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Rezensionen

Spidergawd

Spidergawd

VI

VI

Ein Blick auf den Titel sagt: Ja, es ist das sechste Album der Norweger von Spidergawd. Und zwischen Album V und VI ist mehr passiert als zwischen I und V zusammen. Na ja, fast. Aber nicht nur der zeitliche Abstand ist deutlich länger gewesen. Auch musikalisch gibt es Veränderungen, die beinahe als dramatisch gelten können für eine Band, die so sehr auf Beständigkeit setzt wie Spidergawd. Da ist erstens die zweite Gitarre, mit der Brynjar Takle Ohr den Sound der Band verdichtet. Noch ein bisschen kraftvoller. Noch ein bisschen mehr Energie. Weiter hin zum Metal und weg vom Groove, den die Band trotz aller Härte immer hatte, dank des Saxofons von Martin Snustad, das sich auf »VI« sehr zurückhält. Und das ist dann auch das Zweitens: Ohne das immer wieder überraschende Saxofon sind Spidergawd ne Prog-Metal-Band, die mehr Metal ist als Prog. Sie sind das wie gewohnt sehr gut, aber eigentlich war die Sache der Norweger nie, sich an Bekanntes anzulehnen. So bleibt zwar die unbedingte Freude über ein hervorragendes, kraftvolles und drängendes Alternative-Album, das einen mal wieder wachrüttelt. Gleichzeitig paart sie sich mit dem Gefühl, den Kick von etwas wirklich Neuem gebraucht zu haben. Ein wenig, wie eine richtig gute Vollmilch-Schokolade zu essen, wenn man eigentlich Salted Caramel mit Himbeer-Topping gewollt hätte. Kerstin Petermann

Gellert Ensemble/Andreas Mitschke

Gellert Ensemble/Andreas Mitschke

J. C. F. Bach: Die Auferweckung des Lazarus

J. C. F. Bach: Die Auferweckung des Lazarus

Abseits von den Pfeilern der Leipziger Hochkultur hat sich Andreas Mitschke, Kantor an der Taborkirche Kleinzschocher, eine musikalische Nische eingerichtet, die längst weit über Leipzig hinaus strahlt: die Musik der Aufklärung, die zeitlich in die Spätphase von Bachs Thomaskantorat und in die nachfolgende Generation fällt. Im März 2020 lag ein Passionsoratorium des oft vergessenen Bach-Sohns Johann Christoph Friedrich (des »Bückeburger Bachs«) auf den Pulten – doch auch diesem Projekt machte Corona einen Strich durch die Rechnung: Die Idee blieb, das Werk aber wurde getauscht: Nun liegt eine hörenswerte Einspielung des nur knapp einstündigen Oratoriums »Die Auferweckung des Lazarus« vor, das 1773 als kongeniale Gemeinschaftsarbeit des Komponisten mit dem Aufklärer Johann Gottfried Herder entstand. In den Händen des jungen Gellert-Ensembles blüht diese Musik regelrecht auf und widerlegt das immer wieder zu lesende Vorurteil, der Bückeburger Bach sei der Konservativste im Quartett der komponierenden Bach-Söhne gewesen. Was hier zu hören ist, ist »Sturm und Drang« vom Feinsten! Hagen Kunze

Slixs

Slixs

Quer Bach 3

Quer Bach 3

Die Geschichte macht Mut: 2014 sorgten Slixs für Aufsehen im Blätterwald, als man mit viel Sinn für Musikalität und Lockerheit Instrumentalwerke des größten aller Thomaskantoren für das sonst im Jazzpop wandelnde A-cappella-Ensemble bearbeitete. Ganz neu war derlei zwar nicht, aber in den vergangenen Jahren haben sich Slixs mit dem Seitensprung »Quer Bach« auf zwei CDs jede Menge Freunde gemacht. Dann kam jedoch Corona – und mit dem Virus die Idee, via Crowdfunding ein Nachfolgeprojekt auf die Beine zu stellen: »Quer Bach 3«. Nun liegt die Scheibe vor, und die größte Überraschung prangt nicht einmal auf dem Titel, sondern versteckt sich ganz am Ende: die Übertragung des Orgel-konzerts d-Moll BWV 596 in einer atemberaubenden Fassung für Orgel-Solo (gespielt vom Gewandhausorganisten Michael Schönheit) und Vokalsextett, das auch hier Gespür für Gestaltung zeigt. Denn schon die Wahl der Vokalisen, mit denen die fünf Herren samt Dame agieren, sorgt für vielschichtige Farben und geht weit über den simplen »Dabadaba«-Sound hinaus, der sonst zu hören ist, wenn Bach derart bearbeitet wird. Hagen Kunze

