Ein Jahr nach Kriegsbeginn war eine Delegation des Projektbüros Linxxnet in der Ukraine –Marco Brás dos Santos hat sie begleitet und alte Bekannte getroffen. / Titelfoto: Pfarrer Alexander
Während des Besuchs der linXXnet Delegation in Kyjiw kommt es mehrfach zu Luftalarmen. Restaurants und Geschäfte schließen, vereinzelt suchen Menschen die schützende U-Bahn-Station auf dem Maidan auf. An einem Tag wird Leipzigs Partnerstadt Ziel von Drohnenangriffen, am nächsten Tag sind es Raketen. Raketen führen zu zwei dumpfen Explosionen nahe der Unterkunft der Delegation. Während die Delegation im Gebäudeinneren in Deckung geht, kommt es zu einem Todesopfer – durch herabstürzende Raketenteile.
»Mir ist es wichtig mit den Menschen reden, statt über sie«, sagt Mark, Mitglied der Delegation, zu den Beweggründen der Reise. Das Projekt- und Abgeordnetenbüro linXXnet, in dem er aktiv ist, startete einen Spendenaufruf unter dem Motto »Winter der Solidarität«. Namensgeber für das Motto war ein Zitat des Osteuropaexperten Tim Bohse in einem Interview mit kreuzer über den Monitoring Bericht zur Lage der Zivilbevölkerung in der Ukraine.
Für die Reise wurden Bargeld, Powerbanks, Generatoren, medizinisches Gerät und Medikamente gesammelt oder gekauft und übergeben. Die Delegation traf unter anderem auf die orthodoxe Gemeinde im Kyjiver Stadtteil Dvrz. Bereits im Mai 2022 berichtete kreuzer von der Selbstorganisierung des Stadtteils. Während Priester Alexander weiterhin die Zivilgesellschaft und das Militär unterstützt, treibt ihn die Sorge um eine Gesetzesvorlage zum Verbot des orthodoxen Patriarchats um. Dies hätte zur Folge, dass das Grundstück der Kirche dem Staat überführt wird.
Jula, die Leiterin der sozialen Küche in Dvrz, und direkte Nachbarin von Pfarrer Alexander, bekam vom Verteidigungsministerium zwischenzeitlich einen Orden für die »Unterstützung der ukrainischen Armee« verliehen. »Für Dich ist der gefährlichste Ort vor einem Ministerium«, liest sie uns eine SMS vor, die ihr ein Bekannter geschrieben hat. »Aufgrund des aktuellen Wechsels von Ministerinnen werden gerade Zivilistinnen von der Straße gefangen und zu Ministerinnen ernannt«, erklärt uns Viktor Baraboj, der Übersetzer, den Witz.
Weniger witzig findet die Entwicklung grade Arthur aus Dvrz. Er hat zum 1. Februar einen Einberufungsbescheid erhalten. Richtig wohl ist ihm beim Gedanken an die Front jedoch nicht. In Lwiw, wo die Delegation auf der Anreise übernachtete, soll das Einberufungsbüro Zufahrtstraßen abgeriegelt haben, um Einberufenen habhaft zu werden – so unbestätigten Meldungen zufolge. Flucht ins Ausland kommt für Arthur jedenfalls nicht infrage.
Die Delegation ist heterogen und folgt in Kyjiw eigenen Projekte und Terminen. Anna Perepechai, die ukrainische Künstlerin mit Sitz in Leipzig, dokumentiert fotografisch den Lebensalltag im Krieg. Ihr Foto ziert nicht nur die Titelseite der Februarausgabe des kreuzer – auch auf dem HGB-Rundgang waren ihre Werke zu sehen.
Pia vom »Space Leipzig« – ein Kollektiv Leipziger Freiwilligen, die sich zusammengefunden haben, um geflüchteten Menschen einen sicheren Raum zu schaffen – führte Interviews mit nach Leipzig Geflüchteten, die wieder in die Ukraine zurückgekehrt sind. Eine von ihnen ist Dasha. Sie begleitet Pia, organisiert Termine, Räumlichkeiten und übersetzt. Einzelne Interviews sollen zum heutigen Jahrestag auf den Social-Media-Auftritten des Space erfolgen. Der Space Leipzig bietet Beratungsdienstleitungen für Geflüchtete und versorgte bis zu 500 geflüchtete Personen täglich mit Essen.
Juliane Nagel und das linXXnet Team trafen sich mit Gewerkschaftern, linken Aktivistinnen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiew. Die proklamierten Positionen der Linkspartei in Deutschland lösten hier nur Kopfschütteln aus. Gestern fand dazu eine Online-Veranstaltung statt, welche hier nachzuschauen ist.
Die Delegation war vom 20. bis 30. Januar in der Ukraine. Daraus entstanden und entstehen zahlreiche Folgeprojekte. Ein Jahr nach dem Überfall lässt sich konstatieren, dass die Ukraine näher an Leipzig gerückt ist. Bitter ist, dass erst durch den Krieg journalistisch, kulturell und politisch Verbindungen entstehen, die ohne ihn wahrscheinlich nicht entstanden wären.