Wenn Geflüchtete in Deutschland ankommen, sind Erstaufnahmeeinrichtungen (EAEs) in der Regel die erste Station für sie. Die ankommenden Menschen werden in den EAEs registriert, gesundheitlich untersucht und stellen dort ihren Asylantrag. Bis zu 18 Monate können Asylsuchende in EAEs wohnen, bis ihnen eine Gemeinschaftsunterkunft oder eine eigene Wohnung zugeteilt wird. Aktuell (Stand 9. Dezember 2024) leben 2290 Menschen in den 16 vom Freistaat Sachsen verantworteten EAEs in Dresden, Leipzig, Chemnitz und Umgebung, insgesamt ist dort Platz für 5073 Menschen. Immer wieder werden Probleme in den EAEs öffentlich, erst kürzlich berichtete die LVZ, dass eine Einrichtung in Leipzig wegen Schäden am Gebäude schließen musste. In Mockau begaben sich 2021 Menschen in einer EAE in den Hungerstreik, um gegen die Zustände dort zu protestieren. Zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember veröffentlichten die Seebrücke Dresden, die sich für eine menschenrechtsbasierte Migrationspolitik einsetzt, und der Sächsische Flüchtlingsrat (SFR) die Broschüre »No more camps - we want homes!«, in der sie die Zustände in den sächsischen EAEs kritisiert. Basierend auf Gesprächen mit Bewohnerinnen und Sozialarbeitern benennen sie Probleme und stellen Forderungen zur Verbesserung auf. Wir haben mit Lara Mück, Lars Kleyda und Sophie Zimdars von der Seebrücke und Osman Oğuz vom SFR über die Veröffentlichung gesprochen.
Welche Bedeutung hat diese Broschüre?
Oğuz: Sie dokumentiert zum ersten Mal in dieser Intensität die Zustände in sächsischen EAEs. Es gibt bisher sehr wenige offizielle Beschwerden über die Zustände. Auch wenn man mit den Bewohner:innen über ihre Probleme redet, kommt die Unterbringung häufig erst zum Schluss, weil die Menschen noch akutere Probleme haben. Zum Beispiel, einen Aufenthaltsstatus zu erhalten. Überrascht bin ich von den Ergebnissen nicht – ich habe in diesen Einrichtungen sowohl gearbeitet als auch gelebt.
Wie sind Sie zu Ihren Ergebnissen gekommen?
Mück: Wir haben mit Bewohner:innen, aber auch mit Sozialarbeiter:innen und Menschen aus dem Umfeld der EAE gesprochen. Die Interviews haben wir immer mit einer dolmetschenden Person geführt. Wir sind unangekündigt zu den Einrichtungen gefahren, sind dort selbst aber nicht reingekommen, weil wir direkt am Eingang immer abgewiesen wurden. Deswegen haben wir vor der Einrichtung oder in der Umgebung mit Personen gesprochen, die aus den Einrichtungen herauskamen.
Sie haben mit etwa 40 Menschen aus den sächsischen EAEs gesprochen. Wie haben Sie diese Gespräche erlebt?
Mück: Viele waren erstmal skeptisch und auch misstrauisch, hatten Angst, dass sie Probleme bekommen könnten, weil sie mit uns sprechen.
Zimdars: Es gab aber auch Menschen, die sehr offen waren und die Gelegenheit nutzen wollten, um zu erzählen, was schlecht läuft. Man hat auf jeden Fall in Gesprächen gemerkt, dass es diesen Redebedarf gibt.
Oğuz: Als Flüchtlingsrat versuchen wir immer wieder Kontakte zu den Menschen in den Einrichtungen zu finden. Aber das Problem ist immer, dass Menschen nur mit Bedingung einer absoluten Anonymität reden wollen, ob die Beschäftigten oder die Untergebrachten. Für Beschäftigte gilt zudem eine Schweigepflicht. Die Untergebrachten dürfen in den EAEs nicht offiziell fotografieren. Wenn wir Fotos von Untergebrachten bekommen haben, mussten wir erstmal die Hintergrunddateien löschen, damit diese nicht auf die Menschen zurückgeführt werden können. Es herrscht einfach eine enorme Intransparenz, auch für uns als Interessenvertretung oder für Journalist:innen gibt es keinen freien Zugang zu den EAEs. Besuche sind nur unter strengen Bedingungen möglich, die monatelang im Voraus geplant sind.
