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Rezensionen

The Rolling Stones

The Rolling Stones

Hackney Diamonds

Hackney Diamonds

Nachdem sich der Nebel des medialen Overkills, mit dem das Erscheinen der neuesten Stones-LP begleitet wurde, gelichtet hat, wird es Zeit für eine kleine Nachlese. Ja, doch, sie können es noch: Rock’n’Roll spielen. Und klar, sie haben das Fahrrad nicht neu erfunden, aber dank tatkräftiger Unterstützung durch ein prominentes All-Star-Ensemble ist ihnen noch einmal ein Werk gelungen, das mit einem Bein im vergangenen Jahrtausend und mit dem anderen in den 2020er Jahren steht. Zuallererst natürlich: Mick Jagger! Er drückt dem Album mit seiner Stimme, die unverwüstlich scheint, den entscheidenden Stempel auf. Das zeigt sich ganz deutlich in »Whole Wide World«, in dem er entgegen seiner Gewohnheit einen großartigen Text in British English singt, oder auch in »Live By The Sword«, in dem die kompletten Stones mit Elton John zu hören sind. In »Bite My Hands Off« lässt sich Paul McCartney am Bass nicht lumpen und macht ordentlich Dampf, während Charlie Watts dem Song »Mess It Up« den bekannt lässigen Stones-Swing verleiht. Höhepunkt ist zweifelsohne »Sweet Sounds Of Heaven«, in dem sich Mick Jagger ein Gesangsduell mit Lady Gaga liefert und Stevie Wonder einen erstklassigen Pianopart spielt. Und das Ganze über sieben Minuten lang. Derlei Nummern findet man im doch recht umfangreichen Stones-Katalog nicht so häufig. Einen würdigen Abschluss bildet »Rolling Stone Blues«, das doch tatsächlich nur von Mick Jagger und Keith Richards performt wird. Wirklich nur auf das Allernötigste beschränkt, spielen sie hier noch mal DEN Song von Muddy Waters, der ihrer Karriere den wichtigsten Schub gegeben hat. Einfach nur großartig! Alles in allem ist den Stones eine wunderbare und erstaunlich kompakte Platte gelungen, die das Zeug zum späten Klassiker hat. Christian Geschke

Bernadette La Hengst

Bernadette La Hengst

Visionäre Leere

Visionäre Leere

Aktuell gibt es genügend Gründe, Angst vor der Zukunft zu haben. Deshalb wäre es gerade so naheliegend wie nie, die Flinte ins Korn zu werfen und dystopische Weltuntergangsalben zu produzieren, oder aber gleich zu verstummen. Für Bernadette La Hengst kommt beides nicht in Frage. »Gib mir meine Zukunft zurück« (Mark Fisher lässt grüßen!), singt sie bereits im Opener des neuen Albums, und das mit einer Verve, wie sie nicht vielen Künstlerinnen in Deutschland gegeben ist. Es folgen fantastische Songs wie das tanzbare, von Chören gerahmte »Łužyca Du visionäre Leere«, die rührende Piano-Ballade »Sie ist wie eine Utopie« oder das aufrührerische »Allée de la Liberté«. Auffällig dabei ist, dass La Hengst im Vergleich zu ihrem bisherigen Solo-OEuvre relativ sparsam mit elektronischen Elementen hantiert. Dafür rücken mit Orgeln, Gitarren und Bläsern analoge Instrumente in den Vordergrund. Das weckt mitunter Erinnerungen an ihre einstige Stammband Die Braut haut ins Auge, mit der sie in den neunziger Jahren ihre ersten musikalischen Schritte ging und drei Alben aufnahm, die bis heute ihresgleichen suchen. Passenderweise endet »Visionäre Leere« dann auch mit dem Braut-Evergreen »Was nehm ich mit, wenn es Krieg gibt?«. Das bereits intime Original von 1995 wird hier weiter reduziert. Was bleibt, ist: ein Piano, entfernte Streicher, Bernadettes Stimme. Und natürlich ganz viel Gänsehaut. Luca Glenzer

