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Rezensionen

Jenny Lewis

Jenny Lewis

Joy’All

Joy’All

Jenny Lewis hat ihre bisherige Lebenszeit ausnehmend gut genutzt. Als Kind und Teenager arbeitete sie als Schauspielerin und hatte Gastauftritte in Serien wie »Baywatch« und »Roseanne«. In ihren frühen Zwanzigern war sie Mitbegründerin der Band Rilo Kiley, in der sie unter anderem sang. 2006 folgte sie der Einladung von Conor Oberst und nahm ihr erstes Solo-Album auf. »Joy’All« ist nun bereits ihre Soloplatte Nummer fünf. Der Großteil der Songs entstand während eines einwöchigen virtuellen Songwriting-Workshops, den kein Geringerer als Beck während des Corona-Lockdowns leitete. Die Challenge war es, jeden Tag einen Song nach den Vorgaben von Beck zu schreiben. Eine lautete etwa: »Schreibe einen Song, der nur aus Klischees besteht.« Entstanden ist dabei ein Album, das vor Retro-Charme nur so überquillt. Lewis hat nicht nur jede Menge Motown und Siebziger-Jahre-Country-Pop inhaliert, sondern besitzt auch ein feines Gespür für relaxte Melancholie. Selten haben bisweilen ziemlich düstere Songs so viel Spaß gemacht. Kay Engelhardt

King Krule

King Krule

Space Heavy

Space Heavy

Es war im Jahr 2013, da betrat über Nacht ein schüchterner Rotschopf die große Musikbühne, der in etwa so aussah wie Ron Weasley in seinem ersten Jahr in Hogwarts und zugleich so klang wie Tom Waits im Spätherbst seiner langen Karriere. Ja, schon irgendwie paradox, aber genau so war es! Vier Alben hat King Krule aka Archy Marshall – um den geht es hier nämlich! – bis »Man Alive« aus dem Jahr 2020 veröffentlicht. Nun – ziemlich genau 10 Jahre nach seinem Debüt – steht mit »Space Heavy« Album Nummer fünf in den Startlöchern. Und noch immer gleicht seine Musik einem düster funkelnden, wahlweise von Nina Simone oder Edwyn Collins höchstpersönlich geschliffenen Diamanten und klingt dabei zugleich so weise, als hätte er schon zehnmal zu Fuß die Welt durchquert und dabei fünf philosophische Habilitationen verfasst. Wie man es auch nennen mag – Dark-Jazz, Depressed-Wave, Death-Pop –, seine Musik vereint Abgründig- und Lässigkeit auf eine Weise, die einen regelmäßig staunen lässt. Unterstützt wird er dabei von einer Band, die wahrscheinlich weiß, wie gut sie ist, es aber nicht als nötig erachtet, das in jeder Albumsequenz zwanghaft unter Beweis stellen zu müssen. Wahrscheinlich ist es das, was eine Band so gut macht. Bringt der Bandleader dann noch in regelmäßigen Abständen so astreine Songs wie »Flimsier«, »Seaforth« oder den Titeltrack mit in den gemeinsamen Proberaum, verwundert es auch nicht, dass »Space Heavy« wie bereits seine Vorgänger über Wochen mit einer erstaunlichen Hartnäckigkeit nicht mehr vom rotierenden Plattenteller verschwinden möchte. Libia Caballero

