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Rezensionen

Faust

Faust

The Faust Tapes

The Faust Tapes

Anfang der Siebziger rollte eine neue (west-)deutsche Welle in die Wahrnehmung – hören: Can, Neu!, Kluster, frühe Tangerine Dream oder Kraftwerk et cetera –, auf deren Andersartigkeit die stets frische Hype-Wörter schleudernden britischen Medien mit den kaum definitorisch deutbaren Klammerbegriffen Krautrock und Kosmische Musik reagierten. Faust, gegründet 1971 als »Kraut«-Projekt des Labels Polydor, aber wegen Erfolglosigkeit bald fallengelassen, stiegen 1973 mit »The Faust Tapes« beim noch jungen UK-Label Virgin ein. Das diesen mit tollem Pop-Art-Cover gelieferten Verwirrungscocktail aus Session-Tonbändern, geschnitten zu einer wilden Collage ohne Pausen und Betitelungen, mit einem gewagten Sonderangebot in erstaunlich viele Haushalte brachte: 49 Pence, damals Preis einer 7". So billig kommt der Re-Release heute natürlich nicht, aber dafür werden immerhin Benennungen der Sound- und Song-Fragmente nachgeliefert, die zwischen Psychedelic-Lied, Stoa-Space-Funk und Neo-Dada-Noise springen und auch fast fünfzig Jahre später noch überzeugend überraschen können. Alexander Pehlemann

Muff Potter

Muff Potter

Bei aller Liebe

Bei aller Liebe

Bei aller Liebe zur Musik. Bei aller Liebe zu den Tönen. Es gibt nun mal Bands, die sind groß, ohne groß zu sein. Einfach durch Konstanz und durch konstante Qualität. Muff Potter sind so eine Band. Das Quartett war irgendwie immer ein unverzichtbares Inventar des deutschsprachigen Punks – ohne Slime zu heißen. Ein unverzichtbares Stück Punk waren sie vor allem deshalb, weil sie musikalische Wanderer waren: Sie wanderten entlang des unguten Gefühls in der Gesellschaft. Was soll das denn nun schon wieder heißen? Dass Muff Potter sich auch auf dem neunten Album wieder ihres Markenzeichens bedienen und genau solche sprachlichen Bilder verwenden, um sich auszukotzen und anzuklagen. Die Wut auf politische Entscheidungen wird nicht am Schlagzeug ausgelassen. Der Ärger über die sozialen Zustände wird nicht rausgeschrien. Sie werden vielmehr in eindrückliche Bilder und Erzählungen gepackt: von LKW-Kolonnen, die die Schlachthöfe von Tönnies verlassen, von Weckern, die zu unchristlicher Zeit und unerbittlich klingeln. Diese Bilder waren immer schon Muff Potters große Stärke. Und fast könnte man meinen, Sänger Nagel hat in den vergangenen Jahren der (Band-)Pause seine poetischen Fähigkeiten durch die Arbeit als Schriftsteller noch verfeinert. Auf jeden Fall sind die Bilder von 30 Namen am Briefkasten der Gemeinschaftsunterkünfte von Gastarbeitern stärker als jedes »Ihr seid sozial auch sehr gut drauf / doch ihr habt eure Seele dem System verkauft« von Slime. Deswegen und bei aller Liebe ist es ein wunderbares Geschenk, dass diese Band wieder da ist. Kerstin Petermann