Shirley Hurt

Shirley Hurt

Shirley Hurt

Shirley Hurt

Shirley Hurt heißt im echten Leben Sophia Ruby Katz. Fraglos würde auch ihr bürgerlicher Name bestens als Künstlername funktionieren. Leider sind zumindest Sophia und Ruby schon anderweitig in der Musikwelt vergeben. Hurt war bereits im zarten Alter von achtzehn Jahren eine rastlose Reisende. Zu dieser Zeit hatte sie schon in etwa zwanzig verschiedenen Wohnungen und Häusern gelebt, sich aber nirgends richtig zu Hause gefühlt. Inzwischen ist Toronto so etwas wie ihre Home-Base. Ihr zauberhaftes Debüt entstand gemeinsam mit dem Gitarristen Harrison Forman. Mit diesem fuhr sie sechs Monate lang im Wohnwagen durch Nordamerika. Im Anschluss nahm Kollege Joseph Shabason, der schon als Saxofonist für The War on Drugs tätig war, die Platte in seinem Studio in Toronto auf. Das Album ist ein gleichermaßen hypnotisches wie verspieltes Meisterwerk. Hurt nimmt sich das Beste aus Folk, Jazz und Americana, um ihren entschleunigten und warmen Sound zu schaffen. Sowohl ihre Stimme als auch ihre Art zu singen erinnern angenehm-auffallend an Aldous Harding, was definitiv kein Verbrechen ist, sondern durchaus als Kompliment verstanden werden darf. Kay Engelhardt

Juliette Journaux

Juliette Journaux

Wanderer without words

Wanderer without words

»Piano Stories« nennt Alpha Classics seine Reihe, in der junge, noch weitgehend unbekannte Pianistinnen und Pianisten ein interessantes, ausgefallenes Programm vorstellen können. Die 1996 geborene Französin Juliette Journaux hat diese Chance genutzt und Musik von Schubert, Liszt, Mahler und Wagner zusammengestellt, die das archetypische Thema des Wanderers verarbeitet. Den Anfang macht die Liszt-Bearbeitung des Motto-gebenden Schubert-Liedes »Der Wanderer«, das (auch ohne Text) von Einsamkeit, Fremdheit, Suchen und (Ent-)Täuschung erzählt. Durchaus überzeugend sind Journaux’ eigene Transkriptionen, so die Wagner-Arie »Mein Schlaf ist Träumen« aus der Oper »Siegfried« (in der Wotan zum Wanderer wird) und die beiden Mahler-Lieder »Ich bin der Welt abhanden gekommen« sowie am Schluss »Der Abschied« aus dem »Lied von der Erde«. Hier gelingt es ihr am besten, am Klavier zu »sprechen«. Beherzt geht die Pianistin die 3 Klavierstücke D946 von Franz Schubert an, den unerbittlich getriebenen Rhythmus als Charakteristikum des Wanderers herausstellend. »Wanderers Nachtlied« von Schubert, wiederum von Liszt bearbeitet, erscheint fast am Ende des Rezitals. Die Transformation des Wanderers, der dem Tod entgegensieht, ist offensichtlich. Wahrlich kein leichtes Programm! Durch den inhaltlichen Zusammenhalt und die kluge Anordnung der Stücke wird der Spannungsbogen aber (fast immer) gehalten. Silke Peterson

Human Prey

Human Prey

Tombs of the Blind Dead

Tombs of the Blind Dead

Click, click, tamm, tamm, rumms. Allein dem Schlagzeug auf der neuesten Veröffentlichung von Human Prey zuzuhören, ist eine Freude. Aber auch Gitarren und Gesang machen am Grab der blinden Toten keine Gefangenen, sondern graben tief und stapeln noch tiefer. Musikalisch sind die Leipziger gereifter. Auch wenn man das bei Songtiteln wie »Blood Sucking Undead Zombie Knight Templar from Hell Slaying Victims at Midnight« kaum glauben mag. Dabei geht die 2010 gegründete Combo den vor ein paar Jahren eingeschlagenen Weg zu etwas mehr Verfrickeltheit weiter. Ihrem satten Brutal-Death mit Grind-Drive sind Nuancen von Technical-Death beigemischt. Melodiöse Gitarrenausbrüche, Aus- und Neueinsetzer etwa im Opener können nicht nur Spuren von Dying Fetus enthalten, sondern erinnern in ihrem Blues-Ton sogar daran. Das soll einfach zeigen: Wir können das auch. Um dann wieder ohne Umwege zu ballern. Andere Songs sind typisch kreisende Nackenbrecher für den nächsten Circlepit. Stets treibt der hochpitchende Kreischgesang die Songs voran, aus denen man trotz aller Brutalität heraushört, wie viel Spaß die fünf Musiker beim Spielen haben. Das steckt an. Und ist der beste Soundtrack für eine Runde um den See; natürlich bei Vollmond. Oder einer Wall of Death im Soltmann zur Releaseparty. Tobias Prüwer

