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Politik

»Nicht nur beim Wahlkampf vor Ort sein«

Linken-Politikerin Juliane Nagel über ­Gejohle im Landtag, Politik als Beruf und ­den ­schönsten Stadtteil Leipzigs

  »Nicht nur beim Wahlkampf vor Ort sein« | Linken-Politikerin Juliane Nagel über ­Gejohle im Landtag, Politik als Beruf und ­den ­schönsten Stadtteil Leipzigs  Foto: Christiane Gundlach

Dass sie nur zweite Wahl war als Interviewkandidatin für dieses Heft, stört Juliane Nagel nicht. Vor elf Jahren war sie schon Gast im großen kreuzer-Gespräch. Noch immer dient das Landtagsmitglied für die Linken als eine Art Projektionsfläche – auch im Negativen. Bringt sie doch als Frau, Antifaschistin und Connewitzerin einiges mit, woran sich manche Menschen stören. Darüber spricht sie ebenso wie über Strategien zur Landtagswahl, das BSW und Orte zum Abhängen.

Sie werden oft als politische Projektionsfläche bezeichnet, was ist auf dieser gerade zu sehen?

Ich glaube schon, dass der Spin der Projektionsfläche sich fortschreibt. Mit mir wird weiter eine straighte Positionierung verbunden. Gegen rechts zum Beispiel, gegen Gentrifizierung, ein bisschen die Verbindung zwischen Aktivismus auf der Straße und parlamentarischem Agieren. Diese mir zugeschriebene Verbindung fülle ich auch aus.

Sind Sie so gefährlich, dass die Freien Sachsen die AfD aufriefen, auf ihren Direktkandidaten zu verzichten, um Ihnen das Direktmandat streitig zu machen?

Es ist natürlich ein interessanter Fall, dass die das an meiner Person festmachen. Damit sagen sie ja, dass ich das Direktmandat in der Tasche habe. Es ist irgendwie eine Aufwertung. Es stand nur kurz im Raum, dass das funktioniert. Dann hätte das vielleicht gefährlich werden können. Die AfD hätte aber ihre Anhänger:innen wahrscheinlich nicht mobilisieren können, CDU zu wählen.

Die Arbeit im Parlament und auf der Straße gehört für Sie zusammen?

Ja, das ist wichtig für eine sächsische Politikerin. Es gibt wenige in meiner Partei, die das ausfüllen und leben. Marco Böhme und ich haben uns damals im Tagebau die Klinke in die Hand gegeben. Mit ihm bin ich einfach on the street. Sonst gibt’s auch in anderen Parteien wenige, die das tun; vielleicht Jürgen Kasek und Irena Rudolph-Kokot.

Ist das ein Schlüssel Ihres Erfolgs?

Auch in Leipzig sind die Methoden verschieden. Wenn ich auf meinen Landtagswahlkreis schaue, da gibt’s Connewitz und die Südvorstadt, wo ich so ein kritisches, linksliberales und linksradikales Potenzial bei Menschen ansprechen kann, denen auch Demonstrationsgeschehen wichtig ist. Die gehen mit, selbst wenn sie älter geworden sind oder Familien haben. In anderen Teilen wie Marienbrunn oder Dölitz ist die Lage ganz anders. Wir sind in den letzten Monaten zum Beispiel in Lößnig an Infoständen mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen, die dem aktivistischen Ansatz skeptisch gegenüberstehen. Dort ist die Armutslage viel höher, auch der Rentner:innen-Anteil ist hoch. Da muss man vor Ort sein und zuhören, andere Methoden haben und andere Themen besprechen. Da geht’s dann darum, warum ukrainischen Geflüchteten angeblich so viel Geld in den Hintern geschoben würde, während die Rente so klein ist. Da müssen andere Antworten gefunden werden. Es zahlt sich aus, da nicht nur zu Wahlkämpfen hinzugehen, sondern regelmäßig.

Funktioniert so ein Spagat innerhalb eines Wahlkreises?

Auch in Lößnig ist Dauerthema, dass es in Connewitz immer brennt. Da kann man dann klug intervenieren und sagen: »Nee, das stimmt gar nicht.« In Lößnig habe ich schon mit vielen älteren Menschen gesprochen, die Angst vor dem Faschismus haben, die sagen, ihr müsst die AfD verhindern. Das ist ein Glücksfall, dass es das noch gibt. Da sind viele besonnene Ältere. Wir haben uns die Zahlen zur Europawahl angeschaut und da ist uns aufgefallen, dass die Zustimmung zur AfD bei älteren, über 70-jährigen Menschen abnimmt. Daran kann man sinnvoll anknüpfen, da ist das BSW dann aber ein veritabler Konkurrent. Aber selbst in Lößnig waren wir bei der Kommunalwahl stärker als das BSW.

