Nam Duy Nguyen feierte im Wahlkreis Leipzig 1 einen Erdrutschsieg und verhalf der Linken damit in den Landtag. Mit 40 Prozent der Stimmen nahm er der Grünen Christin Melcher das Direktmandat ab – nachdem sein Team laut eigenen Angaben an fast 50.000 Türen im Wahlkreis geklingelt hatte. Wir sprachen mit dem 28-Jährigen darüber, wie er sich eine Erneuerung seiner Partei vorstellt.
Die taz hat Sie als »Retter der Sachsen-Linken« betitelt. Merken Sie einen besonderen Erwartungsdruck?
Ich mag das mit dem Retter nicht. Wir sind nie angetreten, um die Grundmandatsklausel zu aktivieren. Unsere Initiative war immer von dem Motiv getrieben, dass wir einen Erneuerungsversuch erleben.
Wie muss eine Erneuerung der Linken denn aussehen?
Die Linke muss sich grundsätzlich verändern in der Art und Weise, wie sie Politik macht und öffentlich auftritt. Wir sind die einzige Partei, die die neoliberale Politik der etablierten Parteien grundsätzlich hinterfragt, aber wir erreichen die Menschen nicht mehr. Wir müssen an unserer Verankerung in den Stadtteilen und Nachbarschaften arbeiten. Unsere Haustürgespräche sind dafür der erste Schritt. Das Schlimmste, das mir an der Haustür begegnet ist, ist, dass Menschen nicht mehr daran glauben, dass Veränderung möglich ist. Und an dieses Frustrationsgefühl muss die Linke ran.
Ist das nicht schon immer Kern linker Politik?
Ja, aber die Linke schafft es nicht, das glaubwürdig nach außen zu tragen. Außerdem muss sie darüber nachdenken, wie sie einen gesellschaftlichen Gebrauchswert hat, fernab von fünf, sieben oder elf Prozent.
Was meinen Sie damit?
Die Linke muss im Alltag der Menschen einen Unterschied machen. Und um das zu erreichen, muss man Politik grundsätzlich anders machen. Viele Menschen können mit den Parlamenten und etablierten Parteien sehr wenig anfangen, sie sind frustriert und wütend über die gesellschaftliche Situation. An den Haustüren haben uns sehr viele Menschen davon erzählt, dass es ihnen immer schwerer fällt, über die Runden zu kommen, die Miete zu bezahlen. Als Linke wollen wir das verändern, aber nicht allein. Politik soll nicht nur in den Ufos der Parlamente stattfinden, auch außerhalb von ihnen wollen wir gesellschaftliche Macht aufbauen. In Leipzig zum Beispiel macht sich die Linke jetzt für einen Bürgerentscheid für kostenloses Mittagessen in Kitas und Schulen stark. Damit kann man mobilisieren, auch ohne zu regieren. Es kann aber auch sein, dass die Linke im Alltag einen Gebrauchswert hat, indem sie an der Seite von Beschäftigten gegen den Niedriglohnsektor kämpft oder ein Sommerfest im Rabet ausrichtet.
Und das sehen Sie in Ihrer Kampagne erfüllt?
Wir sind nicht die Blaupause, sondern haben erste Versuche unternommen, im Kleinen anzufangen, was wir mit der ganzen Partei schaffen wollen. Dazu zählen für mich die Sozialsprechstunden, wo wirklich Menschen jede Woche ins Büro gekommen sind. Dazu gehört auch mein Versprechen, dass ich mein Gehalt deckeln werde. Ich will mich nicht von meinen Nachbar:innen entfernen und im Landtag verschwinden, sondern hier in Leipzig verwurzelt bleiben.
Ihre Kampagne versteht sich auch als Bewegung und ist stark studentisch geprägt. Begriffe wie antirassistisch, kolonialismuskritisch, queerfeministisch stehen mit im Zentrum. Wie lässt sich dieser akademisierte Anspruch in Politik übersetzen?