Die Zärtlichkeit

Die Zärtlichkeit

Heimweh Meisterwerke

Heimweh Meisterwerke

»Heimweh Meisterwerke« heißt das kürzlich vom Hamburger Label Tapete veröffentlichte Debüt des Kölner Quartetts um Sänger Andreas Fischer und Gitarrist und Songschreiber Tobias Emmerich. Und wie bei den offensichtlichen Vorbildern wie The Smiths oder The Go-Betweens janglen auch hier die Gitarren – als hätte Emmerich sein Gitarrendiplom bei Johnny Marr höchstpersönlich erworben. So bestechen die neun Songs durch komplexe, hochmelodische Gitarrenpickings, die einen – einmal gehört – pfeifend durch den Tag spazieren lassen. Und auch Fischers Hang zu elegischen Gesangsmelodien erinnert an das schmidtsche Vorbild aus Manchester – wenngleich man einschränken muss, dass Morrisseys Stimmgewalt bei aller Emphase (natürlich) nicht erreicht wird. So überzeugen die etwas nüchterner, weniger pathetisch vorgetragenen Passagen dann auch mehr als die langgezogenen Lines, die gelegentlich etwas arg bemüht erscheinen – etwa in dem ansonsten sehr schönen »Ein kurzer Weg«: »Es war ein kurzer Weg vom Abgrund in mein Herz.« Andererseits ist der Mut zur Emphase und Hingabe in einer überwiegend zwischen Coolness und Depression Pingpong spielenden Indie-Szene ausdrücklich zu goutieren. Auch deshalb ist dieses Debüt so bemerkenswert. Luca Glenzer

Lol Tolhurst x Budgie x Jacknife Lee

Lol Tolhurst x Budgie x Jacknife Lee

Los Angeles

Los Angeles

Schlagzeug- und Synthie-Fans Leipzigs, lest weiter, fokussiert euch, die Zeit ist gekommen für den nächsten Road-Trip ins Nirgendwo. Ziel eurer künftigen Reise darf nur der obsessive Konsum des Debütalbums der Supergruppe Lol Tolhurst x Budgie x Jacknife Lee sein. »Los Angeles« ist das Ergebnis der vierjährigen Arbeit der Ex-Drummer von The Cure (Lol Tolhurst) und von Siouxsie & The Banshees (Budgie) sowie des Musikproduzenten Garret »Jacknife« Lee (von Neil Diamond über Bloc Party bis Taylor Swift). Im Album sind so viele Kollaborationen mit brillanten Musikerinnen und Musikern, dass ihre Aufzählung nun obszön wirkt. Zu hören sind in den 13 Songs des 55-minütigen elektronischen Power-Projekts unter anderem die Sänger James Murphy (LCD Soundsystem), Bobby Gillespie (Primal Scream), der Gitarrist Mark Bowen (IDLES) und die Harfenistin Mary Lattimore. Die Produktion des Albums ist so tadellos, dass sich das ganze Ding einfach im Kopf einnistet. Die Songs gehen sanft ineinander über, sind vieltönig, gehen von Post-Punk zu Avantgarde-Hiphop, lassen sich einfach nicht klassifizieren und bilden komplexe Klangatmosphären in der Mischung von multiplen Schlagzeugen, verzerrten Gitarren, Vibrafonen, Synthesizern, Keyboards, Trompeten, Marimbas, Geigen, Bässen … Und die Protagonisten der ganzen Geschichte bleiben doch die guten Drums, die nun für Kohäsion und frenetische Energie sorgen. Genau das, was man braucht, um den Winter tanzend zu erschlagen. Libia Caballero Bastidas

Cloud Management

Cloud Management

V.A.

V.A.