Hot Chip

Hot Chip

Freakout/Release

Freakout/Release

Was wird da eigentlich gefeiert? Und überhaupt: Gibt es denn grade überhaupt was zu feiern? Na absolut. Zumindest, wenn man Hot Chip glauben darf. Das britische Quartett liefert mit dem achten Studioalbum »Freakout/Release« ein gnadenlos unwiderstehliches Ventil, um dem schlechten Wahnsinn des Alltags zu entkommen – hin zum guten Wahnsinn auf der Tanzfläche. Die elf Songs machen einen Salto rückwärts auf den Dancefloor der siebziger und achtziger Jahre. Und dabei sind sie sehr konsequent. Denn dieses Mal steht die Stimme von Alexis Taylor noch weniger im Mittelpunkt der Tracks als auf den vorigen Alben. Am Anfang hat die Band den unverkennbaren, klaren Gesang noch als Markenzeichen vor sich hergetragen. Jetzt sind es die überdrehten Harmonien und Beats, die Synthies, Melodien und die dichte Produktion, die die Fans erst in den Bann und dann auf die Tanzfläche ziehen sollen. In den vergangenen Jahren sind Hot Chip stärker zu einem Produzenten-Kollektiv gewachsen, das sich immer wieder Verstärkung holt, auf »Freakout/Release« zum Beispiel von Soulwax und Cadence Weapon. Und das alles, um den Titel des Albums zum Programm zu machen: Freakout. Wenn man sich die Texte anschaut, geht es nämlich weniger ums ausgelassene Feiern. Das versprechen nur die Beats. Vielmehr geht es darum, sich freizutanzen. Frei von Unsicherheit, Ängsten, Widersprüchen und Beklemmung – alles eben, was für viele in den vergangenen Monaten immer wieder ein Begleiter war. Kerstin Petermann

She & Him

She & Him

Melt Away – A Tribute To Brian Wilson

Melt Away – A Tribute To Brian Wilson

Zooey Deschanel und M. Ward aka She & Him beherrschen das Einspielen von tollen Cover-Versionen. Spätestens seit ihrem Album »Classics« ist dies hinlänglich bekannt. Beide sind mit der Musik von Brian Wilson und den Beach Boys aufgewachsen – laut Deschanel die Essenz aller guten Vibes: »Seine Musik beamt uns zurück an einen magischen Ort.« Deschanel geht sogar noch weiter und meint: »Ohne Brian Wilson wäre ich wohl nicht Musikerin geworden.« Ziel dieses Projektes war es nun, den Wilson-Songs ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Freudig können wir konstatieren: Mission übererfüllt! Der Sound von She & Him steckt ohnehin knietief in den amerikanischen Sechzigern und Siebzigern. Daher könnte es kein besseres Match geben. Durch die versierte, sehr persönliche Auswahl werden die Hörerinnen und Hörer zusätzlich motiviert, aufs Neue im Werk Wilsons zu stöbern. Auch gesangstechnisch kann das Tribute den Originalen das Wasser reichen. Aus dem waschechten Surf-Song »Good To My Baby« machen sie ganz entspannt einen fluffigen Country-Knaller. Auf dem augenzwinkernd-psychedelischen »Heads You Win, Tails I Lose« klingen die beiden, als hätten sie gerade Helium inhaliert. She & Him ist der Spaß an der Freude anzumerken. Und das gilt für die gesamte Platte. »Melt Away« ist eine höchst vergnügliche Verneigung vor dem Lebenswerk von Brian Wilson. Kay Engelhardt

Josh Rouse

Josh Rouse

Going Places

Going Places

Josh Rouse begann seine Karriere als klassischer Singer/Songwriter mit Fokus auf Americana, Folk und Country. Seine sanfte Stimme sowie großer Pop-Appeal bilden immer den kleinsten gemeinsamen Nenner seiner Lieder. Das letzte reguläre Studioalbum »Love In The Modern Age« von 2018 tanzte stilistisch angenehm aus der Reihe, war es doch eine tiefe Verbeugung vor den guten Eighties (ja, die gab es!) und Bands wie Prefab Sprout und Aztec Camera. Es folgte ein umwerfendes Weihnachtsalbum (!), das ganzjährig genießbar ist und in jede Plattensammlung gehört. »Going Places« knüpft nun an die Zeit vor »Love In The Modern Age« an: Eingespielt wurde es mit Rouse’ spanischer Band in einer Bar während des Lockdowns – der in Nebraska Geborene lebt seit vielen Jahren mit seiner Familie in Valencia. Rouse gelingt wieder einmal das scheinbar Unmögliche: Er vereint Nostalgie und Aufbruchsstimmung. Letztere spiegelt sich nicht nur im Titel von »Going Places« wider. So war Fernweh eine wichtige Inspirationsquelle. Nicht verwunderlich, da die Platte in einer Zeit entstand, in der Reisen praktisch unmöglich war. Und auf Rouse ist Verlass. »Going Places« ist luftig und rockend zugleich und damit der ideale Reisebegleiter für den Sommerurlaub. Kay Engelhardt

