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Politik

Kein Ponyhof

Stadtrat Getu Abraham hat mit harten Vorwürfen der SPD den Rücken gekehrt – und ist nun Mitglied der CDU-Fraktion

  Kein Ponyhof | Stadtrat Getu Abraham hat mit harten Vorwürfen der SPD den Rücken gekehrt – und ist nun Mitglied der CDU-Fraktion  Foto: Christiane Gundlach

Vor den Leipziger Tierkliniken riecht es nach Kuhmist an diesem Mittwochmorgen im April. Über den Innenhof des Instituts für Veterinärmedizin tönt das Wiehern eines Pferdes. An den Ställen vorbei läuft Getu Abraham. Der Professor für Veterinärpharmakologie und Arzneiverordnungslehre winkt von Weitem und gibt ein Zeichen mit der Hand: Er komme gleich. Dann biegt er noch mal zu den Pferden ab.  

Aufstieg 

Mit einem breiten Lächeln schließt Getu Abraham die Tür zum Treppenhaus auf, das zu seinem Büro in der zweiten Etage führt. Der runde Tisch, an dem drei Stühle stehen, passt gerade noch neben den Schreibtisch, auf dem sich Aktenordner stapeln. Hier bereitet der 57-Jährige nicht nur seine Vorlesungen vor, sondern seit 2019 auch Sitzungen des Leipziger Stadtrats und von dessen Ausschüssen. Seit April macht er das für die CDU. Nachdem er fünf Jahre für die SPD Stadtrat war und über deren Liste letztes Jahr auch wiedergewählt wurde, überwarf er sich mit der Partei. Sein Austritt sorgte für einige Unruhe in der Leipziger SPD – und könnte die Mehrheitsverhältnisse im Leipziger Stadtrat beeinflussen. 

Abrahams Aufstieg in der Leipziger SPD ging schnell. Sehr schnell in einer Welt, in der man eigentlich erst mal jahrelang Plakate hängt: 2016 trat er in die Partei ein, nachdem ihm ein Kollege an der Fakultät riet, in die Politik zu gehen. Davor habe er, der 1989 aus Äthiopien nach Leipzig kam, sich bereits in unterschiedlichen Vereinen engagiert. »Ich bin ja ein Sozialromantiker. Soziale Gerechtigkeit ist ein wichtiges Thema für mich und ich hatte das Gefühl, dass die SPD zu mir passt«, erklärt Abraham die Entscheidung für die Sozialdemokraten. Ein Jahr des Beobachtens und Kennenlernens der Partei folgte, beschreibt es Abraham. Dann die Entscheidung zu kandidieren. Er bekommt 2019 den SPD-Listenplatz drei in seinem Wahlbezirk Mitte, macht sich keine großen Hoffnungen auf den Einzug – und kommt trotzdem rein. Mit 4.071 Stimmen wird er stärkster SPDler in seinem Wahlkreis und löst damit den bisher amtierenden Stadtrat Heiko Oßwald ab. In ganz Leipzig ist der langjährige und inzwischen in die Stadtverwaltung gewechselte Fraktionschef Christopher Zenker der einzige SPD-Kandidat, der mehr Stimmen bekommt als Abraham. Das Happy End einer Quereinsteiger-Story? 

Entfremdung 

»Als ich in den Stadtrat kam, habe ich Differenzen zur Partei bemerkt«, erzählt Abraham und gießt sich Wasser aus einer Ginflasche nach. Da sind zum einen inhaltliche Unterschiede: Abraham steht öfter quer zu seiner Fraktion, gilt als einer vom konservativen Flügel. Unter anderem stimmt er 2019 dagegen, den Klimanotstand auszurufen. »Die Ernsthaftigkeit hat mir gefehlt. Ich mache keine Symbolpolitik. Es bringt nichts, einen Notstand auszurufen. Wenn der besteht, muss man sofort handeln«, erklärt Abraham sein damaliges Abstimmungsverhalten. 

Aber die Entfremdung mit seiner Fraktion liegt tiefer. »Im Laufe der Zeit bekam ich das Gefühl, dass gewisse Rituale gepflegt werden, dass es innerparteilich eine sehr dominante Strömung gibt. Ich hatte das Gefühl, Außenseiter zu sein.« Als solchen bezeichnet er sich immer wieder in unserem Gespräch, auch das Wort Ritual benutzt er häufig. Dabei bleibt immer vage, was er damit meint. Auch als er zu seinem schwerwiegendsten Vorwurf gegenüber der Leipziger SPD kommt.  