Sie führen die Missstände auf rassistische und wirtschaftliche Gründe zurück. Wo sehen Sie denn Rassismus?
Oğuz: Da muss man zunächst den Rassismus auf struktureller Ebene betrachten. Viele Betreuer:innen und Mitarbeiter:innen haben selbst einen Migrations- oder Fluchthintergrund, das ändert aber nichts daran, dass diese Unterkünfte von deutschen Strukturen organisiert werden. Und diese Strukturen versagen dabei, die Arbeit nach Sozialarbeitsprinzipien zu organisieren. Ich vermute da eine Einstellung dahinter: Menschen mit Migrationshintergrund sind in den Einrichtungen unter sich, deshalb ist es uns egal, was dort passiert.
Was sind denn, ganz praktisch, Missstände, die daraus resultieren?
Zimdars: Das zeigt sich schon an der Lage der Einrichtungen: Die liegen häufig am Rand der Stadt. Die Einrichtungen sind immer umzäunt und in manchen Fällen sogar mit Stacheldraht versehen. Es sieht aus wie eine krasse Abschirmung der Menschen vom Rest der Gesellschaft. Und darin sehe ich ganz klar Rassismus als Motiv: Diese Menschen werden nicht als Teil der Gesellschaft betrachtet. Uns wurde auch von Security-Mitarbeitenden berichtet, die rechte Symbolik auf ihrer Kleidung tragen oder Kleidung der Marke Thor Steinar. In einem Fall wurde uns zudem von verschimmeltem Essen berichtet. Da stellt man sich schon die Frage: Würde man verschimmeltes Essen einer weißen, deutschen Person anbieten?
Oğuz: In den Einrichtungen herrscht in der Regel ein Klima von Überwachung. Die Bewohner:innen werden nicht als Klient:innen der Sozialarbeit betrachtet, sondern als eine Masse von Geflüchteten. Im Vordergrund steht, die Unterkunft am besten, am effizientesten unter Kontrolle zu halten. Wenn über Bewohner:innen gesprochen wird, dann nicht mit deren Namen, sondern mit ihren Nummern. Bewohner:innen berichten davon, dass vor Zimmerkontrollen nicht einmal angeklopft wird. Selbstverständliche Praxen der Sozialarbeit werden in EAEs ganz leicht aus den Augen verloren.
Kleyda: Zudem gibt es nur eine Basis-Gesundheitsversorgung in EAEs. Das bedeutet, dass wirklich nur akute Schmerzen behandelt werden. Eine Person berichtete auch davon, zwar ein Rezept bekommen zu haben, aber kein Geld besessen zu haben, um dieses einzulösen.
Sie kritisieren zudem wirtschaftliche Gründe für Missstände, die auf das Ausschreibungsverfahren zurückzuführen seien. Warum?
Zimdars: Prinzipiell gilt bei den Ausschreibungen der Landesdirektion die Regel, dass das günstigste Angebot den Zuschlag bekommt. Die Einrichtungen müssen also sparsam betrieben werden.
Neben den Johannitern und Maltesern betreibt auch das Unternehmen European Homecare, das zur Serco-Gruppe gehört, EAEs in Dresden. Was ist das für ein Unternehmen?
Zimdars: Das ist ein globales Unternehmen aus Großbritannien, ein großes Dienstleistungsunternehmen, das auch in der Waffenindustrie aktiv ist und Abschiebegefängnisse betreibt. Für Unternehmen ist es ein profitables Geschäft, Geflüchtete unterzubringen. Das ist halt ein Business und führt zu Problemen.
Kleyda: Tatsächlich ist es aber so, dass wir keine großen Qualitäts-Unterschiede bei den Betreibenden feststellen konnten. Da müsste es eine systematische Untersuchung mit Zutritt zu den EAEs mit unangekündigten, kritischen Checks geben. Wichtiger scheinen eher Faktoren wie die individuelle Heimleitung oder das Gebäude der EAEs zu sein.