Christian FP Kram

Christian FP Kram

Grenzschatten – Lieder

Grenzschatten – Lieder

Der in Leipzig lebende Komponist ChristianFP Kram stellt auf dieser CD seine Klavierlieder aus dem Zeitraum 2001 bis 2019 vor. Vielfältig wie die von ihm ausgewählten Texte sind seine Vertonungen derselben – Hesse und Nietzsche stehen hier neben drei Gegenwartsautoren – und provozieren mit ihrer Verschiedenartigkeit ein weites Spektrum an musikalischen Ausdrucksmitteln. So reichen die Vertonungen vom konzentriert Aphoristischen über filigran sich verlierende Momente und traditionellere Lied-Strukturen bis hin zu Krams typischen sich rhythmisch verdichtenden, insistierend fordernden Akkord-Repetitionen. Nietzsches Sentenzen werden sehr sparsam und konzentriert vertont, pointiert unterstützt die Musik hier die Sprache. Die Gedichte der Tschechin Kateřina Rudčenková (*1976) kreisen um Einsamkeit, Schlaf, Dämmerung und Finsternis. Kram lotet hier die Grenzen des Tonumfangs einer Baritonstimme aus und fordert im Sinne extremen Ausdrucks vom Interpreten gelegentlich auch das Verlassen der sängerischen Komfortzone. Der ergreifenden Sprachgewalt und Dramatik der Texte des irakischen Dichters Sargon Boulus (1944–2007) liegen politische Vorfälle und menschliche Extremsituationen zugrunde. Kram inszeniert sie für Mezzosopran musikalisch zerklüftet, fast rezitativisch und dynamisch weit aufgespreizt. In den Hesse-Vertonungen für Mezzosopran und Klavier durchwandern stille Linien ruhig den aufgedehnten Zeit-Raum. Kevin Perryman (*1950) ist ein in Bayern lebender, britischstämmiger Lyriker. Im Zyklus »Eingeschneit« erscheint im Lied »Teppich« in fast klassischer Manier dann sogar einmal eine ganz schlichte Gesangslinie über einem sanften Teppich aus Akkorden. Überhaupt gibt es hier viele beständige Texturen, die den einzelnen Liedern prägnanten Charakter verleihen. Die fünf Liederzyklen werden von zwei Liedduos interpretiert. (...) Anja Kleinmichel

The Melmacs

The Melmacs

Good Advice

Good Advice

Nachdem die Veröffentlichung aufgrund der aktuell obligatorischen Engpässe in den Presswerken noch mal verschoben werden musste, ist »Good Advice«, das neue Album der Leipziger Band The Melmacs, nun erschienen. Das Warten aber hat sich gelohnt: Die zehn Songs, aufgenommen in den Leipziger Glooven-Studios, changieren zwischen Pop, Punk und 70s-Garagerock. Wer jetzt wegen der Buzzwordkombi »Pop« und »Punk« fürchtet, Opfer einer weiteren Band zu werden, die die tote Kuh der Blink-182-Nostalgie melken möchte, sei beruhigt. Ein Glamrockeinschlag, der vor allem dank der Stimme einer talentierten Sängerin zum Tragen kommt, verleiht dem Album in der aktuellen Rock-Soundlandschaft (insbesondere zwischen Dresden und Leipzig) zweifelsohne die nötige Unverwechselbarkeit. Übrigens wurden die im Schnitt zweieinhalb Minuten dauernden Tracks zwar in Leipzig aufgenommen, aber in Atlanta von Dan Dixon gemixt und danach von Magnus Lindberg in Stockholm gemastert. Ein wahrhaft internationales Werk also. Den Liebhaberinnen und Liebhabern von Vinyl sei außerdem gesagt, dass die LP mit einem illustrierten Zine (in dem auch die Lyrics zu finden sind), einem Stickerset und einem Downloadcode geliefert wird – und dank des Artworks von Bimmi Breidel aus Dresden ein echtes Schmuckstück ist. Laura Gerlach