Wie optimistisch sind Sie, dass Marco Böhme und Nam Duy ein Direktmandat für die Leipziger Linke im Landtag erringen?

Bei der Rekapitulation von verschiedenen Zahlen, insbesondere von der letzten Bundestagswahl, fiel uns auf, dass die Wählerinnen und Wähler in Leipzig offensichtlich das System Erst- und Zweitstimme verstanden haben: Sie sind bereit, mit ihrer Erststimme Sachen auszuprobieren, abweichend von dem, was sie mit der Zweitstimme wählen. Das haben wir vor allem für die Linke gesehen, zum Beispiel im Wahlkreis von Sören Pellmann. Für dieses kluge Wahlverhalten, die Splittung beider Stimmen, gibt es eine Bereitschaft. Im Wahlkreis von Nam Duy hat die Linke bei der Erststimme bei der Bundestagswahl gewonnen. Ähnlich ist es in Marco Böhmes Wahlkreis, in meinem sowieso. Daher appellieren wir an die Leute, mit ihrer Erststimme zu variieren.

Was ist – knapp erklärt – die Grundmandatsklausel?

Ich kann bei der Landtagswahl eine Person mit der Erststimme und eine Partei mit der Zweitstimme wählen. Wenn eine Partei nicht genug Zweitstimmen hat, um die Fünf-Prozent-Hürde zu knacken, aber zwei Kandidierende, die in ihren Wahlkreisen die Stimmenmehrheit und somit ein Direktmandat bekommen, können die beiden die Partei in den Landtag ziehen. Also wenn die Linke in ihrer Zweitstimme nur 4,2 Prozent erhält, aber Marco Böhme und ich die Direktmandate bekommen, dann zieht die Linke in den Landtag. Wie viele Sitze wir dann bekommen, hängt davon ab, wie viele andere Parteien in den Landtag einziehen.

Wie erklärt man das niedrigschwellig im Straßenwahlkampf?

Da erkläre ich, wie wichtig es ist, dass die Linke als konsequent soziale und antifaschistische Partei im Landtag vertreten ist. Man weiß nie, wie die Konstellation nach der Wahl ist, was es braucht, um eine demokratische Regierung gegen eine AfD zu bilden. Vielleicht kommt es dann auf eine Linksfraktion auch noch an?

Wie wirkt sich das auf die gesamtsächsische Linke aus, dass Sie sich in Leipzig stark auf den Direktwahlkampf fokussieren?

Die Linke wird einen engagierten Wahlkampf im gesamten Land führen. Wir werden keine Leute im Land abziehen, sondern auch Räume außerhalb Leipzigs unterstützen. Es gibt ja auch eine große Eintrittswelle in Leipzig, und die sind auch eher auf dem Land unterwegs und helfen dort. Die Linke in Sachsen hat nur eine Zukunft, wenn sie flächendeckend aufgestellt ist. Aber wenn wir aus dem Landtag fallen und diese Direktmandats-Option nicht aus der eigenen Kraft der Stadt heraus nutzen, wird das schwierig für die Linke.  

Die CDU wirbt für sich damit, dass nur sie einen weiteren Ruck nach rechts verhindere. Wie sehen Sie das?

Meinem Gefühl nach ist die sächsische CDU in den letzten fünf Jahren weiter nach rechts gerückt und fungiert eher als Steigbügelhalter der AfD. Ihr eine Stimme zu geben, um die Demokratie zu bewahren, finde ich echt makaber. Das haben viele Leute bei der letzten Wahl gemacht, aber die Situation ist jetzt noch mal anders: Es gibt wirklich das Szenario, dass der Landtag aus CDU, AfD und meinetwegen BSW besteht. Da muss man klug wählen, wenn man demokratische Verhältnisse wahren und überhaupt noch Parteien des ­Mitte-links-Spektrums im Landtag vertreten haben will.

Nam Duy betreibt den Haustürwahlkampf am aktivsten?

Er und sein Team machen das seit Monaten und haben schon ein paar Tausend Haustüren besucht. Sie setzen darauf, den Wahlkampf von unten aufzubauen, auf den direkten Kontakt und die Mobilisierung von Nichtwähler:innen. Das finde ich schlau. Marco und ich werden das in der Form aber nicht machen, weil wir schon viel im Gespräch sind. Und Nam will auch die erste nicht-weiße Person im Landtag werden. Mit seiner Biografie das in einem Land wie Sachsen zu schaffen, das wäre schon cool.