Flying Moon in Space

Flying Moon in Space

Zwei

Zwei

Flying Moon in Space aus Leipzig kennen die Allermeisten als Performance-Act, der via Bühne relevante Teile Mitteldeutschlands mit Energie versorgen könnte (»they won’t, Herr Kretschmer!«). So war also die erste Platte von in Shows improvisierten und gemeinsam im Studio albumfertig gemachten Tracks geprägt, gedacht als Momentaufnahme eines developing Sounds in Tradition des ewigen Krauts Düsseldorfer Schule, ergänzt um Gesten von Techno und konzentriertem Math-Rock. Die darauffolgende Remix-12-Inch (mit Camera, Suuns, A Place To Bury Strangers und anderen) gibt dem Label- und Freunde-Netzwerk Raum für eigene Interpretationen von (ja eh) ständig morphenden Tracks. Darin folgt die Band dem offenen Remix im Sinne von Techno und erweitert den eigenen Sound nochmals. Pandemiebedingt wird 2020 aus der Liveband ein sechsköpfiger Solo-Act, der stille-Post-mäßig jedem Track den eigenen Charakter hinzufügt, daran in zeitlich beschränktem Rahmen arbeitet und dann an den nächsten weitergibt, der dasselbe tut und so weiter. Aufgenommen wurde das Ganze im Sommer 2021 in einer Kapelle im tschechischen Wald, wo man in Konklave die stille Post auf laut stellte und zusätzlich Field-Recordings aufnahm (die Bäume und Tiere, das Wehrsportcamp nebenan). Herausgekommen ist mit »Zwei« kein teuer recordetes (remember Tame Impala?), sondern ein neues, sich vom ersten Album vor allem durch intensiv genutzte Synthesizer absetzendes Werk. Klar speist sich der Sound auch weiterhin aus stundenlangem, derwischhaftem Rausdrehen, jenes ist jetzt allerdings »Layer unter Layern«, was den Sound öffnet zum Pop. Nach ausgeprägter Europatour sind sie weltberühmt in Frankreich und Großbritannien – und dadurch angenehm selbstbewusst. Felix Henningsen

Kitty Solaris

Kitty Solaris

Girls & Music

Girls & Music

Puh, das geht ja gar nicht. Gleich der Opener von Kitty Solaris’ achtem Album empfängt einen mit unwiderstehlichem Beat. Keine Chance, die Füße ruhig zu halten. Und dabei geht es 3:23 Minuten darum, wie die Welt gerade stillsteht. Darf man das? Nun, die Berliner Singer/Songerwriterin macht das seit 15 Jahren und acht Alben – sehr souverän und unwiderstehlich. »Girls & Music« ist da aber wohl das bisher konsequenteste Album. Die Themen sind noch mehr in der Gesellschaft verankert: Gleichberechtigung, Konsumkritik, Armut, Kolonialisierung und Krieg statt »nur« Einsamkeit, Verloren-Sein und Selbstzweifel. Dazu kommt die Musik: Was als Indie-Pop angefangen hat, geht immer mehr in Richtung Disco mit Beats, Synthies und Vocoder. Kaum zu glauben, dass die Grundgerüste für die zehn Songs mit Gitarre und Bass entstanden sind. Und doch hört man diese intime Stimmung immer wieder in der mitunter fast wehmütig-klaren Stimme heraus, wenn man den wippenden Fuß einmal zur Ruhe mahnt und sich zurücklehnt. Dann scheinen neben den hochpolitischen und gesellschaftskritischen Zeilen auch die persönlichen Töne durch – wie etwa die um den Verlust eines Freundes. Darf das swingen? Swingen trotz Verlust? Swingen weil Armut? Swingen gegen Diskriminierung? Ja! Weil es vielleicht nicht die einzige Möglichkeit ist, damit umzugehen, aber eine ganz wunderbar therapeutische. Kerstin Petermann