Worin sehen Sie die Verantwortung des Freistaats?
Oğuz: Nicht nur die Unternehmen versuchen, die Kosten zu drücken, auch das Land, das sieht man ja schon am Ausschreibungsverfahren. Auch die Qualität von vielen Materialien ist auf das Land zurückzuführen: Matratzen werden zum Beispiel in der Regel vom Sozialamt bereitgestellt.
Mit dem sogenannten Heim-TÜV versucht das Land die Qualität der EAEs zu überprüfen. Es scheint also durchaus den Willen zu geben, Missstände zu registrieren.
Mück: Der Heim-TÜV wird einmal pro Legislaturperiode durchgeführt, auch in Gemeinschaftsunterkünften. Dort wurden auch Bewohner:innen befragt und massive Mängel und totale Unzufriedenheit in verschiedenen Bereichen festgestellt, aber es ändert sich nichts. Der letzte Heim-TÜV für EAEs ist von 2023. Und da wurden nur leitende Personen und Sozialarbeiter:innen befragt, es fehlt also die ganz wichtige Perspektive der Bewohner:innen. Tatsächlich wurden auch gar nicht alle Einrichtungen geprüft. Es gab zwar Begehungen verschiedenster Einrichtungen, aber die waren angekündigt.
Kleyda: Im Heim-TÜV wird auch eine große Diskrepanz offensichtlich. In einem Viertel der Einrichtungen habe es Schimmel- und Schädlingsbefall gegeben, trotzdem kommt der Bericht zu dem Fazit, dass die EAEs grundsätzlich in einem akzeptablen Zustand seien. Da fragt man sich, wie das denn miteinander vereinbar ist.
Gibt es denn grundsätzlich einen Katalog mit Qualitätsstandards?
Oğuz: Es gibt die vertraglichen Bedingungen, in denen Hinweise zu Standards stehen. Zudem gibt das Empfehlungsdokument »Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften«, das vom Bundesfamilienministerium und UNICEF vorbereitet wurde und in dem 2016 Mindeststandards festgelegt wurden. Aber dieses Dokument wird schlichtweg ignoriert.
Welche Verbesserungen fordern Sie?
Zimdars: Forderungen kann man auf unterschiedlichen Ebenen stellen. In einer idealen Welt würde es diese Art von Erstaufnahmeeinrichtungen einfach nicht geben. Also Menschen so zentral und gleichzeitig räumlich super dezentral unterzubringen, ohne, dass diese wissen, wie es weitergeht. Aber natürlich gibt es auch einige leichter umzusetzende Verbesserungen. Zum Beispiel, dass Aufnahmeeinrichtungen nicht von privaten Unternehmen betrieben werden sollten. Einrichtungen müssen einfach zugänglich sein, mindestens für Journalist:innen und Sozialarbeiter:innen oder auch Familienmitglieder. Menschen, die gerade erst in Deutschland angekommen sind, befinden sich in einer explizit vulnerablen Position. Deshalb sollten sie eingebunden sein in die Stadt, in Strukturen. Das betrifft vor allem auch die medizinische Versorgung.
Haben Sie denn die Hoffnung, dass sich etwas ändert?
Oğuz: Natürlich ist die Hoffnung da, dass sich durch eine größere Aufmerksamkeit für das Thema etwas ändert. Aktuell wird keine Diskussion geführt, die auf eine Verbesserung der Situation der Geflüchteten abzielt, sondern es geht nur um Abschreckung. Inzwischen wird ganz offen kommuniziert, dass Geflüchtete durch bewusst schlecht geführte Unterkünfte abgeschreckt werden sollen. Politiker:innen oder Menschen aus der Verwaltung sagen, dass die Bedingungen in den Unterkünften nicht verbessert werden sollten, um Flüchtende nicht ermutigen, nach Deutschland zu kommen. Aus diesem Verständnis muss man raus, stattdessen sollten die Erstaufnahmeeinrichtungen als Willkommenszentren verstanden werden. Wenn es diesen grundlegenden Perspektivwechsel nicht gibt, ergibt es wenig Sinn, rein technische Verbesserungen zu fordern.