Wie waren denn die Erfahrungen von Nam Duys Team bisher?

Ich bin ja überhaupt kein Fan vom Haustürwahlkampf. Aber die Erfahrungen sind wohl sehr gut. Das kann so ein Funke sein, der da überspringt. Aber ich glaube, man steht am Ende auch vor den Barrieren, dass es Ortsteile gibt, wo strukturell einfach die AfD so in der Vorhand ist, dass man da kurzfristig einfach nicht rankommt. Oder vielleicht gar nicht mehr. Die Ortschaften machen mir generell auch Sorge, wenn man sich den äußeren Gürtel Leipzigs anschaut.

Wann haben Sie zuletzt Haustürwahlkampf gemacht?

Noch nie. Ich lehne Haustürwahlkampf nicht ab, habe aber Berührungsängste. Ich will nicht in den privaten Raum von Menschen treten. Was wir bei mir diskutieren, ist eine Kleingartentour. Da hast du zumindest ein offenes Sichtfeld, der Mensch kann sich entscheiden, ob er zum Zaun kommt oder nicht.

Wie motiviert man sich dazu, jeden Tag nach Dresden in den Landtag zu fahren?

Es ist schwer geworden 2019 mit der Wahl, mit 38 AfD-Abgeordneten, teilweise ist das eine Stammtisch-Atmosphäre. Das Gejohle ist groß. Aber wir kämpfen dort für unsere Themen, bei mir war es in den letzten fünf Jahren vor allem die Wohnungspolitik, auch die Migrationspolitik, bei denen man eine Gegenstimme ist. In die Debatte zu gehen ist wichtig genug. Der Ton bei der AfD hat sich noch verschärft. Sie landen immer bei den Themen Migration, Klima oder Gendern, egal, um was es geht. Das ist die ­typische extrem-rechte Argumentationsweise. Und man merkt, dass die AfD Parlamentsarbeit für Youtube macht. Sie filmen ihre Reden; Widersprüche und der Austausch von Argumenten ist aber nicht ihr Ding.

Und wie ist die Parlamentsarbeit generell für Sie?

2014 war es für mich demokratiepolitisch ein großer Schock, dass nichts von der Opposition angenommen wird. Alles wird ­abgelehnt. Die Regierung zieht nur ihr Zeug durch. Wir argumentieren, machen Änderungsanträge, eigene Gesetze und können schon Sachen vorantreiben. Aber in der harten Abstimmung werden unsere Sachen abgelehnt.

Warum ist Ihnen Ihr Landtagsmandat so wichtig?

Damit kann ich Themen in den Landtag bringen, politisch-inhaltliche Vorstöße machen. Fachlich habe ich am meisten das wohnungspolitische Feld beackert und viel Feedback bekommen, dass das gut ist. Das Thema haben wir gefördert, und das muss man weitertreiben, das sind Knackpunkt-Themen für Leipzig und Dresden. In diese verschlafene Politik auf bestimmten Politikfeldern Feuer hineinzubringen, dazu braucht man ein Landtagsmandat. Und natürlich geht’s auch um eine kritische Kontrolle der Regierung, vor allem im Bereich Polizei, Grundrechte, Asyl. Außerdem generiert man auch Ressourcen über so ein Mandat. Das Interim und das Linxxnet, das sind gut etablierte offene Orte, die nur über ein Mandat mitfinanziert werden können. Das ist auch unsere Logik, der Stadtgesellschaft etwas zurückzugeben.

Stichwort BSW?

Ich habe ja lange mit forciert, dass es in der Linken eine Klärung gibt, was das Lager Sahra Wagenknecht betrifft. Und jetzt haben wir die Chance, uns neu aufzustellen, müssen aber auch in der Linken inhaltlich weiter diskutieren. Das BSW marschiert jetzt an uns vorbei. Das hat mich auch überrascht, denn Wagenknechts Aufstehen-Projekt war ja der totale Flop. Das hat mit einer Art Unternehmensberatung funktioniert, sich politische Inhalte zu nehmen, die Leerstellen sind, und daraus ein Programm zu formen, das keiner Logik folgt oder weltanschaulich fundiert ist.

Da ist ein diffuser Populismus am Werk. Ist der Weggang von Wagenknecht ein Gewinn für die Linke?