PJ Harvey

PJ Harvey

I Inside The Old Year Dying

I Inside The Old Year Dying

Im Laufe der vergangenen 30 Jahre hat PJ Harvey es wie kaum eine andere zeitgenössische Künstlerin vermocht, ein eigenes musikalisches Universum zu kreieren. Angefangen von Alternative-Rock-Alben wie »To Bring You My Love« und »Stories From The City, Stories From The Sea« bis hin zu den opulent und detailreich arrangierten Art-Pop-Alben »Let England Shake« und »The Hope Six Demolition Project« hat sie sich ein breites Spektrum an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten angeeignet. Zuletzt wurde Harvey immer politischer, drehte für ihr letztes Album gar die Dokumentation »A Dog Called Money«, bei der sie sich auf einer Reise durch Afghanistan und den Kosovo begleiten ließ und die dortige Armut und gesellschaftlichen Umstände geißelte. Nach einer länger anhaltenden künstlerischen Schaffenskrise ist ihr neues Album »I Inside The Old Year Dying« nun wieder intimer geraten, knüpft musikalisch aber weitgehend dort an, wo sie zuletzt aufgehört hatte: So hätten Tracks wie »Autumn Term«, »Lonesome Tonight« oder der Titeltrack auch auf einem der beiden vorangegangenen Alben enthalten sein können. Kunstvoll verwebt Harvey dabei folkige Melodien mit jazziger Rhythmik, europäische mit orientalischer Harmonik und trägt damit implizit zu einer Entgrenzung von Begriffen und üblichen Termini bei: Art-Rock? Chamber-Pop? Post-Jazz? Harvey ist all das natürlich egal, und solange sie weiter solch hochklassige Alben produziert, hat man zugegebenermaßen selbst als Musikjournalist keinen Anlass, diesen Umstand zu kritisieren. Luca Glenzer

Dolphins

Dolphins

TBH

TBH

Wie die aufblitzenden Lichtreflexionen der Sonne auf einer weiten Wasseroberfläche funkeln, wärmen die Gitarrenmelodien von Dolphins. Groovy Drums tauchen ihr Klangbild in Lässigkeit. Gedämpft, gedoppelt und mit stets unbeschwerten Retrovibes umschmeichelt der Gesang den ersten Track: »Never Ever Run«. Die Synthies schlagen Wellen und berauschen im Takt des Songs »$oft Core«. Taktvoll prickeln die eingängig gehauchten Silben. Mit der anklingenden »Champagne Overdose« fispeln die Gesänge angenehm, die Bässe massieren und nonchalant sprudeln die Klänge vor sich hin. Der folgende Song »Don’t Blame It On Me (Or Thierry Henry)« ist ein Strudel der Melodien, der in Tiefen aus derben Gitarrentönen mitreißt. Mit »Future Dreams« und »Doin It« düsen die Klänge in einen warmfarbenen Horizont fort, sicher wird dort getanzt. »TBH« taufen Dolphins ihre aktuelle EP, die sich wie Urlaub anhört. Das Leipziger Duo ist eine dieser Bands, die ihre Geschichte mit den Worten »von der WG-Küche in die Welt« erzählen wollen. Bis dahin wirken sie als Kondensat des lokalen Musikuntergrunds, sind Teil des Sextetts Flying Moon in Space, Planets Are On it/Double Job, der Live-Besetzung von Warm Graves und der Geheimtipp, der immer gut ankommt. Mit sieben Songs schichten Dolphins nun hitzige, charmant-verstrickte Klangtexturen durchdacht über- und nebeneinander. Keine Nuance der 26 Minuten dauernden Musik ist austauschbar – »TBH« ist, um ehrlich zu sein, eine wirklich coole Platte. Claudia Helmert

Nadja Zwiener/Johannes Lang

Nadja Zwiener/Johannes Lang

1723

1723

Die Jahreszahl als Motto der CD verheißt eine klangliche Zeitreise. In das Jahr 1723 fällt Bachs Amtsantritt als Thomaskantor. Aber auch beide Instrumente, die hier erklingen, wurden in diesem Jahr gebaut. Unter den Händen der renommierten Barockviolinistin Nadja Zwiener erstrahlt die obertonreiche italienische Violine von David Tecchler und Bach selbst weihte noch im Herbst 1723 die Orgel in der Kreuzkirche in Störmthal bei Leipzig ein, die hier von Thomasorganist Johannes Lang gespielt wird. Die Kombination mit Orgel bringt hier eine andere, eine besondere, warme Farbsättigung in ein Repertoire, bei dem die Wahl des Tasteninstrumentes heute zumeist auf das Cembalo fällt. Der Heimat der Instrumente nachgehend, erklingen neben Bach und Pisendel aus Mitteldeutschland die Italiener Corelli und Bertali, Barockkomponisten aus Bachs Vorgänger-Generation. Die hier eingespielten Bach-Sonaten BWV 1021 und 1023 sind im Gegensatz zu den weitaus bekannteren Sonaten für Violine und Cembalo BWV 1014–1019 lediglich mit beziffertem Generalbass unterlegt. Auch Bibers Violinsonaten von 1681 stehen zu Unrecht im Schatten seiner ungleich bekannteren Rosenkranzsonaten. Mit ihrem facettenreichen Spiel lässt Nadja Zwiener die Überraschungen und unverhofften Wendungen dieser im sogenannten Stylus Phantasticus komponierten Musik ebenso lebendig werden, wie sie die Abwechslung kontemplativer Situationen und virtuoser Erregung auskostet. In strahlender Größe und sattem Volumen präsentiert sich die ansonsten kammermusikalisch agierende Orgel im festlichen Präludium und der Fuge aus der Triosonate BWV 545/529. Hier ist im Mittelsatz, dem Largo in einem Arrangement von Johannes Lang für Violine und Orgel, ein interpretatorisch außergewöhnlicher Moment erreicht. Unter Einsatz des Tremulanten entsteht ein Vibrato in der Orgel, das von der Violine aufgegriffen wird. Eine klangliche Entscheidung der Interpreten, die unerwartet fragil und emotional wirkt und noch einen Schritt hervortritt (...) Anja Kleinmichel