Lil Obeah

Lil Obeah

Goes Nyabinghi. Ghostdance Dubs

Goes Nyabinghi. Ghostdance Dubs

Obeah ist ein (auch) auf Jamaika praktizierter karibischer Ritus, der afrikanisches Erbe synkretistisch aufmischt, mit Geistern und Zauberei. Lil Obeah transformiert diese Bezüge und die Insel-Sounds seit einiger Zeit in die von ganz anderen Gespenstern durchwehten Karpaten, vermittelt über die post-punkige Reggae-Party und düstere Industrial-Dub-Dances. Mit deren Protagonisten er sogar kooperiert, so bei der Radioshow Devil’s Jukebox mit seinem Mentor Mark Stewart von der Pop Group. »Goes Nyabinghi«, wie sonst mit dem Produzenten Marius Costache erarbeitet, führt unter Verweis auf das Rasta-Drumming in Doom-dunkle und eher kühle Sound-Täler Transsilvaniens, vor allem in den Dubversionen. Die Referenz des Geistertanzes geht dabei aber auch zur Frühzeit jamaikanischer Produktion: zu Prince Buster, der nicht nur den legendären Song »Ghost Dance« intonierte, sondern zudem die tribalistischen Trommeln erstmals in die Pop-Musik überführte, mit »Oh Carolina« von den Folkes Brothers, 1961. Alexander Pehlemann

Tom Liwa

Tom Liwa

Eine andere Zeit

Eine andere Zeit

Seit Mitte der achtziger Jahre ist Tom Liwa solo und mit seiner Stammband, den Flowerpornoes, musikalisch aktiv. Jüngst hat er mit »Eine andere Zeit« den geschätzt 39. Frühling seiner Karriere eingeleitet. Wie seine beiden musikalischen Lebensbegleiter Bob Dylan und Neil Young hat sichLiwa dabei zeitlebens zwischen Riff-orientierter Rockmusik und folkig-intimem Blues bewegt. Nach der rockigen Flowerpornoes-Platte »Morgenstimmung« aus dem letzten Jahr ist es insofern nur folgerichtig, dass »Eine andere Zeit« wieder reduzierter und zerbrechlicher daherkommt und Liwa die Distortion-Pedale gegen Westerngitarren und Bottlenecks eingetauscht hat. Gleich der erste Track – »Schon wieder Februar« – lässt in prosaischer Weise Erinnerungen vorbeiziehen: »Wir wollten viel weiter / Aber sind nur bis hierher gekommen«, singt Liwa dabei gewohnt schnoddrig, aber nicht schnörkellos, wobei man ihm die Herkunft aus dem proletarischen Milieu des Ruhrgebiets angenehmerweise jederzeit anhört. Ebenso wie Young und Dylan pflegt auch Liwa ein inniges Verhältnis zu sogenannten Longtracks, weshalb auch auf dem neuen Album mit »Hunter«, »Onya«, »Ein halbes Jahr in Thailand« und »Fast schon März auf dem Traumschiff Aida« gleich vier Songs die Spiellänge von sieben Minuten überschreiten. Dabei bietet sich für Liwa die Möglichkeit, seine elegischen, metaphorischen, oft Tagebuch-ähnlichen Texte zu entfalten, die mitten im Winter eine frühlingshafte Aufbruchstimmung zu erzeugen vermögen. Luca Glenzer

Ladytron

Ladytron

Time’s Arrow

Time’s Arrow

Ein Album wie eine dicke Eisschicht, die sich über die Welt legt: die Fenster, die Wege, die Flüsse. Schneidend klar und hell ist der Gesang von Helen Marnie auf dem siebten Studioalbum von Ladytron »Time’s Arrow«. Der Shoegaze des Liverpooler Quartetts ist dabei das beste Beispiel für die Schönheit von Eis. Es ist nicht immer schroff und kalt. Es schimmert auch gleißend im Licht. Und es schützt und isoliert, was darunter liegt. In zehn geschliffenen Tracks zeigen Ladytron diese bezaubernde Seite der Kälte. Wie zarte Triebe von Frühblühern kämpft sich der Gesang durch die Synthesizer und führt die Melodie weiter bis zur Spitze des kleinen Zehs. Der Rest des Fußes wippt dabei ohnehin schon lange mit. Wie fernes Klirren brechen sanfte Rhythmen der Drumcomputer in das flirrende Treiben des Electro-Nebels. Sanfter und weniger discoesk sind die Rhythmen im Vergleich zu den vorangegangenen Alben. Und dichter ist zugleich der Nebel der Synthesizer. Es ist Winter. Die Songs ziehen in den Bann und machen süchtig nach mehr. Nach mehr von den Geschichten über vergangene Beziehungen oder großstädtische Lebensentwürfe. Kerstin Petermann