Viele Menschen, die hier arbeiten, teilen die Erfahrung, dass sie nicht so an dem Wohlstand teilhaben können, wie es ihnen versprochen wird – unabhängig davon, ob sie einen vietnamesischen Hintergrund haben wie meine Eltern oder einen deutschen Hintergrund haben und in Meißen aufgewachsen sind oder als Studi bei DHL abends Schichten schrubben. Die Linke hat jahrelang über verbindende Klassenpolitik gesprochen, also den Versuch, all diese verschiedenen Kämpfe, die Sie in Ihrer Frage ja ansprechen, zusammenzuführen. Ich habe es bisher aber nur selten erlebt, dass das wirklich realisiert wurde. Ein Beispiel war das Projekt von Fridays for Future und Verdi zusammen für eine Verkehrswende. In die Richtung sollten wir denken.
Dass Ihre eigene Identität in Ihrer Kampagne eine so große Rolle gespielt hat, war Ihnen anfangs eigentlich gar nicht recht. Warum gab es dann doch eine so starke Fokussierung auf Ihre Person?
Ich habe in meiner Jugend immer ein hohes Bedürfnis nach Anpassung empfunden gegenüber meinem deutschen Umfeld. Ausgrenzung habe ich immer individualisiert, deswegen wollte ich immer so sein wie die anderen. Mittlerweile kann ich das als strukturelles Problem verorten. Ich glaube aber auch, dass bei der Infragestellung einer kapitalistischen Logik sehr viele Partikularinteressen berücksichtigt werden müssen, weil Menschen unterschiedlich ausgebeutet werden. Das ist nichts, was ich seit jeher nach vorne stellen wollte. Wenn ich über die Eisenbahnstraße gelaufen bin, war es krass zu sehen, wie viele Geschäfte meine Flyer einfach so ausgelegt haben, wie viele Menschen mich angesprochen und gesagt haben, sie haben ein positives Bezugsverhältnis zur Wahl, obwohl sie gar nicht wählen können. Das hat mir gezeigt, dass ich stellvertretend für viele Interessen einstehe oder auch ein Symbol bin.
Dass Sie sich als parlamentarismusskeptisch beschreiben, wurde Ihnen teilweise als demokratiefeindlich ausgelegt. Was meinen Sie damit?
Ich habe das das erste Mal in einem Interview im nd gesagt – in diesem Kontext war ganz klar, dass es innerhalb der Linken einen Flügel gibt, der mehr Wert legt auf Parlamente, womöglich sogar Regierungsbeteiligungen, und einen Flügel, der sagt: Wir dürfen Politik nicht nur durch das Nadelöhr von Parlamenten betrachten. De facto gehen sehr viele Menschen mit Idealen ins Parlament und kommen dann anders raus, weil sie davon verschlissen werden, dass sie plötzlich einen Chauffeur haben. Insofern war das von mir also viel eher ein Wink hin zu mehr Demokratie und der Hinweis, dass demokratische Prozesse im Alltag stattfinden, im Betrieb, in Schulen oder wenn sich Mieter:innen zusammenschließen und gegen eine falsche Betriebskostenabrechnung vorgehen.
Wie anschlussfähig ist diese Form der Politik an ein nicht-urbanes Milieu?
Sehr anschlussfähig. Es gibt viele Stellen, wo die Rechten in den letzten Jahren im ländlichen Raum Deutungskämpfe gewonnen haben, wenn wir zum Beispiel auf den vorpolitischen Raum blicken, das heißt: Stadtfeste, Vereinswesen. Die Linke müsste sich auch auf dem Land die Frage stellen, an welchen Stellen sie aktiv sein will, fernab von: »Ich betreibe ein Bürgerbüro«.
Wie wollen Sie das im Parlament abbilden?
Ich bin Newby. Ich würde mir wünschen, Auseinandersetzungen – sei es jetzt eine Tarifbewegung oder ein Protest gegen die Schließung eines wichtigen Vereins – ins Parlament zu tragen. Das sehe ich als meine Aufgabe, habe dazu aber noch keine fertigen Antworten.
Was sehen Sie konkret für Leipzig als Herausforderung?