Wollenberg/Müller/Hanke

Wollenberg/Müller/Hanke

Versunken

Versunken

Leipzigs Urgestein Jens-Paul Wollenberg (auf dem kreuzer-Cover 11/2022) deklamiert hier rauschhaft seine lebensphilosophischen Dichtungen von Einsamkeit, Liebe, Ungewissheit und Sehnsucht über trocken verstimmten Barpianoklängen von Josef Müller. Ab und an pfeift farbenreich Thomas Hankes Mundharmonika vorbei. Es ist förmlich zu spüren, wie wohl sich Wollenberg in seinem ureigenen melodramatischen Stil mit hohem Amplitudenausschlag fühlt. Zwischen Intimität und Enthemmtheit der Lieder wähnt sich der Hörer zu Gast im Wohnzimmer der Musiker, gebannt von der Atmosphäre ihres unmittelbaren Stils. Und es scheinen in diesem Raum auch andere Leute zu sein, die am Ende der CD plötzlich anfangen mitzusingen. Die Mischung aus befreiten Gedanken, Klängen und Wortwitzen präsentiert sich in teils fantastischen Songformaten. Das ganze Projekt atmet Freiheit, ist räudig und fein zugleich. Anja Kleinmichel

Anamorphosis

Anamorphosis

Anamorphosis

Anamorphosis

Streamingdienste verändern nicht nur die Art, wie wir Musik hören, sondern auch die Musik selbst. Im ständigen Kampf um Streams werden Lieder gekürzt und Refrains an den Start vorgezogen. Nicht so bei Anamorphosis: Mit seinem gleichnamigen Debütalbum liefert das Instrumental-Sextett um den Saxofonisten und Klarinettisten Johannes Moritz die erfrischende Antithese. Langsam und melancholisch beginnt »Birds Eye View«, das erste Stück auf dem Album. Das Cello klagt und schafft weite Landschaften fiktiver Länder, bevor das Vibrafon rhythmisch zu fragen beginnt. Mit dem Einsetzen des Ensemble-Rests blendet das Stück auf: Es folgen explorative und rhythmische Geschichten, die nicht linear angesiedelt sind. Das Ergebnis ist ein Wechselbad der Emotion, das einen in einem Moment noch grooven, im nächsten schon die Welt erkunden lässt. Dem Konzept bleibt das Ensemble über das Album hinweg treu, die Musik ist häufig nachdenklich und mystisch, mal schneller und doch nie übereilt. Nicht jedes Stück funktioniert gleich gut, doch lässt die nicht einfach zu spielende Musik am Können der Musiker und Musikerinnen keinen Zweifel. In dem Album würden außermusikalische Themen, vor allem Perspektivwechsel, eine starke Rolle spielen, meint Johannes Moritz. Ob man diese Themen raushört, das obliegt dem Publikum. Einen Versuch oder Konzertbesuch wäre es wert. Jonas Strehl