Es knistert, vereinzelt schlieren Töne, deftiges Dröhnen löst das subtile Rauschen ab. Die aufblitzenden Synthesizer-Akzente ziehen die Geräusche an, wie magnetisiert ordnet sich die anfängliche Wirrnis allmählich, die krispelnden Klänge schmiegen sich an den Beat. Nahtlos schließt sich der Track »PST« an die geglaubte Ordnung der Klänge an. Und mit der Kraft des Dub marmorieren die triefenden Klänge und strömen die Melodien in den Song. Gesprochene Worte überlagern sich im Hall und treiben durch die suggerierte Weite der Musik von Cloud Management. Der Song »Halbtransparentes« schwirrt als vereinnahmendes, hypnotisches Repetitiv. Die neueste Veröffentlichung des Hamburger Trios Thomas Korf, Sebastian Kokus (Love-Songs) und Ulf Schütte (u. a. Phantom Horse) deutet es mit dem Titel »V.A.« bereits an: Es ist mehr als ein Album, denn gleichwohl sind die neun Songs auch eine Kompilation mit den Künstlern Emma Mbeki Nzioka, Coco Em, No UFOs und Seekers International. Jene unterstützen Cloud Management dabei, die Sounds in triefende Bässe zu tauchen, mit synergetischen Tönen zu färben oder einfach zu bewegen. Wie auch für das Debüt von 2022 übernahm der Leipziger Fritz Brückner (Modus Pitch) das Mastering. Mit vereinter Kraft pumpen sie alle diesen Sound in die Welt. Das Trio verschmilzt auch mit der aktuellen Platte Trip-Hop und Krautrock, um die Genres zu ganz eigenen Klangflüssen zu synthetisieren. Claudia Helmert

Hotel Rimini

Hotel Rimini

Allein unter Möbeln

Allein unter Möbeln

Eine Zeile funnyvandannenesken Ausmaßes hat Julius Forster da im Song »Schwedische Gardinen« geschaffen, will sagen: eine aus dem Alltag nicht mehr wegzukriegende. Praktisch überall, wo man ist, und egal, wohin man sieht: »Kompromisse, Kompromisse, Kompromisse«. Und überhaupt, was für ein erstaunliches Debütalbum die Leipziger Band Hotel Rimini da eingespielt hat! Geige, Cello und Kontrabass streichen durch diesen so zeit- wie kompromisslosen Kammer-Pop, der dennoch den Zeitgeist nicht aus den Augen verliert. Da reden junge Menschen über Serien und aneinander vorbei, da hängen die Peugeot-Räder nicht nur an der Wand, sondern werden bei zwei Tassen Espresso gleich noch durch den Kakao gezogen, dass es eine Freude ist. Gut, es könnte manchmal ein bisschen weniger getragen zugehen, aber der Wille zur Kunst ist ja nun nicht das Schlechteste (in Instrumentalstücken, aber auch textlich, wie »Gespenster«). Zumal es der Platte nicht an Groove mangelt. Und »Arbeit und Struktur« ist eins der besten Gute-Laune-Lieder der letzten, sagen wir mal, sechshundert Jahre: Selbst wenn es einem an Arbeit und Struktur wahrlich nicht mangelt im Leben (ich frage für einen Freund), kann man sich nicht wehren, im Refrain inbrünstig »Gib mir Aaarbeit! Gib mir Arbeit und Struktur!« mitzusingen. Vom Video ganz zu schweigen, das vom Ringcafé-Springbrunnen bis zum Luru-Kino zig hübsche kleine Leipziger Orte versammelt, durch die man von nun an mit dem Gedanken, durch ein Musikvideo zu stolpern, geht. Wenn das mal alles nicht mindestens ins Vorprogramm von Element of Crime führt. Benjamin Heine