James Yorkston, Nina Persson & The Second Hand Orchestra

James Yorkston, Nina Persson & The Second Hand Orchestra

The Great White Sea Eagle

The Great White Sea Eagle

Dieses neue Album von James Yorkston ist die zweite Zusammenarbeit des schottischen Folk-Musikers mit dem schwedischen The Second Hand Orchestra. Karl-Jonas Winqvist, der Leiter dieses Ensembles, schlug Yorkston vor, diesmal eine weibliche Stimme mit an Bord zu nehmen. Nina Persson, Chefin der Cardigans, erklärte sich erfreulicherweise flugs dazu bereit. Ihre sanfte und klare Stimme ergänzt bestens den angenehm-kauzigen Gesang Yorkstons. Für »The Great White Sea Eagle« nutzte selbiger erstmals das Piano als Hauptinstrument fürs Songwriting, was den Stücken eine neue Leichtigkeit verleiht. Auch wenn der schottische Künstler die Rohfassungen beisteuerte, entstanden die Songs erst wirklich über die gemeinsame Arbeit im Studio. Yorkston formuliert das wie folgt: »Wir brauchten für keines der Stücke mehr als vier Takes, da niemand an Egotrips interessiert war. Alle Anwesenden ließen sich viel Raum für Experimente.« Die Platte lebt von diesem Live-Feeling und der Spannung des Spontanen. Zudem ist sie erneut ein wunderbarer Beleg dafür, dass Melancholie höchst fluffig daherkommen kann. Kay Engelhardt

Modus Pitch

Modus Pitch

Polyism

Polyism

Obgleich diese Musik nicht gleich anfasst, erlaubt sie, ganz unbedarft in die beeindruckende Klanglandschaft von Modus Pitch zu blicken. Dessen Album »Polyism« erklingt als sphärische, kaum zu überblickende tonvolle Welt. Hier blitzen die Melodien als synkopierte Himmelskörper, dort verblassen anmutige Bläserstreifen am Horizont oder es bäumen sich taktvolle Wolkenberge auf, die sich für jeden Song neu und schön zusammenfinden. Gereizt von rätselhaften, geräuschvollen Brocken zwischen den auratischen, zumeist flächigen Soundweiten verliert es sich herrlich. Synthies öffnen Portale, aus denen mehr als nur Instrumentenstimmen zu säuseln, zu locken vermögen. Das Solodebüt des Leipziger Musikers, Produzenten und Sounddesigners Friedrich Brückner (Interview auf S. 42) kartografiert keine Genrepfade, sondern schafft mit jedem der neun Tracks vereinnahmende musikalische Universen – wie gemacht für Entdeckungswillige, für Hörfreudige, die bereit sind, den Boden zu verlieren und einzutauchen. Mit Gästen wie Hendrik Otremba (Messer), Fabian Altstötter (Jungstötter, ehemals Sizarr), Jonas Wehner (Warm Graves) und Martin Wenk (Calexico u. v. m.) ist »Polyism« auch Popkultur. Claudia Helmert