Alehlokapi

Alehlokapi

Cheerful Pessimist

Cheerful Pessimist

Synthesizertöne blitzen durch die Stille und werfen ein warmes Licht auf die Stimme von Alehlokapi. »Bodyless« raunt der Gesang und erscheint dabei noch fragil aus der suggerierten Ferne. Der einsetzende Beat zoomt hinein in den nunmehr pulsierenden Track. Nun rotieren die Synthies wie Scheinwerfer und stärken den Sound zur Tanzbarkeit. Die Klangräume verdichten sich zu einem schönen Club, auf dessen Bühne der facettenreiche, durchdringende Gesang Alehlokapis strahlt. Diesig wölben sich dazu tragende Basslinien mit dem anklingenden Song »Let me« und dem frickeligen Pulsieren von »This Ain’t Real«. Die besungene, ambivalente Stärke einer toxischen Beziehung nuanciert die Sängerin mit »Cherry Me Up« treffend. Der sich anschließende Titeltrack trifft die Töne der Gegenwart. Griffig und schön umhüllt der Track die Verlorenheit mit Coolness, bleibt tanzbar und kraftvoll. In repetitiven Lyrics und sorgenvoller Langsamkeit räkelt sich der letzte Song »Why Would I« und wiegt die Hörerschaft in verhallende, rührende Höhen. Mit ihrer zweiten EP formt die Sängerin, Songwriterin und Produzentin aus Leipzig Großstadtpop: Schnelllebig – auch angesichts der Länge der Tracks –, aber nicht weniger bemerkenswert vereinen die sechs Songs eine Genre-Vielfalt, die mit jazzigen Rhythmen und Soul-Momenten verzückt. Alehlokapi öffnet musikalische Räume zum Grübeln und Tanzen, gerne auch simultan. Claudia Helmert

Chalk

Chalk

Conditions

Conditions

Wer oder was ist denn bitte Chalk? Wer sich traut, das Wort Kalkstein auszusprechen, liegt gar nicht so verkehrt. Denn bekannt ist das Sedimentgestein als Rohstoff für die Bauindustrie und genau so klingt die Debüt-EP der Elektro-Post-Punk-Band aus Belfast, die Anfang Mai erschien. Wer also auf Industrial-Noise steht, der oder die schreit nach Chalk! Wer die getaktete Symbiose von schweren Beats und Gitarreneffekten umarmt, der oder die ist bei Chalk zu Haus! Wer zu den NIN, Model/Actriz oder Enola Gay nickt, der oder die wird bei Chalk eine neue Referenz finden! Denn die Band baut in »Conditions« eine morbide, von Spannung aufgeladene Klangatmosphäre auf, über der die zittrige Stimme von Ross Cullen obskure, symbolbehaftete Texte über Ängste, Gedächtnisverlust und die verlorene Vergangenheit spricht. Für die minimalistische und doch raue Klangwirkung der EP sind Ross Cullen (Vocals, Gitarre, Bass, Synth), Luke Niblock (Gitarre) und Benedict Goddard (Schlagzeug) zuständig. Kennengelernt haben sich die Musiker in der Filmakademie und schrieben gemeinsam während des Lockdowns die fünf Songs von »Conditions«. Endlich ernten wir die guten Früchte der Pandemie. Und sie sind explosiv. Libia Caballero

MC Yallah

MC Yallah

Yallah Beibe

Yallah Beibe

Seit zehn Jahren kickt Nyege Nyege, ein Musik-Kollektiv mit Festival und Label in Kempala/Uganda, den elektronischen Sound Ostafrikas in die Wahrnehmung, mit ansteigendem Erfolg und zunehmender internationaler Vernetzung. Von der profitiert auch Yallah Mbidde Gaudencia, die als MC Yallah ihr zweites Album mit nachdrücklich artikulierter Worthärte auf dem noch stärker gen Clubkontext orientierten Sublabel Hakuna Kulala vorlegt und außer auf Englisch auch in den Sprachen Luganda, Luo und Kiswahili ihren Ausdruck findet. Verantwortlich für die bassbrachial drückenden Klangkonstrukte, auf denen sie ihre wütende Poesie abfeuert, sind drei Produzenten, die allesamt schon solo auf Hakuna Kulala veröffentlichten: der Franko-Berliner Debmaster, der bereits ihr letztes Album stützte, der ebenfalls in Berlin lebende Japaner Scotch Rolex, bekannt auch von Waq Waq Kingdom, und nicht zuletzt Chrisman aus dem Kongo. Alexander Pehlemann