Lugatti & 9ine & Traya

Lugatti & 9ine & Traya

KDK Adventures Pt. 1

KDK Adventures Pt. 1

Die Kölner Lokalmatadoren Lugatti & 9ine und Produzent Traya halten die Fahne hoch für Deutschrap, der nicht sinnentleert Luxus glorifiziert oder »Ich bin Germanistikstudent« schreit. Seit 2017 hat das Trio einen soliden Output in Form von acht (!) Alben und etlichen EPs. Traya versteht es, den Sound des Neunziger-Südstaaten-Raps auf seine beiden Rap-Kollegen zuzuschneiden. Memphis-Rap ist einfach gut gealtert: Die drei Jungs wurden zu der Zeit geboren, als Vorbilder wie Three Six Mafia oder 8Ball Alben mit Legendenstatus veröffentlichten. Die neue EP reiht sich in das ein, was man vom Trio bereits kennt: Es wird Hasch geraucht, Bier mit den Atzen getrunken und Playerhater werden in ihre Schranken verwiesen. Politisch positionieren sie sich klar, wenn Lugatti rappt: »Linksgrünversiffte Jugend, Bruder, fick die FDP / Tu’ einem Nazi weh«. Für ein paar wenige Flow-Schwächen wird man durch Trayas vielschichtige Produktion entschädigt. »Gotcha Scared« ist ein dämonisches Trap-Brett, über das Lugatti und 9ine fliegen; »Schmuddelig« hat das Potenzial zum Sommerhit für einen Abend am See. Insgesamt eine kurzweilige EP, die Lust auf das nächste Album macht – und auf das Konzert im Täubchenthal. Jan Müller

The Kooks

The Kooks

10 Track to Echo in the Dark

10 Track to Echo in the Dark

»You always will be 25« singt Kooks-Sänger Luke Pritchard und fasst damit den Sound des neuen Albums gut zusammen: 16 Jahre nach ihrem Debüt »Inside In/Inside Out« kokettieren die britischen Indie-Rocker immer noch mit der eigenen Naivität, was sich in Songtexten widerspiegelt, die von Verliebtheit und fast trotzigem Optimismus handeln. Tatsächlich ist »10 Tracks to Echo in the Dark« randvoll mit lebensbejahendem, eingängigem Indie-Pop, der problemlos als Roadtrip-Soundtrack herhalten kann. Nur: So richtig aufregend ist es nicht. Der Opener »Connection« ist sowohl musikalisch als auch textlich wenig einfallsreich – spätestens mit dem Einsatz der Backgroundvocals, die in Dauerschleife den Songtitel leiern, verfestigt sich dieser Eindruck. »Jesse James« langweilt mit monotonem Einbahnstraßen-Pop, das Reggae-lastige »Beautiful World« in Kollaboration mit Milky Chance harmoniert musikalisch zwar gut und nähert sich textlich den Widersprüchen des menschlichen Daseins, wird in der zweiten Hälfte jedoch zunehmend kitschig, inklusive Kinderstimmenchor. Aber es gibt auch Lieder wie »Cold Heart«, bei denen der typische Gitarren-Sound der Band seine Strahlkraft wiederentdeckt, und Überraschungen wie »Oasis» und »25«, die mit Synthies und groovendem Bass das Soundportfolio erweitern. Insgesamt eine Sammlung harmlos launiger (Indie-) Pop-Songs, die trotz konserviertem Jugend-Charme leider kaum hängenbleiben. Sarah Nägele

Kiwi Jr.

Kiwi Jr.

Chopper

Chopper

Mit ihrem Glanzstück »Cooler Returns« schenkten uns Kiwi Jr. das vielleicht beste Album des letzten Jahres. Selbiges kam punkig, witzig und sonnig daher. Kurzum: einfach traumhaft. Liebe auf das erste Hören gewissermaßen. Somit hing die Messlatte für den rasch veröffentlichten Nachfolger denkbar hoch. Leider wird die Qualität von »Cooler Returns« nicht erreicht. »Chopper« ist düsterer, angestrengter und weniger unterhaltsam als der Vorgänger. Immerhin versorgen uns Kiwi Jr. nach wie vor mit tollen Melodien und intelligenten Texten. Diesmal geht die Reise musikalisch stärker in die Achtziger als in die Neunziger. Synthies sind inzwischen beinahe genauso essenziell für die kanadische Band wie Gitarren. Das trägt dazu bei, dass die bisherige power-poppige Leichtfüßigkeit häufig ausgebremst wird. Zudem weicht die offensichtlich große Liebe der Band zu Pavement auf dem aktuellen Longplayer der großen Liebe zu Real Estate. Das ist ganz sicher kein Verbrechen. Aber leider springt der Funke nur bei einer Handvoll Songs über. Das Gros der neuen Stücke ist durchaus gefällig, aber nicht hitverdächtig. Wenn »Cooler Returns« die geniale Party war, ist »Chopper« lediglich das Katerfrühstück am nächsten Morgen. Wenn auch ein sehr ordentliches. Kay Engelhardt