Margo Cilker

Margo Cilker

Valley Of Heart’s Delight

Valley Of Heart’s Delight

Wer ein großes Herz für Musik hat, kennt womöglich dieses Phänomen: Der Moment des ersten Hörens von etwas Besonderem brennt sich in Form von Ort und Zeit ins persönliche Gedächtnis ein. Als der Autor dieses Textes eine ebensolche musikalische Begegnung mit Margo Cilker hatte, saß er halbwegs unspektakulär um die Mittagszeit bei trüb-kaltem Wetter in der Leipziger Innenstadt herum und bekam sehr schnell sehr gute Laune. Cilkers Stimme ist so kraftvoll und wehmütig zugleich, dass sie umgehend Spuren hinterlässt. Der Name ihres 2021er Debüts »Pohorylle« ist zwar schwer auszusprechen. Dafür ist das Album ein wahres Fest für alle, die rootsigen Country schätzen. Und auch für den Nachfolger »Valley Of Heart’s Delight« hat Cilker die Crème de la Crème des Neo-Country um sich geschart. Mit von der Partie sind Studiomusikerinnen und -musiker von Beirut, Band of Horses und den Decemberists. Inhaltlich geht es, wie es sich für dieses Genre gehört, um die Themen Entwurzelung, Heimweh und Familie mit all ihren Vorzügen und Nachteilen. Cilker kann alles von sehnsüchtiger Ballade (»With The Middle«) bis hin zu lässigem New-Orleans-Sound (»Keep It On A Burner«). Zusammen mit Charley Crockett ist sie fraglos die Neuentdeckung der zeitgenössischen Country-Musik. Kay Engelhardt

The War On Drugs

The War On Drugs

I Don’t Live Here Anymore

I Don’t Live Here Anymore

Adam Granduciel, der Mastermind hinter The War On Drugs, liebte es schon immer breitwandig und opulent. Auf seinem Debüt 2008 klang das noch sehr verspielt, psychedelisch und schwer nach The Velvet Underground. Im Lauf der Jahre wurde sein Werk immer zugänglicher, was auch ein größeres Publikum anzog. Seinen Bob-Dylan-inspirierten Gesang hat der Künstler aus Philadelphia stetig perfektioniert, was ihn zu einem grandiosen Erzähler macht. Auch Bruce Springsteen und Tom Petty sind seit jeher wichtige Fixsterne am The-War-On-Drugs-Himmel. Auf dem neuen Album klingt es, als hätte Granduciel beide direkt ins Studio einfliegen lassen. An jeder Ecke dieses Albums lauert die Classic-Rock-Keule. Die jazzigen Elemente der letzten Werke wurden rausgeschmissen und durch offensichtliches Rocken ersetzt. »I Don’t Live Here Anymore« ist das Album der ganz großen Gesten. Dieser Eindruck wird noch durch die äußerst glatte Produktion verstärkt. Mit seinem fünften Album flirtet Granduciel extrem mit dem Mainstream, was den Songs einen beträchtlichen Teil der ursprünglichen Magie raubt. Classic-Rock-Fans werden frohlocken. Anhängerinnen der ersten Stunde wird dieses Album allerdings verschrecken, auch wenn sich zweifellos eine Handvoll toller Songs darauf findet. Kay Engelhardt

Brannten Schnüre

Brannten Schnüre

Erinnerungen an Gesichter

Erinnerungen an Gesichter

Manche Überraschungen erleben wir doch nur zu gern, aktuell durch Brannten Schnüre, die musikalische Zusammenarbeit von Christian Schoppik und Katie Rich. Die Gruppe veröffentlicht einen Großteil ihrer Diskografie erneut. Die zwischen 2015 und 2021 auf verschiedenen Labels erschienenen Alben verharren bis dahin noch in ihren Nischen, wo sie nicht so schnell gefunden werden wollen. Deren hartnäckige Vergriffenheit soll nun kuriert werden. »Erinnerungen an Gesichter«, als Selbstveröffentlichung über Quirlschlängle, das hauseigene Leipziger Label von Brannten Schnüre, spielt bei diesem erneuten Versuch, sich zu erinnern, wohl die wichtigste Rolle. Ihr Handwerk: Unschuldige Verse lugen hier mal hervor hinter Oberflächen aus Ambient und sitzen da mal einem Fundament aus Neo- und Dark-Folk auf, wobei die Grenze zwischen synthetischen und akustischen Klängen nicht mehr gebraucht wird. Brannten Schnüre vollziehen eine eigene Schwerfälligkeit, dieses Behäbige ist nichts für die Eiligen. Mögliches Pathos der Texte wird durch Stimme und Attitüde der Lesenden verwischt: Gebetsartig führen sie durch ohnehin Chorales, Sakrales der Instrumentale. Sich überschlagend erzählen sie innerhalb der mitunter feierlich-getragenen Tonkunst. Im Kontrast zum Hintergrund versucht das Gesprochene nicht noch obendrein zu beeindrucken. Immer wieder stellt sich die Frage, wer hier eigentlich wen begleitet. Geborgenheiten, naive Hoffnungen und Kindlichkeiten gehen Hand in Hand mit wilder Schwermut. Der im Neofolk fast schon obligatorische Hang zu kontroverser Symbolik wird gekonnt ignoriert. Einziger Malus: Live wird man die zwei wohl so schnell nicht mehr erleben dürfen. Sie sollten ohnehin als warmes Andenken nur zu gut taugen. Elias Schulz