Ben Folds

Ben Folds

What Matters Most

What Matters Most

Der Pianist und Sänger Ben Folds war einst der Leader des Trios Ben Folds Five, welches mit seinem punkigen Chamber-Pop mühelos die Brücke zwischen Klassik und Pop schlug. Wohlgemerkt in einer Zeit, in der die Unterscheidung in U- und E-Musik noch bedeutungsvoll war. Dass der Musiker aus North Carolina auf zwei Flügeln gleichzeitig versiert spielen kann, stellte er sogar schon in Leipzig unter Beweis. Seit 2001 ist er als Solo-Künstler unterwegs und frönt immer noch dem bittersüßen Pop, wenn auch weitaus weniger punkig. Darüber hinaus arbeitete er gemeinsam mit Nick Hornby an einem Album, ist als Fotograf tätig und verdingt sich als Berater für mehrere Orchester. Kaum Zeit für Schönheitsschlaf also. »What Matters Most« ist das erste Solo-Album seit acht Jahren und klingt unverkennbar nach Ben Folds. Nach wie vor regieren bittersüße und schwelgerische Melodien. Wie gehabt drehen sich die Lyrics um menschliche Abgründe und die Schattenseiten des Liebens. Die Magie des Lebens kommt netterweise aber auch nicht zu kurz. Jedoch sind die zehn neuen Stücke nur stellenweise eine echte Offenbarung. Dafür sind sie jederzeit solide und ganz sicher keine Enttäuschung für Ben-Folds-Fans. Kay Engelhardt

Anthony Romaniuk

Anthony Romaniuk

Perpetuum

Perpetuum

Dieses als Gesamtkunstwerk angelegte Album hat Suchtpotenzial. Der australische Pianist, besser: Multi-Keyboarder Anthony Romaniuk spielt sich auf sechs Tasteninstrumenten vom Cembalo bis zum Synthesizer quer durch die Musikgeschichte. Alle Stücke verbindet eine durchgehend repetitive rhythmische Struktur, die in ihrer Kontinuität hypnotisch, magisch, tranceartig wirkt. Naturgemäß überzeugt das Konzept insbesondere bei Minimal-Music, so beim Eröffnungsstück »China Gates« von John Adams. Aber auch von Purcell bis Ligeti fasziniert Romaniuk durch sein grooviges, stilsicheres Spiel. Einzig Schubert, Schumann und Beethoven wirken in diesem Kontext fehl am Platz, da der für diese Musik unerlässliche individuelle Ausdruck dem Rhythmischen untergeordnet wird. Das Beste am Schluss: Die Toccata Arpeggiata von Kapsberger, bei der Romaniuk Synthesizer mit freier Improvisation auf dem Flügel kombiniert. Silke Peterson

Gregor Meyer, Walter Zoller

Gregor Meyer, Walter Zoller

Auferstehung. Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 2

Auferstehung. Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 2

Zum zweiten Mal nach 2011 lädt das Gewandhaus zum Mahler-Festival (11.–29.5.). Die Verbindung des Österreichers mit Leipzig mag Auswärtige zunächst erstaunt haben – inzwischen aber hat sich die Bach-Stadt auch als Mahler-Ort einen Namen gemacht. Schließlich entstand hier, wo der junge Komponist an der Oper wirkte, die erste Sinfonie, und die »Todtenfeier« als Vorstufe der »Auferstehungssinfonie« hat ebenfalls an der Pleiße ihre Wurzeln. Im Zuge der Pandemie erinnerten sich Gregor Meyer und Walter Zoller, Chordirektor und Korrepetitor am Gewandhaus, an Bruno Walters vierhändige Klavierfassung der Monumentalsinfonie und nahmen diese auf. Schon im Eingangssatz wird die Übertragung licht präsentiert. Doch erst die Erweiterung (Annika Steinbach, Henriette Gödde als Solistinnen sowie ein kleiner Chor und der Trompeter Emanuel Mütze) macht die Scheibe außergewöhnlich. Schöner Nebeneffekt: Aus dem therapeutischen Duett zweier durch Corona unterbeschäftigter Enthusiasten wurde eine Fassung, die Mahler dorthin bringt, wo er kaum zu erwarten ist – etwa in die Dorfscheune nach Linda bei Geithain. Hagen Kunze