Lizzo

Lizzo

Special

Special

Spätestens seit ihrem Auftritt in der Late-Night-Show von Jan Böhmermann ist Lizzo auch in Deutschland angekommen. Das liegt nicht nur an der unverwechselbar kraftvollen Stimme, mit der die US-Amerikanerin für Gänsehaut sorgt, sondern auch an ihren frechen Texten. Darin feiert die Sängerin, die sich selbst als »black and heavy« bezeichnet, regelmäßig insbesondere ihr Schwarzsein und ihren eigenen Körper. Konsequenterweise setzt sie diesen dann auch immer wieder in Musikvideos und auf Alben-Covern eindrucksvoll in Szene. Auf ihrem vierten Album »Special« bleibt Lizzo ihren alten Themen treu: Es wird der Selbstliebe (»Special«), Heilungsprozessen (»About damn time«) und Freundinnenschaften (»Grrrls«) gehuldigt. Musikalisch bleibt es dieses Mal allerdings weniger abwechslungsreich, zu oft droht die Stimme der Sängerin unter dominanten Popsounds unterzugehen. Lizzos Message tut das allerdings keinen Abbruch. Dass sie es ernst damit meint, hat sie gerade erst bewiesen: Nach Kritik an einem behindertenfeindlichen Wort in ihrem Song »Grrrls«, entschuldigte sie sich und überarbeitete ihn. Kerstin Petermann

Die Sterne

Die Sterne

Hallo Euphoria

Hallo Euphoria

Die Rolling Stones sind wieder da – also die deutschen Rolling Stones. Meint: Die Sterne. Und das soll keine Beleidigung sein für das Hamburger Quintett. Aber wer seit 35 Jahren auf der Bühne oder im Studio steht und noch so viel kompromisslose Energie mitbringt, muss sich solch einen Vergleich gefallen lassen. Man muss schon beide Hände zu Hilfe nehmen, um nachzuzählen, das wievielte Album »Hallo Euphoria« ist. Und ja: Manche Dinge sind neu. Die Band ist eine andere und hat sich eher zum Kollektiv um Frank Spilker gewandelt. Auch die Lieder und ihre Texte haben sich verändert. Während Tocotronic (noch so ein Vergleich!) im Laufe der Jahre immer abstrakter und poetischer geworden sind, wurden Die Sterne umso konkreter und kompromissloser. In zehn Songs bearbeiten sie Gesellschaftskritik, wie das selbstverständliche und ungehemmte Konsumieren oder Hoffen, dass doch bitte wenigstens man selbst von Mieterhöhung, Pandemie oder Klimawandel verschont bleibe. Mögen sich doch die anderen damit rumschlagen. Gefühlt wird die Ansage mit jedem Album klarer, dass es so nicht weitergeht und es mehr Engagement sowie Miteinander braucht. Und wer Die Sterne kennt, weiß, dass das nicht nur in swingende, mitreißende Rhythmen gegossene Statements sind, sondern, dass die Band sie mit Kooperationen, Engagement und Taten lebt. Dafür gebührt ihnen großer Respekt sowie fünf Schiffchen. Kerstin Petermann