Leopold-Mozart-Quartett

Leopold-Mozart-Quartett

Aus der Enge in die Weite. Streichquartette Nr. 1–3 von Heinz Winbeck

Aus der Enge in die Weite. Streichquartette Nr. 1–3 von Heinz Winbeck

Die Einspielung aus diesem Jahr präsentiert drei Streichquartette des deutschen Komponisten Heinz Winbeck (1946–2019). Winbecks äußerst expressive, deutlich sich aus der klassisch-romantischen Tradition heraus erklärende Tonsprache versteht sich als Antwort auf eine Beliebigkeit, wie der Komponist sie in neuerer Musik für sich zu häufig wahrnahm. Seine Suche nach musikalischem Ausdruck war gebunden an existenzielle Fragen und immer wieder auch an seine Auseinandersetzung mit dem Tod. Nach 1996 beendete Winbeck seine kompositorische Tätigkeit. »Vielleicht sollte mehr und auch länger geschwiegen werden, verbal und auch musikalisch«, schrieb er 1995, »um erst wieder zu hören, was der wunden Zeit nottut.« Erst 2009 gab es nach langer Pause und auch auf Drängen des Dirigenten Dennis Russell Davies hin einen letzten großen musikalischen Ausstoß, eine fünfte Sinfonie. Winbecks drei Streichquartette entstanden in einer früheren Phase, zwischen 1979 und 1984, und haben einen äußerst strengen, expressiven und dramatisch aufgeladenen Tonfall. Der Einsatz des Instrumentariums ist in der Textur, dem konkreten Interplay der Instrumente und rhythmisch im Sinne einer weitergeführten klassischen Tradition zu verstehen und zeigt das Ringen um Neuformulierungen mit für »verbraucht« erklärtem musikalischem Material. Das Leopold-Mozart-Quartett interpretiert diese expressive Musik virtuos, farbenreich und fesselnd. Titel der Einspielung ist: »Aus der Enge in die Weite«. Grundstimmung dieser Musik bleibt jedoch äußerste Beklemmung, Weite scheint eher die unerreichte, ideale Qualität im Ringen nach Befreiung durch die Formulierung dieser Musik. Eine interessante Bereicherung des Repertoires. Anja Kleinmichel

Disillusion

Disillusion

Ayam

Ayam

»Ayam« bedeutet auf Malaysisch »Hahn«. Ob Disillusion das im Sinn hatten, als sie ihre neue Platte benannten, ist nicht bekannt. Jedenfalls schießen die Leipziger Progressive- Metaller den sprichwörtlichen Vogel mit der Veröffentlichung ab. Sie treiben die Richtung konsequent weiter, die sie mit ihrem Comeback »The Liberation« vor drei Jahren eingeschlagen haben, statt wie einst mit dem sehr differenten »Gloria« einen Teil der Fans vor den Kopf zu stoßen. Auch »Ayam« zeichnet sich durch zielstrebiges Mäandern in komplexen Kompositionen aus. Schon der Opener »Am Abgrund« überzeugt in seiner Vielschichtigkeit – und das kurzweilige elf Minuten lang. Die Progressive-Lawine wälzt sich unaufhaltsam nach unten, reißt dabei allerlei Death- und Thrash-Metal-Elemente mit, bevor sie epischer wird und an Geschwindigkeit verliert. Nur, um dann wieder Tempo aufzunehmen. Schon dieser erste Song sichert einen Beifallssturm. Der Rest der Platte steht aber nicht dahinter zurück. Dominiert anfangs noch der Klargesang, so reichert Sänger Andy Schmidt die Vokal-Ebene später mit finstererem Growling an. Fröhlich geht anders. Bei aller mittleren Härte und tobenden Ausbrüchen, die »Ayam« mitbringt, sticht vor allem der von Disillusion gewohnte melancholische Touch besonders heraus. Wie ließe sich diese Zeit nicht ohne ein gewisses Maß an Schwermut ertragen? Wunderbar emotional rauscht diese Musik dahin, legt sich als atmosphärischer Klangteppich wie Balsam auf die geschundene Seele. Eine dunkel-funkelnde Schönheit. Tobias Prüwer

Mellie

Mellie

I Have Ideas, Too

I Have Ideas, Too

In der dritten Staffel der David-Lynch-Serie »Twin Peaks« nimmt das »Roadhouse« (eine Bar, in der in jeder Folge andere Interpreten die Bühne betreten und den Soundtrack zur jeweiligen bizarren Szenerie beisteuern) quasi die Rolle eines handlungstragenden Nebencharakters ein. Was diese Interpreten eint, ist, dass sie mit ihrem individuellen Je ne sais quoi die omnipräsente, düstere Surrealität der Erzählung verstärken. Genau diese Atmosphäre beschwört »Snail«, der Opener auf Mellies Debüt-LP »I Have Ideas, Too«: Zu einer nervösen Stakkato-Saite gesellt sich eine schleppende Gitarrenmelodie, bevor blecherne Drums und dissonanter Gesang – wie aus fremden Sphären – das Zerrbild komplettieren und die volle Aufmerksamkeit der Hörerschaft kassieren. Mellie ordnen sich selbst dem Genre Avant/Rock-Pop zu. Vergleiche mit Sonic Youth scheinen sich also aufzudrängen – würden Mellie aber nicht gerecht. Zum einen wirkt die Produktion der neun Titel auf »I Have Ideas, Too« zwar etwas weniger professionell, aber eben auch weniger bemüht-rotzig als beispielsweise auf Sonic Youths »Goo«. Zum anderen klingt das Verhältnis zwischen Vocals und Instrumentals hier eher symbiotisch als konkurrierend. Nach etwa der Hälfte des Albums wird das konzentrierte Lauschen für alle Nicht-Genre-Fans eventuell etwas mühselig, da der Aufbau der Songs stellenweise schablonenhaft anmutet. Mellies Spielfreude und die Kreativität, die sie in diesem durchschnittlich dreieinhalb Minuten spannenden Rahmen auffahren, lassen die meisten Hörenden – besonders nach dem sechsten Track »No, No, No« – sicher dennoch mit viel Lust auf einen Live-Gig der Band zurück. Laura Gerlach