Bedouine

Bedouine

Waysides

Waysides

Azniv Korkejian aka Bedouine hat die Lockdown-Monate sinnvoll verbracht. Die Isolationszeit nutzte die Künstlerin, um liegen gebliebene Songs der letzten Jahre auszusortieren und die besten Stücke fertigzustellen. Laut eigener Aussage fühlte sich die Arbeit an wie »ein Frühjahrsputz«. Korkejian fügt hinzu: »Ich wollte die unvollendeten Songs nicht einfach wegwerfen, aber auch nicht immer wieder zu ihnen zurückkehren.« Die Flucht nach vorn bestand also im Aufnehmen und Herausbringen der Filetstücke. Und das erstmals ohne die Hilfe eines Labels, also komplett in Eigenregie. »Waysides« entstand in Bedouines neuem Proberaum in Los Angeles und beinhaltet neun eigene Kompositionen und ein grandioses Fleetwood-Mac-Cover namens »Songbird«. Stilistisch gibt es zum Glück keine großen Veränderungen im Vergleich zum letzten regulären Album. Bedouine frönt immer noch dem Folk der Sixties mit modernen Mitteln. Im Zentrum steht wieder ihre wunderbar-sehnsüchtige Stimme. Diese wird delikat in Szene gesetzt durch die gemeinsame Produktion mit ihrem langjährigen Mitstreiter Gus Seyffert. Rückzug, Kontemplation und Neuanfänge sind wichtige Themen auf »Waysides«. Somit ist dieses Album eine höchst willkommene Wärmflasche für die kalte Zeit des Jahres. Kay Engelhardt

Kool & The Gang

Kool & The Gang

Perfect Union

Perfect Union

Disclaimer: Der Autor hatte 1992 für ein Leipziger Regionalradio vor dem ausverkauften Kool-Konzert im »Easy Auensee« (wie es damals hieß) aufgelegt; er war jung und suchte den Ruhm im Windschatten der Gang, die Jahre später in der dann spärlich besetzten Bühne im Clara-Zetkin-Park noch mal die gleichen Klassiker abspulte. Viele Jahre später: gleich zwei Todesfälle. Ein Jahr nach Ronald Bell starb Dennis Thomas diesen Sommer – das Gründungsmitglied sollte den Release der zehn neuen Songs nicht mehr miterleben. Und die sind auf beachtlichem Level: kein müdes, langweilendes Alterswerk, keine Früher-war-alles-besser-Attitüde, sondern Groove pur: »… it’s a celebration«. Klar, Discofunk ist in die Jahre gekommen, retro ist das von Abba bis Zappa (also von Track eins bis zehn) – aber immerhin bei sich selbst abgeschaut und nicht geklaut wie so vieles andere eingangs der dreißiger Jahre. Achtmal synkopierter Funk für den postpandemischen Samstags-Dancefloor (z. B. »Weekend«, »Good time«), eingefasst von umweltfreundlicher Gospelbotschaft im Opener, der Single »Pursuit of happiness«, die als Rapversion mit Keith Murray das Uptempo-Album schon nach einer guten halben Stunde klammert. Kool und seine Rumpfmannschaft können noch Good-Time-Party-Music der Marke »Ladies night« – auch wenn die ignoranten MP3-Anklicker auf den Ü-30/Ü-40-Partys wohl weiter nur die größten Hits der Achtziger abnudeln werden. Torsten Fuchs

