Die Veranstaltung zu deutsch-israelischen Verhältnissen fand statt – komplett störungsfrei. Das muss man betonen, denn es ist aktuell nicht selbstverständlich. So wurde gerade ein Vortrag der Ringvorlesung über Antisemitismus an der Universität Leipzig abgesagt. Antiisraelische Gruppen hatten mit der Stürmung gedroht. Das zeigt das angespannte Klima, das auch Thema der Jahreskonferenz des Leipziger Simon-Dubnow-Instituts war: »Staatsräson. Zur Geschichte eines Missverständnisses«. Das Programm beinhaltete zwei öffentliche Abendveranstaltungen, die Hintergrundverschiebungen innerhalb globaler Weltbilder erörterten und den Begriff Staatsräson auf den »Prüfstand« stellten.
»Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes«, sagte Angela Merkel 2008 vorm israelischen Parlament Knesset: »Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.« Damals im Kontext der iranischen Drohung mit Atomraketen geäußert, war die deutsche, Israel geltende Staatsräson in der Welt. Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 erfuhr sie wieder eine Konjunktur. Der Begriff diente und dient verschiedenen Positionen als Vergewisserung der Israelsolidarität, der Kritik an der deutschen Nahostpolitik oder eines Schuldkult-Vorwurfs im anglophonen Gewand (»German guilt«). Nach Erlass von Haftbefehlen gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Joaw Galant durch den Internationalen Strafgerichtshof stellt sich zudem die Frage nach dem Verhältnis der Staatsräson zum Recht. Nicht zuletzt zählt auch die hiesige Erinnerungskultur zum Themenkomplex, weil sich die Staatsräson aus der historischen Verantwortung speist. Nur weiß niemand genau, was diese genau bedeutet. Deshalb beinhaltete der Titel der zweitägigen Konferenz das Wort »Missverständnis«.
Nahostkonflikt innerhalb wandelnder Weltbilder
Denn Staatsräson ist ein Begriff, der in der Politikwissenschaft dem Rechtsstaat entgegensteht: Er beinhaltet eine übergeordnete Vernunft oder Handlungsanleitung, während sich diese demokratisch verfasste Gesellschaften – ans Recht gebunden – selbst geben. Staatsräson ist auf moderne Staatlichkeit nicht anwendbar. Darauf weist unter anderem der Politologe Claus Leggewie in seinem Eröffnungsvortrag »Das europäisch-israelische Verhältnis vor dem Hintergrund globaler Transformationen« hin, der wie eine inhaltliche Klammer der Gesamttagung wirkt. Weil unterschiedliche Weltdeutungen die Beschäftigung mit dem ohnehin komplizierten Nahostkonflikt nicht einfacher macht.
Leggewie zufolge ist der Nahostkonflikt kein einfacher Territorialkonflikt, den zum Beispiel eine Gebietsteilung vergleichsweise einfach lösen könnte. Denn er ist religiös und ideologisch aufgeladen. Leggewie unterstreicht, wie sehr Israel und der Nahostkonflikt innerhalb sich wandelnder Weltbilder oder besser: einer sich wandelnden Konstellation konkurrierender Weltbilder, zum Kristallisationspunkt wurde. Ursprünglich etwa war die Sowjetunion Partner Israels, was sich erst in den 1960ern änderte. Das Land wurde fortan als US-Zwilling und Speerspitze des Westens wahrgenommen. Große Teile der Westlinken übernahmen dieses antiimperialistische Weltbild, das durch Befreiungsbewegungen wie in Kuba und Vietnam unterfüttert wurde. Daraus entstand die Staatengruppe der Blockfreien, die sich außerhalb der Ost-West-Frontstellung des Kalten Krieges positionierten. Die abwertend zur »Dritten Welt« Deklarierten wurden selbstbewusst. Blockfrei wurde als zunächst ökonomischer Begriff kulturell und politisch ausformuliert, hatte auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Bestand. »Es formte sich ein Bündnis, das explizit gegen die Hegemonie des Westens angetreten ist«, sagt Leggewie.
Keiner weiß, was Staatsräson genau bedeutet
In der unproblematischen Solidarisierung westlicher Intellektueller mit dem »globalen Süden«, deren Ummünzen von politischen zu identitären Kategorien, erfolgte eine weitere Überterminierung des Nahostkonflikts. Israel wird zum Norden gezählt, die Palästinenser-Gebiete zum Süden. Diese weltanschauliche Frontstellung müsse man, so Leggewie, bei der Betrachtung des Nahostkonflikts und des deutschen Verhältnisses zu Israel mitbedenken. Denn er beinhaltet gefährliche Projektionen. Etwa jene, dass der Gaza-Krieg der Schlüssel zur Abschaffung von Kapitalismus und Patriarchat ist, wie auf propalästinensischen Demos derzeit zu hören ist.
Diese Erlösungs-Projektion schrammte die Podiumsdiskussion tags darauf lediglich. Auch die Lebensumstände europäischer Juden und Jüdinnen wurden eher am Rande angesprochen. Ein volles Tagungsprogramm führte zum pünktlichen Schluss nach 90 Minuten. Spoiler: Die Gretchenfrage »Wie hältst du es mit der Staatsräson?« ließ sich nicht beantworten. Zumal keiner exakt weiß, was das ist. Auf dem Podium von »Staatsräson auf dem Prüfstand« fiel die Diskussion insgesamt eher zustimmend aus, die Perspektiven der Teilnehmenden wirkten ergänzend. Journalist Eren Güvercin sprach vor allem als deutscher Muslim und skizzierte die Herausforderungen, die Erinnerungskultur Menschen aus Familien mit Migrationsgeschichte nahezubringen. Der Journalist Christoph Schult brachte den beobachtenden, an der Außenpolitik geschulten Blick ein, während Ex-Diplomatin Susanne Wasum-Rainer aus der Praxis berichtete. Da hätte der Begriff Staatsräson keine Rolle gespielt, wenn sie in Israel beispielsweise die Siedlerpolitik kritisierte. In die gleiche Kerbe schlug Jurist und Journalist Ronen Steinke, den eine aktuelle Begriff-Instrumentalisierung beunruhigt: Durch Schuldgefühle fühlten sich Deutsche zum Schweigen über israelische Verbrechen verpflichtet, so laute ein häufig vorgebrachter Vorwurf durch propalästinensische Aktivisten. Das entspreche nicht der Realität, wie Steinke auch einigen historischen Beispiel zeigte. Das diene vielmehr der Stabilisierung des eigenen Weltbildes und der Selbstvergewisserung, eigentlich breitere Zustimmung zu erhalten.
Dass der aktivistische Palästina-Bezug vieler Deutscher eher Fetisch ist – »Antipolitik« –, warf jemand aus dem Publikum bei der abschließenden allgemeinen Diskussion ein. Klaus Leggewies Hinweis auf verfestigte identitäre Weltbilder kehrte hier wieder. Die in Israel lebende Moderatorin Gisela Dachs fand in diesem Punkt ein treffendes Schlusswort: »Wenn man etwas verändern will an der für beide Seiten dramatischen Situation dort, dann kann es nicht um die eigenen Befindlichkeiten in Deutschland gehen.«