Special Interest

Special Interest

Endure

Endure

Punk atmet das dritte Album von Special Interest in jedem Moment. »Endure« strotzt vor DIY und Kampfansagen an Diskriminierung und Ungleichheit. Die Verpackung hat aber so viel mehr Soul, ist mehr The Specials (ja, nicht nur wegen der Namensähnlichkeit) als The Slits, mehr NWA als The Damned. Schon auf den ersten beiden Alben wurde deutlich, wo die Wurzeln des Quartetts liegen – im Black-Conscious-Soul aus New Orleans. Wer das nicht gleich gehört hat, dem wurde es als Nina-Simone-Sample auf dem silbernen Tablett serviert. Und auf »Endure« zeigen es die Kollaboration mit der Rapperin Mykki Blanco oder auch der Verweis auf den Menschenrechtsaktivisten Herman Wallace im Song »(Herman’s) House«. So einzigartig jede der elf Geschichten in Song-Form ist, so einzigartig und vielseitig ist auch ihre musikalische Umsetzung: Ja, da ist der 3-Akkorde-Punk. Der geht aber über in Soul-Grooves. Über die Gitarre von Marina Elena rappt Mykki Blanco oder faucht auch mal Alli Logout. Und um noch mal klar zu sagen, was sie dabei für Ansagen macht, die Single »Foul« bringt es in wenigen Gegenüberstellungen auf den Punkt: »If it’s not my back – It’s my head / If not my head – It’s my heart / Short staffed – Overworked Sleep deprived – It’s an art / God, I need a cigarette but knowing it’s against the law«. Mit dieser Haltung ist »Endure« ein revolutionäres und rundum beeindruckendes Album. Kerstin Petermann

First Aid Kit

First Aid Kit

Palomino

Palomino

Tanzen als Akt der Befreiung und Emanzipation? Na klar! Wer das abstreitet, hat wohl noch nicht zu den Specials getanzt. Oder einfach zu einem Lieblingslied. Für »Palomino«, das fünfte Album von First Aid Kit, ist diese Assoziation schon sehr hoch gehängt. Ich möchte die Latte mal etwas weiter runter hängen und sagen: Es ist ein super Pop-Album. Die Refrains sind auf den Punkt genau, die Synthies schmiegen sich ins Ohr und das Schlagzeug geht direkt in die Füße. Im Vergleich zu den vier Vorgängern legen die beiden Schwestern aus Schweden noch einen drauf: mehr Harmonie, mehr Melodie, mehr Drums, mehr Epik. Mit elf Songs scheinen sie sich tatsächlich freizuspielen. So wie Fleetwood Mac sich dereinst voller Inbrunst in die Keyboard-Harmonien legten. So wie Kate Bush mit aller Energie den Berg hinaufrannte. Eine solche Kraft entdecken auch First Aid Kit auf »Palomino«. Vorbei die Zeiten, in denen zarte Folk-Klänge und reduzierte Songstrukturen ihr Wesensmerkmal waren. Stattdessen eine Hommage an die Tanzflächen der Siebziger und Achtziger mit ihrer hymnischen Epik und den unwiderstehlichen Rhythmen. Und damit erfüllt »Palomino« eine sehr legitime Aufgabe: Es bringt diese Musik in die heutige Zeit. Es macht Spaß und reißt einen aus dem Alltag heraus. Es ist ein unwiderstehlicher Time- Warp. Aber es ist kein neues »Ghost Town« oder »Running Up That Hill«. Ob es ein Befreiungsschlag ist, wie First Aid Kit für sich selbst sagen, muss auf der Tanzfläche jeder und jede für sich entscheiden. See you there! Kerstin Petermann