Nigel Kennedy

Nigel Kennedy

Uncensored

Uncensored

Es ist ruhig geworden um Nigel Kennedy, den Punk unter den klassischen Geigern. Jahrelang hat der Brite als »Enfant terrible« die Szene geprägt und mit rasanten Aufnahmen mehr als nur Staub gewischt in den Regalen der vermeintlich »ernsten Musik«. Nun hat der einst gefeierte Geigenvirtuose seine Lieblingsaufnahmen, die er in seiner über mehrere Dekaden reichenden Diskografie eingespielt hat, auf drei CDs zusammengestellt. Die in diesem Monat erscheinende Sammlung ist so bunt und vielseitig wie das Konzertleben von Nigel Kennedy. Aufnahmen mit großen Orchestern wie den Berliner Philharmonikern über Jazz-Formationen bis hin zum Duo mit Kontrabass finden sich darin. Nicht fehlen darf natürlich auch ein Ausschnitt der berühmten Einspielung von Antonio Vivaldis »Vier Jahreszeiten« – in gewohnter Crossover-Manier neben Jazzimprovisationen gestellt. Auch wenn die Absicht der Kompilation offensichtlich ist (sie soll die aktuelle Tour des einstigen Geigen-Punks bewerben), so ist die Box »Uncensored« doch auch eine gute Gelegenheit, die eine oder andere Lücke im CD-Regal zu schließen. Hagen Kunze

Guiseppe Verdi

Guiseppe Verdi

Messa da Requiem

Messa da Requiem

Klassikfans kennen das Phänomen: Da erlebt man ein außergewöhnliches Konzert, freut sich über die Tatsache, dass ein Mitschnitt auf CD gebrannt wurde – und wenn man den Silberling in den Player schiebt, erinnert nichts mehr an die Sternstunde. David Timm hingegen ist mit diesem Verdi- Requiem wohl das Gegenteil geglückt. Live war diese 2018er Aufführung in der Thomaskirche gehobener Durchschnitt, nicht alles passte … Auf der Konserve ist die Aufnahme jedoch eine Überraschung. Sicher: Im Solistenquartett ist immer noch nicht alles Gold, was glänzt. Doch der Rest beeindruckt: Das fängt schon beim präzisen Klangbild an und setzt sich bei der Auswahl an Instrumenten der Entstehungszeit (im Beiheft informativ erläutert!) fort. Kongenial passend zum dezenteren Klang präsentieren sich die silbrig-jungen, aber dennoch kraftvollen Stimmen des Universitätschores. Gerade im Pianissimo ist das ein ums andere Mal atemberaubend – und David Timm tut gut daran, sein gesamtes Konzept diesem Klang anzupassen. So fügt sich Verdis Requiem hier mit flotten 78 Minuten Länge endlich auch mal auf eine einzige CD. Hagen Kunze

Charley Crockett

Charley Crockett

Music City USA

Music City USA

Charley Crockett ist ein Phänomen. Lange Zeit lebte der gebürtige Texaner von der Hand in den Mund und am Rande der Legalität. Unter anderem verdingte er sich als Gras-Dealer, was ihm zwei Verurteilungen einbrachte. Die Liebe zur Musik und sein offensichtliches Talent bildeten den idealen Ausweg aus einem halbwegs sumpfigen Leben. Medial pflegt Crockett das Image des leicht mysteriösen Cowboys und nimmermüden Herumtreibers. Wir glauben ihm bereitwillig einen großen Teil davon. Seine unglaubliche Stimme trifft jedenfalls umgehend ins Herz. Gesanglich bewegt er sich galant zwischen Sam Cooke und Johnny Cash. Erfreulicherweise kann er es mit beiden aufnehmen. Crockett baut ohne Anstrengung geniale Brücken zwischen Country, Soul und Blues. Sein zehntes Album »Music City USA« setzt nahtlos am letztjährigen Meisterwerk »Welcome To Hard Times« an. Diesmal mit starkem Fokus auf dem Country der frühen Siebziger. Das Album vereint großartige Balladen und echte Honky-Tonk-Stomper und verspricht zahlreiche erfüllte Kaminstunden. Zur Einstimmung hat der Maestro offenbar ausgiebig Merle Haggard und Tom T. Hall gehört, was wir ihm definitiv nicht verübeln. Kay Engelhardt

