte werden. Als Ausnahme sieht man sich bei »Grimma zeigt Kante« aber nicht: »Das mit den gemeinsamen Listen wird überall in Sachsen normaler«, erklärt Siegert. Für Köditz ist es eine Möglichkeit, sich gegenseitig Kraft zu geben. Natürlich könne sie Siegert nicht damit überzeugen, dass sie eine Vermögenssteuer für Reiche wolle. »Und ich überzeuge dich nicht davon, dass wir mehr Geld für die Bundeswehr brauchen«, kontert der 20-Jährige lachend. Denn für beide ist klar, was angesichts der zunehmenden Erfolge rechtsextremer Parteien nicht nur in Grimma auf dem Spiel steht. Köditz schlussfolgert: »Alle, die keinen Nazistaat wollen, müssen jetzt zusammenhalten, auf Teufel komm raus.«


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