Stella Sommer

Stella Sommer

Silence Wore a Silver Coat

Silence Wore a Silver Coat

Stella Sommer hat in den vergangenen zehn Jahren eine erstaunliche künstlerische Entwicklung vollzogen. Will man verstehen, was ich meine, sollte man sich zuerst das Debüt »Herz aus Gold« von Sommers Stammband Die Heiterkeit, dann ihr neues Soloalbum »Silence Wore A Silver Coat« anhören. Kaum zu glauben, dass sich hinter beiden Platten dieselbe Songschreiberin und Sängerin verbirgt! Waren Die Heiterkeit anno 2012 für ihren schrammeligen deutschsprachigen Lofi-Pop bekannt (ein Rezensent des Debüts beklagte dereinst gar verstimmte Gitarren!), präsentiert Sommer auf ihrem neuen Album feingliedrig arrangierten, englischsprachigen Dream-Pop mit deutlicher Folk-Schlagseite. Die neuen Songs kommen dabei so fragil und zerbrechlich daher, dass man meint, jeden Moment von irgendwoher ein Klirren vernehmen zu können – aber nichts! Stattdessen Songs wie »A Single Thunder in November« oder »In My Darkness», die derartige Ruhe und Wärme ausstrahlen, dass einem in einem kurzen Anflug naiver Volltrunkenheit nicht einmal mehr die Aussicht auf ausfallende Heizungen in der kommenden Winterperiode Angst zu verschaffen vermag. Einzig die Länge von 24 Songs wirkt ein wenig überambitioniert und erschlagend. Betrachtet man die beiden Platten des Albums jedoch als zwei getrennte Entitäten mit je eigenem Spannungsbogen, hat sich auch der letzte potenzielle Einwand in Luft aufgelöst. Luca Glenzer

Dry Cleaning

Dry Cleaning

Stumpwork

Stumpwork

Wenige Alben-Cover schaffen es, mit so banalen Motiven so irritierend unangenehme Gefühle hervorzurufen wie das von »Stumpwork«, der zweiten Platte der britischen Post-Punk-Band Dry Cleaning: Nasse Haare auf einem Stück Seife, argh! Die absurd beunruhigende Abbildung von gleichzeitiger Cleanness und Schmutzigkeit. Das Absurde im Banalen zu entdecken, ist ohnehin eine wesentliche Fähigkeit der Band – und die große Stärke von Sängerin und Texterin Florence Shaw: »I thought I saw a young couple clinging to a round baby, but it was a bundle of trash and food«, um mal den titelgebenden Track »Stumpwork« zu zitieren. Wie schon auf dem Debüt-Album »New Long Leg« zeichnet sich Shaws Gesangsstil auch hier vor allem durch das aus, was sie nicht tut: singen etwa. Stattdessen gibt es mit überragender Lakonie vorgetragenen Spoken-Word-Rock über den Irrwitz des Alltags, der eine erstaunliche Intimität erzeugt; als ob Shaw in einsamen Nächten neben einem sitzt, um einem ihre geheimsten Tagebucheinträge ins Ohr zu flüstern. Die post-punkige Krachigkeit der Vorgängerplatte wurde auf »Stumpwork« etwas zurückgefahren, die Soundpalette dafür um Saxofon, Synthesizer und etwas, das vielleicht ein Akkubohrer sein könnte, erweitert. Eingängige Hits sucht man vergebens, aber die texturreichen Arrangements und die eigentümliche Stream-of-Consciousness-Lyrik machen »Stumpwork« definitiv zu einem der interessantesten Gitarren-Musik-Alben des Jahres! Yannic Köhler

La Rubina

La Rubina

Rorate Coeli

Rorate Coeli

»La Rubina« nennt sich ein Leipziger Barock-Quintett (warum wird die Cembalistin auf dem Cover-Foto unterschlagen?), das endlich einmal nicht die Musik des großen JSB zum 127. Mal erforschen will, sondern sich der weniger bekannten Musik des 17. Jahrhunderts widmet. »Leipziger und venezianische Kammermusik«, schreibt der versierte Beiheftautor und gesellt freizügig den Dresdner Kapellmeister Heinrich Schütz zur Musikhistorie der Messestadt. Wirkliche Verbindungen zwischen Leipzig und Venedig gibt es trotzdem massenhaft – etwa infolge der Flucht des designierten Thomaskantors Johann Rosenmüller, der potenziellen Ruhm in Italien reizvoller fand als die Aussicht auf sächsische Kerkerhaft wegen angeblicher Pädophilie. Das Programm unter dem adventlichen Titel »Rorate Coeli« ist sicher kein dramaturgisch bis ins Detail durchdachtes Konzept – es verbindet 19 unterschiedliche Werke zu einem bunten frühbarocken Blumenstrauß. Dennoch fasziniert die Vielschichtigkeit, mit der die fünf Musiker die Werke umsetzen und dabei auch Adaptionen von Vokalmusik geschickt ins Bouquet einflechten. Hagen Kunze