Trümmer

Trümmer

Früher war gestern

Früher war gestern

Trümmer wollten mal eine neue Jugendbewegung starten. Damals, vor sieben Jahren, als sie ihr selbstbetiteltes Debüt herausbrachten. Nun sind sie gar nicht mehr so ganz jung, sondern stehen sozusagen im Leben, in dem sie wahlweise Theatermusik machen, ein Label betreiben oder als Arzt arbeiten. Und vor allem sind in den letzten Jahren einige bemerkenswerte Bewegungen entstanden, die die Verhältnisse anprangern: Von MeToo über Black Lives Matter bis zu den Fridays for Future. Was machen Trümmer also nun? Musik, ist klar. Denn es ist ja nichts gut oder so. »Ich schau mich um und seh eine Welt / In der nichts stimmt und mir nichts gefällt / Und ich denk: Es ist alles zu spät«, singt Paul Pötsch ganz zu Anfang des Albums »Früher war gestern«: Er wäre gerne Optimist. Denn der Grundgedanke der Hamburger Band, der schon im Namen durchschimmert, bleibt: Wenn alles erst mal kaputt ist, kann man nicht nur auf den Gräbern tanzen, sondern auch was Neues beginnen. Und so ist es ein recht fröhliches Album geworden – so fröhlich man halt klingen kann, wenn die großen Vorbilder The Strokes sind. Über den Indierock-Gitarren Pötschs Stimme, die sich einfach so nett anhört, dass die Wut am Ende doch keine Chance hat. Dafür die Liebe – denn um die gehts natürlich, wie es sich bei einem Rock-Album gehört, auch. Juliane Streich

Heidelberger Sinfoniker

Heidelberger Sinfoniker

Haydn: Sinfonien

Haydn: Sinfonien

Es war ein ambitioniertes Projekt, das die Heidelberger Sinfoniker unter Thomas Fey noch vor der Jahrtausendwende begannen. Alle Sinfonien von Joseph Haydn wollte die Truppe einspielen. Zwar gab es schon andere Dirigenten, die diese Mammut-Aufgabe – immerhin hat der Wiener mehr als hundert Sinfonien komponiert – in Angriff genommen hatten. Aber nach wenigen CDs war klar, dass hier Erstaunliches passiert: Selten klang Haydn so frisch, den sprichwörtlichen Zopf hatten ihm die Musiker von vornherein abgeschnitten. Umso tragischer, dass sich Fey nach einem Unfall aus dem Musikleben zurückzog und das Projekt lange unvollendet blieb. Bis im vergangenen Jahr das aus freien Musikern zusammengesetzte Orchester mit Johannes Klumpp einen neuen Chef fand, der die Gesamtaufnahme nun fortführt. Der Anfang macht schon einmal neugierig. Sicher: Ganz so fulminant wie früher donnert Haydn nun nicht mehr über die Bühne und auch die Streicher klingen weniger ruppig-rau. Dennoch scheint hier ein kongenialer Nachfolger gefunden zu sein, der das langjährige Projekt mit großer Ausdauer zu Ende führt. Hagen Kunze

Igor Levit

Igor Levit

On DSCH

On DSCH

Es war heiß im Juli 1950, als in Leipzig wieder einmal Musikgeschichte geschrieben wurde: In der kühlen Thomaskirche spielte Dmitri Schostakowitsch ein Konzert direkt vor Bachs Grab. Zuvor hatte seine Landsfrau Tatjana Nikolajewa den Bachwettbewerb gewonnen, ihre Interpretation des »Wohltemperierten Klaviers« ließ den Komponisten nicht mehr los: Kaum nach Russland zurückgekehrt, komponierte Schostakowitsch als Verbeugung vor Bach nun selbst »24 Präludien und Fugen« nach dem gleichen Masterplan. So etwas kann man nur am Stück aufnehmen. Und nachdem er 2020 mit Beethovens kompletten Klaviersonaten auf sich aufmerksam machte, ist Igor Levit der Pianist per excellence für solch ein Vorhaben. Mit der CD-Box »On DSCH« aber liefert er nicht nur Schostakowitschs Bach-Reverenz, sondern gleichsam als Spiegel auch die 1960 entstandene »Passacaglia on DSCH« des Schotten Ronald Stevenson. Faszinierend, wie der Pianist damit einen gewaltigen Bogen zwischen zwei Künstlern des Kalten Krieges spannt, die musikalisch ein ähnliches Idiom sprechen. Ohne Frage eine Nominierung für die »CD des Jahres«! Hagen Kunze