Ja, das hilft zur Klärung unserer Positionen in der Linken. Und die müssen wir jetzt vermitteln. Ich habe das ja beim Wahlkampf gemerkt, dass zum Beispiel Frieden ein großes Thema ist und die Leute wegen Russland und den Sanktionen verunsichert sind. Zu Recht, und das kann für Menschen, die zwischen Linke und BSW schwanken, entscheidend sein. Aber es hilft nicht, ein Plakat aufzuhängen, wo »Frieden« draufsteht. Auch das Programm der BSW zur Landtagswahl ist dünn und voller Widersprüche. Und sozialpolitisch sind die schon am Selektieren, wer staatliche Unterstützung bekommen soll – Geflüchtete und Erwerbslose nicht. Das widerspricht einer linken inklusiven Politik.

Es gibt jetzt vor der Wahl wieder Aufrufe, die Zivilgesellschaft müsse aufstehen oder gestärkt werden. Ist das ermüdend für eine Person, die sich dauerhaft antifaschistisch engagiert?

Ich habe großen Respekt vor der Organisationsarbeit und solche Demos dienen einer Selbstvergewisserung, die man vielleicht auch braucht. Viel mehr braucht es aber Unterstützung der Basisaktiven, vor allem außerhalb der Großstädte. Die haben noch einmal ganz andere Voraussetzungen als wir in Leipzig. Wer jetzt Aufrufe schreibt, sollte vielleicht langjährig und auch zwischen den Wahlen die Leute und Initiativen vor Ort unterstützen. Leider ziehen von dort viele Leute in die Großstädte, aber man kann das auch keinem vorwerfen, auch wenn das die Lage noch verschärft.

Und Sie sind gebürtige Leipzigerin?

Ja, sogar gebürtige Connewitzerin und auch dort zur Schule gegangen, voll das Klischee.

Und vor allem 1998 durch die NPD-Bewerbung in Leipzig haben Sie sich politisiert, sagten Sie in einem früheren kreuzer-Interview.

Trotz aller Ambivalenz zur DDR hat mir meine Familie irgendwie eine antifaschistische Grundhaltung mitgegeben. Als ich noch zur Schule ging, haben mich diese Neonazi-Aufmärsche wirklich schockiert. Und die anderen Themen habe ich dann darüber entdeckt.

Wie haben Ihre Eltern das auf­genommen?

Immer gut, würde ich sagen. Sie hatten einen Buchladen auf der Karli, bissen sich wie viele in den Nachwendejahren als Selbstständige durch. Das sind so gebrochene Wendebiografien, aber sie haben es geschafft. Sie fanden das gut, haben sich nie geschämt, meine Mutter hat beim ersten Landtagswahlkampf sogar Flyer ausgelegt.

Hatten Sie keine Berührungsängste zur PDS damals, die einigen heute noch als SED-Nachfolgerin als nicht wählbar gilt?

Nein, für mich war klar, Antifaschismus und klare linke Positionen finde ich nur hier. Mit dem Linxxnet haben wir ja auch die Aufarbeitung von SED-Geschichte im Stadtverband mitforciert und die Partei geöffnet für Leute, die deutlich mit dem Stalinismus gebrochen haben. Um DDR-Verherrlichung ging es nie.

Man sagt den Connewitzern eine gewisse Kiezmentalität nach, so unter sich bleiben zu wollen?

Das Viertel nimmt tatsächlich viele auf, die dem rechten Mainstream andernorts entfliehen. Und die einfach in Ruhe leben wollen, ungestört ihren Lifestyle mit bunten Haaren ausleben wollen. Auf der anderen Seite bin ich in der Vernetzung Süd aktiv und uns fällt schon auf, dass die Connewitzer schwer aktivierbar sind für die eigenen Belange, zum Beispiel gegen Entmietung und Hausverkauf.

Wo hängen Sie am liebsten ab?

Herderpark, Black Label und Vergebung. Reicht das?

Vor elf Jahren sagten Sie im kreuzer-Interview: »Ich glaube nicht, dass ich in zehn Jahren da bin, wo ich heute bin, auch räumlich.« Wie sehen Sie das heute?

Auf keinen Fall will ich Berufspolitikerin werden, habe ich bestimmt auch gesagt. Das ist natürlich nicht aufgegangen. Wahrscheinlich meinte ich auch, dass ich mal außerhalb Deutschlands sein werde. Ich bin dann einfach hier hängen geblieben und ich fühle mich nicht unwohl in meiner Rolle.

Wo sehen Sie sich in elf Jahren?

Vielleicht wirklich nicht mehr in Deutschland.

 

Biografie: Juliane Nagel, Jahrgang 1978, wurde im Connewitzer Elisabeth-Krankenhaus geboren. Nach dem Schulbesuch begann sie ein Studium der Politikwissenschaft, das zwischen 2014 und 2023 pausierte, als Nagel in den Sächsischen Landtag einzog. Auch 2019 errang sie wieder das Direktmandat für ihre Partei Die Linke.


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