Revenge of the She-Punks

Revenge of the She-Punks

Various Artist

Various Artist

Vivien Goldman, UK-Punk-Zeitzeugin frühester Stunde und bald darauf musikalisch aktiv in der sich ausdifferenzierenden Postpunk-Szene, heute »Punk-Professor« in New York, war unzufrieden, weil die weibliche Seite im Punk-Kanon allzu selten vorkam. Sie antwortete bissig wie fundiert mit dem Buch »Revenge of the She-Punks«, das 2021 im Ventil-Verlag auf Deutsch erschien. Angelegt anhand der Leitmotive von Identität, Geld, Liebe und Protest kam bereits jenes mit kenntnisreich erstellten Playlisten, die neben angloamerikanischen Klassikerinnen unter anderen auch japanische, tschechoslowakische und (west-)deutsche She-Sounds reihte. In konsequenter Verweis- und Verwertungslogik kommt nun die großartig selektierte Compilation zur Sache, mit der fortan cool wissend entlang des She-(Post)-Punk-Zeitstrahls getanzt werden kann. Gerade passend zur Lese-Tour durch die deutschen Lande, die Vivien Goldman am 12.9. ins UT Connewitz bringt. Alexander Pehlemann

Kaleidoscope Chamber Collective

Kaleidoscope Chamber Collective

Fanny und Felix Mendelssohn: Kammermusik

Fanny und Felix Mendelssohn: Kammermusik

Es war die Trauer über den Verlust der Schwester Fanny, die Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1847 jeden Lebensmut nahm. Beide Geschwister waren am Instrument und im Komponieren gleichsam hochbegabt. So passt es, dass das Kaleidoscope Chamber Collective nun Kammermusik der beiden Geschwister präsentiert. Das sorgt für spannende Vergleiche. Denn die Musik von Fanny, das zeigt zumindest ihr Klaviertrio, ist kein Aufguss kompositorischer Rezepte des berühmten Bruders. Im Gegenteil: Der Pianist Tom Poster, die Geigerin Elena Urioste und die Cellistin Laura van der Heijden spielen das Werk wie eine verkappte Sinfonie. Da klingt nichts nach seichter Salonmusik, stattdessen bricht immer mal das Drama durch. Dann wieder schwelgt die Musik in Schwermut, die man mehr einem Johannes Brahms zuordnen würde. Beispielsweise im zweiten Satz, der in dieser schlichten Interpretation einfach nur betörend schön klingt. Keine Frage: Diese Kombination der Musik der seelenverwandten Geschwister ist der vielleicht spannendste Beitrag zu ihrem gemeinsamen Jubiläumsjahr. Hagen Kunze

Mikhail Pochekin

Mikhail Pochekin

Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll

Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll

Vor 175 Jahren, am 4. November 1847, stand die Musikwelt für einen Augenblick still: An diesem Abend starb in Leipzig der erst 38-jährige Felix Mendelssohn Bartholdy. Noch ein halbes Jahrhundert später erinnerte sich der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick 1897 an das Entsetzen, das die Nachricht in ganz Europa ausgelöst hatte: »Wie ein Blitzschlag traf sie alle Freunde ernster Musik. Die musikalische Kirche hatte ihr Oberhaupt verloren.« Ohne Mendelssohns Wirken sähe der moderne Musikbetrieb anders aus. Der Gewandhauskapellmeister setzte nicht nur ältere Werke auf den Plan. Er beendete auch die Trennung zwischen dem für die Instrumentalmusik verantwortlichen Konzertmeister und dem Kapellmeister, dem die Leitung der Vokalmusik oblag. Fast vergisst man da, dass er auch eigene Kompositionen vorlegte, die in die Zukunft reichten. Wenn man zum Jubiläum ein einziges Mendelssohn-Werk »für die Insel« raussuchen müsste, dann das Violinkonzert e-Moll. Unzählige Male wurde es eingespielt. Doch diese leidenschaftliche Neuaufnahme mit Mikhail Pochekin lohnt es, das Konzert neu zu erkunden. Hagen Kunze