Jazz. Spors. Bach

Jazz. Spors. Bach

Triosonaten

Triosonaten

Jazz und JSB – das ist seit Jahrzehnten eine kongeniale Einheit, die schon unzählige Male beim Open Air des Bachfestes gemixt wurde. Nun wagen das Stuttgarter »Michael Spors Trio« und der Grazer Orgelprofessor Ulrich Walther die Symbiose mit drei Bach-Sonaten – jeweils im Original und als jazzige Bearbeitung. Was es dem Speziallabel Organum Classics immerhin wert ist, das Programm auf eine mit 81 Minuten randvoll gefüllte CD zu pressen. Um es vorwegzunehmen: Puristen werden die Haare zu Berge stehen. Denn Walther schert sich einen feuchten Kehricht darum, was Originalklangexperten zur fein ziselierten Stimmführung der Bach’schen Triosonaten in historischer Aufführungspraxis zu sagen haben. Seine Aufnahmen spiegeln die Interpretationsgeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts – anhand eines hochbarocken und eines romantischen Instruments sowie einer lieblich schnarrenden Hammond-Orgel. Auf die Idee, damit BWV 529 zu spielen, muss man erst mal kommen. Und so ist es auch kein Wunder, dass in der sehr freien Jazz-Version von BWV 526 erst einmal »Fly me to the moon« zitiert wird. Hagen Kunze

The Weeknd

The Weeknd

Dawn FM

Dawn FM

The Weeknd schreibt seit über zehn Jahren im Prinzip immer wieder denselben Songtext, aber den kann er halt auch: »It’s 5 AM, I’m high again, and you can see that I’m in pain / I’ve fallen into emptiness, I want you ’cause we’re both insane«, heißt es in »Gasoline«, zack, da ist er, der Abgrund, schmalzig schmachtend einem verführungswilligen Gegenüber vorgetragen. Das ist kein Frank Ocean, aber lyrisch sehr effektiv, und allerspätestens seit »Blinding Lights« weiß man, dass Abel Tesfaye kein fancy Kritikerliebling sein, sondern die Halbzeitshow des Super Bowl spielen will, was er mittlerweile auch getan hat. »Dawn FM« unterstreicht diesen Anspruch. Man muss neidlos anerkennen, dass es wohl keinen zweiten Act auf diesem kommerziellen Level gibt, der auf dem Weg dorthin seine eigene Musik so gekonnt und stilbewusst weichgespült hat. Bis auf das makellose Falsett erinnert hier wenig an den experimentellen R’n’B von früher, dafür hat er mit Tracks wie »How Do I Make You Love Me« und »Take My Breath« die Formel für epische Dancefloor-Peitscher geknackt, die den Spagat hinbekommen, gleichzeitig nach Schulterpolstern unter weißen Jacketts im Trockeneisnebel und nach dem Hier und Jetzt zu klingen. Dem gegenüber stehen schamlose Ausflüge in die Niederungen des 80er-Jahre-Yuppie-Pops wie »Out Of Time« oder »Less Than Zero«, bei denen man sich nicht sicher ist, wo er damit hinwill, ob das als eine Art ironischer Metakommentar Assoziationen zu American Psycho bewusst hervorrufen soll oder ob es doch mehr darum geht, dass das im Spotify-Shuffle gut flutscht. Gefühlt ist beides wahr, in jedem Fall ist es konsequent gemacht. Das Album erlaubt sich zudem ein paar sympathische Schrulligkeiten wie einen durch fiktive Radioansagen etablierten konzeptuellen Anstrich, das als Song getarnte experimentelle Kurzhörspiel »Every Angel Is Terrifying« und diverse Spoken-Word-Auftritte von Jim Carrey, der ganz zum Schluss im A-b-a-b-Reimschema über persönliches Wachstum und (...) Kay Schier