Das eine ist das Thema Wohnraum. Es muss massiv in Sozialwohnraum investiert werden. In den letzten 20 Jahren hat Sachsen von fast 150.000 Wohnungen so viele verscherbelt, dass es mittlerweile nur noch 12.000 sind. Die nötigen Investitionen erwarte ich nicht von einer CDU-geführten Regierung. Wo man aber was machen kann, ist die Frage von Mieter:innenschutz. Das andere Thema in Leipzig ist der große Niedriglohnsektor bei Firmen wie DHL oder Amazon. Amazon hat nicht mal einen Tarifvertrag. Das sind primär Kämpfe, die Gewerkschaften führen müssen, aber du kannst schon das Spielfeld mitbestimmen, wenn es um die Förderstruktur geht von Unternehmen oder darum, öffentliche Aufträge zu vergeben.
Im Wahlkampf hat die Leipziger Grünen-Bundestagsabgeordnete Paula Piechotta Ihre Verbindungen zum Sozialistisch-Demokratischen Studierendenverband (SDS) und die Art Ihres Wahlkampfs kritisiert.
Dass sie sich an mir abgearbeitet hat, fand ich echt schade, insbesondere vor dem Hintergrund der sehr starken Rechten. Das hat zum Teil Grenzen überschritten, wie unsere Haustürgespräche als Enkeltrick zu bezeichnen. Dem einzigen Migra, der Aussichten hat, ins Parlament zu kommen, einen Enkeltrick zu unterstellen, fand ich latent rassistisch.
Der SDS ist in den letzten Monaten immer wieder gemeinsam mit propalästinensischen Gruppen wie Handala aufgetreten, deren Kritik an Israel teilweise mit antisemitischen Parolen und Social-Media-Beiträgen einherging (der kreuzer berichtete). Würden Sie gemeinsam mit Handala auf die Straße gehen?
Ich war in den letzten Monaten nicht bei einer Handala-Demo, aber ich würde jede Demo besuchen, die sich für Frieden in Gaza und ein Ende der Besatzung Palästinas starkmacht. Natürlich teile ich dabei keine antisemitischen Positionen, ich verurteile sie. Aber ich glaube, dass in der deutschen Debatte Antisemitismus, der auch hierzulande stark ansteigt, instrumentell gegen anti-palästinensischen oder anti-muslimischen Rassismus ausgespielt wird. Viele propalästinensische Gruppen haben Empathie vermissen lassen für die Opfer und Angehörigen des 7. Oktober. Gleichzeitig beobachte ich, dass eine Verurteilung des Krieges oder der Situation in Gaza hier nicht einfach so stattfinden kann, sondern immer noch ein »aber« drangehängt werden muss. Die Verurteilung der Besatzung palästinensischer Gebiete und des Krieges wird delegitimiert und verzerrt – Menschen bekommen beispielsweise enormen Stress von Arbeitgebern, wenn sie sich propalästinensisch äußern. Da stehe ich auf jeden Fall erst mal auf deren Seite. Weil es nicht in Ordnung ist, dass Menschen, die gegen massenhafte Ermordung auf die Straße gehen, pauschal in eine antisemitische Ecke geschoben werden.
Sie wurden auch von anderen Linken dafür kritisiert, dass Sie als einziger von vier Kandidierenden der Grünen und Linken in Sachsen, denen sie angeboten wurde, eine Wahlkampfspende vom Campact-Verein angenommen haben. Wie entscheidend waren diese 25.000 Euro für Ihre Kampagne?
Tatsächlich nicht entscheidend, weil wir sehr viele Spenden eingenommen haben. Als wir das Geld erhalten haben, konnten wir das gar nicht mehr so richtig für Werbematerialien einsetzen. Wir haben das vor allem für Logistik und Infrastruktur, also Veranstaltungsräume genutzt. Der Wahlaufruf war natürlich ein Vorteil, aber welchen Unterschied er gemacht hat, kann man nicht sagen. Dass jetzt andere Leute sagen, wir hätten nur durch Campact gewonnen, finde ich nicht überzeugend. Und auch ein bisschen abwegig vor dem Hintergrund des hohen Erst- und Zweitstimmenergebnisses und unserer Aktivität hier im Wahlkreis.