»Der Umgang mit Migranten in der SPD folgt diesen Ritualen und ist wenig authentisch. Das habe ich erst lernen müssen. Im Laufe der Zeit habe ich durch verschiedene Kommentare merken müssen, dass meine Außenseiterrolle damit zusammenhängen könnte. Es gab keine direkte verbale Konfrontation, man hat mir aber immer dieses Gefühl gegeben«, sagt Abraham. Ein Gefühl, dass er bestätigt sieht, weil andere in der Leipziger SPD den gleichen Vorwurf erheben.  

Nach Abrahams Austritt traten drei Mitglieder aus dem Stadtvorstand zurück: Miriam Paulsen, Jonathan Schramm und Rana Younes. In einer gemeinsamen Erklärung mahnten sie, die Partei müsse sich analytische Fragen stellen. Unter anderem: »Wo und warum fühlten sich Menschen mit ihrem Netzwerk, ihren Kompetenzen oder (Rassismus-, Sexismus- etc.) Erfahrungen nicht gesehen? Wo sind als Partei hier unsere blinden Flecken?« 

»Auch meine Partei muss permanent ihre Strukturen überprüfen und das tun wir auch«, sagt Christina März dem kreuzer am Telefon. Sie ist seit 2023 zusammen mit Holger Mann Vorsitzende des Stadtverbands, außerdem Mitglied der Leipziger Fraktion. Getu Abraham habe solche Probleme aber vor seinem Austritt nie kommuniziert. Ob nach den Austritten die Strukturen noch mal überprüft wurden? »Es gab von Getu Abraham im Vorfeld weder in der Fraktion noch in der Partei Vorwürfe in die Richtung, die ich wahrgenommen hätte«, erzählt März.  

März kann zudem nicht nachvollziehen, dass Abraham sich als Außenseiter in der Fraktion gesehen hat. »Wenn Sie sich anschauen, in welchen Ausschüssen Getu Abraham saß, waren das sehr wichtige, unter anderem der für Stadtentwicklung und Bau.« 

Ein weiterer Vorwurf, den sowohl Abraham als auch die anderen Ausgetretenen formulieren, betrifft die Hierarchien in der Partei. Dominierend seien Menschen, die über Jahre durch die Strukturen in der Partei gegangen seien. Viele von ihnen säßen im Bundes- oder Landtag. So wie März’ Co-Vorsitzender Holger Mann. »Es gibt dominante Strukturen, Netzwerke oder Seilschaften, die immer in einem Verbund bleiben«, sagt Getu Abraham. »Wer von außen kommt und sich da nicht völlig ein- und unterordnet – egal, ob man fähig ist oder nicht –, wird von diesen Strukturen bekämpft.« Christina März bezeichnet diesen Vorwurf als »Unsinn«. Abrahams eigener Weg in die Fraktion habe bewiesen, dass ein Aufstieg bei den Sozialdemokraten auch möglich sei, ohne die üblichen Strukturen zu durchlaufen. 

Bruch 

Abraham nennt als Gegenbeweis den Konflikt, der ihn schließlich zum Austritt bewog. Vor der Stadtratswahl 2024 wählte der Ortsverein Mitte die Liste seiner Kandidierenden: Platz eins ging nicht an Abraham, den amtierenden Stadtrat, sondern an Thomas Nörlich. Der kandidierte, weil er einfach ein anderes, linkeres Angebot machen wollte, erzählt er dem kreuzer. »Natürlich habe ich keinen Anspruch darauf. Aber auf den anderen Listen standen amtierende Stadträte auf Platz eins. Da habe ich mir auch mehr Unterstützung gewünscht«, sagt Abraham. Zum Beispiel vom Stadtvorstand. Der passte in einigen Fällen die von den Ortsvereinen beschlossenen Listen noch mal an, vor der endgültigen Bestätigung durch die Stadtversammlung. Das sei beim Ortsverein Mitte nicht notwendig gewesen, erzählt Christina März dem kreuzer.  