Bill Callahan

Bill Callahan

Ytilaer

Ytilaer

An Bill Callahan haben sich schon zahlreiche Autorinnen und Autoren die Finger wundgeschrieben, die ihm meist nicht länger als dreißig Minuten gegenübersaßen. Ist er nun unnahbar oder extrem entspannt? Ist er verschroben oder wählt er einfach seine Worte wohldosiert? Glücklicherweise darf alles zusammen auf ihn zutreffen. Am klarsten lässt sich Callahan freilich über seine Konzerte und Alben erfahren, die immer ein Erlebnis sind. So auch sein neuestes Werk mit dem genialen Namen »Ytiliaer«. Der australische Künstler Paul Ryan, der bereits das Cover-Artwork für die Alben »Apocalypse«, »Have Fun With God« und »Dream River« beisteuerte, hat auch für diesen Longplayer das bestens passende Cover gemalt. Callahans kontemplative Lesart von Indie-Country schrammt auch diesmal wieder angenehm knapp am Jazz vorbei. Seiner wunderbar-eindringlichen Erzählerstimme könnten wir ohnehin stundenlang zuhören. Naturlyrik kommt erneut nicht zu kurz. Und die eine oder andere Lebensweisheit wird mit lakonischem Humor eingestreut. Auf »Ytiliaer« erfindet Callahan seinen eigenen Sound zum Glück nicht neu, sondern schenkt uns einfach eine Handvoll neuer Callahan-Songs. Wir freuen uns schon auf das nächste Album! Kay Engelhardt

Quavo, Takeoff

Quavo, Takeoff

Only Built For Infinity Links

Only Built For Infinity Links

Das Raptrio Migos erweckt manchmal den Eindruck, es würde sich ein Hirn teilen: Organisch der Flow, die eingestreuten Adlibs, die subtilen Lacher über die Lines der Kollegen. Quavo und Takeoff, zwei Drittel der Migos, haben nun ein gemeinsames Projekt auf Albumlänge vorgelegt. Frühere Soloprojekte der Rapper waren durchwachsen und die beiden Fortsetzungen des Trap-Meilensteins »Culture« (2017) enttäuschten. Mit einem Albumtitel, der an Eastcoast-Legende Raekwon anspielt, und einem Cover, das einem Salute an Outkasts »Stankonia« aus dem Jahr 2000 gleichkommt, sind die Ansprüche klar formuliert. Viele Songs sind Hommagen an Klassiker des Genres. Der Opener sampelt etwa Jay-Zs »1-900-Hustler«; »Bars Into Captions« bedient sich am Beat des Outkast-Hits »So Fresh, So Clean«. Diese Zitate funktionieren gut und der Flow der beiden harmoniert perfekt. Die Lines sind dann so, wie man es von den Migos gewohnt ist: Auf »Look @ this« ertönen erst nachdenkliche Streicher, dann der wuchtige Beat – und diese Zeilen: »Show out on these hoes, player / Patek, rose gold«. Sozialkritische Texte hingegen sucht man vergebens. Eine der grundlegenden Fragen in Bezug auf das Trap-Genre ist, wie zukunftsfähig Hiphop ist, der mehr auf Flow und Beats ausgelegt ist als auf Message und Lines. Quavo und Takeoff geben darauf keine endgültige Antwort. Davon abgesehen lässt sich das Album trotz mancher Längen bei 18 Songs gut durchhören. Jan Müller

Ich könnte Du sein, aber Du niemals ich

Ich könnte Du sein, aber Du niemals ich

Ich könnte Du sein, aber Du niemals ich

Ich könnte Du sein, aber Du niemals ich

Es heißt Mutter, es sieht aus wie Mutter und es ist Mutter drin: Die Rede ist vom neuen Album der Berliner Band um Sänger und Texter Max Müller: »Ich könnte Du sein, aber Du niemals ich«. Und trotzdem hält die Frau auf dem Cover musikalisch nicht, was sie verspricht. Was auf dem von Müller selbst gezeichneten Cover so schmerzvoll und verzweifelt wirkt, entpuppt sich (wie so oft zuvor bei der Band) als musikalisch kräftig, kompromisslos, entschlossen und bestimmt, zuweilen aber auch als sanft und zerbrechlich. Mit diesen Mitteln thematisieren die Berliner die Unerreichbarkeit von Zielen, die uns die Gesellschaft mitunter aufbürdet – wie in »Und die Sonne scheint umsonst (Nur der Himmel weiß warum)«. Mit Poesie und swingenden Beats untermalen sie die Diskussion um das Patriarchat und Gleichberechtigung (»Tal der weißen Männer«). Das ist der wahre Kniff der seit über 30 Jahren bestehenden Band: Einfach alles zu nutzen, was ihnen künstlerisch zur Verfügung steht, und sich nicht festlegen zu lassen. Deshalb ist »Ich könnte Du sein, aber Du niemals ich« kein einfaches Post-Punk-Album, kein Post-New-Wave-Album oder was auch immer. Es changiert musikalisch irgendwo dazwischen, mit ein paar Blues-Elementen und Ausflügen in den Indie-Pop. Aber zum vollen Verständnis fehlt eben noch das Cover, das eine inhaltliche Ebene anbietet und dies gleichzeitig nicht soll. Die Band schiebt eine im Stile einer Kunstinterpretation gestaltete Video-Beschreibung des Covers zur Veröffentlichung hinterher. Sie lässt einen über die übergroße Bedeutung einer Mutter nachdenken und macht sich gleichzeitig lustig über die Ernsthaftigkeit einer solchen minutiösen Interpretation. Mutter lässt sich nicht festlegen. Und so ist am Ende eben doch wieder Mutter drin, wo Mutter draufsteht. Kerstin Petermann

Sparta

Sparta

Sparta

Sparta

Komplette Throw-Back-Time, oder was? Sparta sind wieder da. Mit ihrem gleichnamigen fünften Studioalbum. Und sofort gehen erst einmal alle Türen zu den 1990ern und frühen 2000ern auf: euphorische Erinnerungen an At the Drive-in, wehmütige Gedanken an Emo-Core-Momente mit Thursday und The Get Up Kids. Denn die sind auf dem Album beziehungsweise der dazugehörigen Tour mit vertreten. Aber trotzdem: »Sparta« ist keine Nostalgie-Zweitverwertung. Das Album umfasst zwölf vielseitige und energiegeladene Songs, die in durchschnittlich 2:50 Minuten Spielzeit mal den Bass, mal das Schlagzeug von der Leine lassen und nach vorne treiben, die aber auch mal in fünfminütigen extended Tracks Raum für Soli und fürs Jammen bieten. Spielfreude nach zwei Jahren Ruhe und diversen Soloprojekten. Ein bisschen »erwachsener« vielleicht nach den Erfahrungen mit anderen Projekten, nicht mehr ganz so kompromisslos impulsiv wie At the Drive-in oder das erste Sparta-Album »Wiretap Scars«. Zu hören sind aber auf jeden Fall die Texas Roots (bei »Spiders«). Und das ist gut so. »Sparta« ist so eine Reminiszenz an den Beginn der 2000er, aber kein vergangenheitsseliger Altherren-Rock. Es ist ein Album, das Spaß macht. Kerstin Petermann

The Düsseldorf Düsterboys

The Düsseldorf Düsterboys

Duo Duo

Duo Duo

Schockverliebt. Anders kann ich meinen Erstkontakt zu den Düsseldorf Düsterboys nicht beschreiben. Zwei junge Männer – Peter und Pedro, der eine heißt, wie der andere aussieht –, eine Akustik- und eine Stromgitarre, dazu zweistimmiges Gebrumm absonderlicher Texte, im Fenster hinter der Bühne tut der Hamburger Hafen, als ob nichts wäre (Zusatzpunkt für alle, die den Pudel-Club erkannt haben). Aber von wegen! Das ist die mit Abstand aufregendste Band der Welt! Gerade weil sie dermaßen unaufgeregt ist, weil sie dermaßen zeitlos klingt, so unambitioniert rüberkommt und dabei nie an Dringlichkeit verliert. Album gibt’s an dem Abend noch keins, die EP auf Kassette ist ausverkauft. Wir spulen knapp fünf Jahre vor: Die Düsterboys veröffentlichen im Herbst 2022 ihr viertes Album. Dass zwei davon unter dem Bandnamen International Music erschienen, wird die Musikgeschichte dereinst als Randnotiz vermerken – beide Bands sind das Duo Pedro und Peter, das damit praktisch ein »Duo Duo« ist. Und so heißt nun die neue Platte, die sehr gut, aber nicht so gut wie »Die besten Jahre«, »Nenn mich Musik« und »Ententraum« ist. Mit »Ab und zu« und »Lavendeltreppen« gibt es aber wieder mindestens zwei richtige Anti-Hits, die einem in den seltsamsten Momenten nicht aus dem Kopf gehen. Und aus dem Verliebtsein ist längst Liebe geworden. Benjamin Heine