Bei der Stadtratswahl holt Abraham trotzdem das Mandat für Leipzig-Mitte. Weil er mehr Stimmen bekommt als Nörlich. Wieder ist er hinter Christopher Zenker der zweitstärkste Kandidat der SPD, wieder könnte einfach alles gut sein. Aber als die neu konstituierte Fraktion schließlich Nörlich zu ihrem Geschäftsführer wählt – gegen den Wunsch von Abraham –, ist für ihn das Maß voll. Er tritt nicht nur aus der Fraktion aus, sondern auch aus der Partei. »Wir haben als Fraktionsmitglieder alle dafür geworben, dass er in der Fraktion bleibt. Er hat sich dagegen entschieden und offenbar mittlerweile eine neue politische Heimat gefunden«, sagt Christina März.  

Neue Heimat 

Fünf Monate sitzt Abraham dann als Fraktionsloser im Stadtrat. Aber sein Abstimmungsverhalten gibt Hinweise darauf, dass er eine neue politische Heimat bereits im Blick hat. Regelmäßig stimmt er mit der CDU-Fraktion, nicht zuletzt bei den besonders umstrittenen Punkten: Als es um den Umbau der Prager Straße geht oder darum, dass Leipzig aus dem Bündnis Sicherer Häfen austreten solle. Auch hier zieht Abraham wieder das Argument der Symbolpolitik heran: »Ich würde jeden Migranten unterstützen, das repräsentiere ich auch. Bei den Sicheren Häfen fehlt mir die Fantasie, wie das Menschen wirklich hilft.« 

Abraham steht unterdessen – wie bereits in der letzten Legislatur – in gutem Austausch mit der CDU. Mit Fraktionsvizechefin Sabine Heymann verbindet ihn ein freundschaftliches Verhältnis, beide sind Mitglieder der gleichen Kirchengemeinde. Abraham nimmt an Fraktionssitzungen der CDU teil, die Mitte März schließlich ihre Neuverpflichtung verkündet: Mit Abraham wächst die größte Fraktion auf 14 Mitglieder an.  

»Im Kern hat sich mein Herz nicht verändert«, sagt Abraham, der in seinem Büro inzwischen das Halstuch abgenommen hat. Wie die SPD befinde sich die CDU in der Mitte der Demokratie. Hier will er soziale Arbeit und Glauben verbinden. Ob sein Wechsel in die CDU nun ein verändertes Abstimmungsverhalten nach sich ziehe? »Ich habe nach wie vor keinen Fraktionszwang und werde auch bei der CDU nicht mitstimmen, wenn ich Anträge nicht für sinnvoll halte.« 

Am Telefon freut sich CDU-Fraktionschef Michael Weickert gegenüber dem kreuzer über den Zuwachs in den eigenen Reihen. Weickert schwärmt von Abrahams inhaltlicher Kompetenz – und sieht auch strategische Vorteile. Denn die Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat sind so eng wie lange nicht. Fehlen einzelne Stadträte oder gibt es Uneinigkeit in den Fraktionen links der Mitte, sind Mehrheiten für konservative Politik möglich. Da sei es sicherlich kein Nachteil, Abraham neu an Bord zu haben, sagt Weickert: »Wer einer Fraktion angehört, kann an den Diskussionen teilnehmen, sich anders einbringen. Es profitieren beide Seiten.« Natürlich gebe es keinen Fraktionszwang, aber: »Wir sind dann stark, wenn die Fraktion geschlossen ist. Und bei den großen, zentralen Themen muss das auch so sein.«    

Die großen Fragen möchte die CDU im Zweifel auch mit Stimmen der AfD beantworten, daraus macht Weickert in Gesprächen kein Geheimnis. Ein Thema sei das vor Abrahams Beitritt aber nicht gewesen. »Mit der AfD zusammenzuarbeiten, ist nicht mein Ziel«, sagt dieser selbst über sein Verhältnis zur rechtsextremen Fraktion, die für einen Antrag in den Haushaltsverhandlungen allerdings schon mal eine Stimme von ihm bekam. Der Antrag scheiterte knapp. Abraham erinnert sich daran im Gespräch nicht, spricht von einer langen, teils unübersichtlichen Sitzung: »Ich würde bewusst nirgendwo zustimmen, wo eine rote Linie überschritten wird.« Vor seinem Fenster beobachtet eine Gruppe Studierender ein Pferd beim Galoppieren. LEON HEYDE 

 


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