Larry June, The Alchemist

Larry June, The Alchemist

The Great Escape

The Great Escape

San Francisco – so faszinierend die Stadt ist – kann sehr eng, laut und stickig sein. Lokalheld und Szene-Größe Larry June hat das zum Anlass genommen, eine Flucht zu planen. Dafür hat er sich keinen geringeren als die Producer-Legende The Alchemist eingepackt und ist mit festem Griff um das lederummantelte Lenkrad eines teuren Sportwagens in die Berge Malibus gefahren, um »The Great Escape« aufzunehmen. Das Album, so viel sei verraten, klingt genauso, wie man sich einen Roadtrip entlang des unwirklich schönen Highway 1 der kalifornischen Küste vorstellt. Alchemist liefert mit seinen Produktionen die perfekten Beats, die sich mitunter aus verspulten Jazz-Samples und Siebziger-Jahre-Filmmusik zusammensetzen. Neben seinem Gespür für unkonventionelle, mitunter fordernde Samples ist die größte Stärke des Produzenten, den Künstlern die richtige Bühne für ihr Können zu schaffen. Bei Larry June sind das Beats, die seinen extrem coolen und abgeklärten Flow ergänzen. June hebt die Stimme nur, um eine von seinen eingängigen Hooks zu singen, die man ihm vor dem Album nicht unbedingt zugetraut hätte. Lyrisch weiß der Rapper ebenfalls zu überzeugen. Es gibt wohl wenige Musikerkollegen, die sowohl mit Luxusgütern als auch dem Genuss von Fruchtsmoothies nach dem Morgenspaziergang angeben können: »Drinking Juice in the Morning, calculate an hun’« (»89 Earthquake«). Auch die Features überzeugen: Vor allem die Songs mit Action Bronson, Curren$y und Wiz Khalifa zeigen, dass der Kalifornier bereit ist für die große Bühne. Jan Müller

Fargo

Fargo

Geli

Geli

Fargo bringt das Leuchten zwischen den dunklen Häuserschluchten zum Klingen. Ihre Veröffentlichung »Geli« widmen die vier Leipziger der 2018 verstorbenen Künstlerin Angelika Zwarg. »Dunkle Häuser«, eines ihrer Gemälde, zeigt Gebäude bei Nacht, die bedrohlich nah an einer roten Schlucht aufragen. Die Szenerie bricht ein gleißend helles Leuchten. Diese mystisch anmutende Ambivalenz aus hell und dunkel greift die Band nicht nur auf, indem sie Zwargs Gemälde als Albumcover auswählte, sondern auch mit ihren beeindruckenden Klangflächen. »Geli« versammelt in gewohnter Post-Rock-Manier eine kleine Anzahl an Songs in herrlich ausschweifender Länge und ohne Gesang. So pulsiert »Dresden« als schrammelnde, dröhnende Schwere der Instrumente. Demgegenüber kartographiert Fargo die Stadt »Regensburg« mit zarteren Linien. Von den Gitarren tropfen Melodien in den gediegenen, verträumten Klangfluss. Jener braust voran zum nächsten Track: »Berlin« suggeriert durch effektvollen Nachhall beeindruckende Weiten. Kühl wabern, raunen die Gitarren und beschwören Nebelschwaden. Der Rhythmus schreitet mit den Lichtern, die die klare Bassmelodie aussendet. »Pforzheim« durchdringt den Raum kraftvoll. Im Rausch der Musik scheinen die Gitarren mit ihren zeitweise fragilen Melodien gegen das sonst tonvolle Dunkel aufzubegehren. Die hellen Töne irrlichtern durch das brachiale, düstere Dröhnen. Zeitvergessen verliert man sich in den musikalischen Labyrinthen von Fargo – eine einnehmende, vielseitige Wucht. Claudia Helmert

Dust Sucker

Dust Sucker

Ich sende dir Rosen Ray

Ich sende dir Rosen Ray

Ein penetrantes Gitarrenfeedback, ein kazooähnliches Tröten und schon gerät man in den Sog der Dust Sucker, hinein in den Pogo auf weißen Tennissocken. Außer Atem hält man nach dem ersten Song inne und realisiert, dass man hier gerade nicht von einer fünfköpfigen Band, sondern von einem Duo, bestehend aus einem Drummer und einer Gitarristin sowie Sängerin, über den Haufen gespielt wurde. Anerkennend taumelt man zur Bar, um sich ein Sterni zu holen und starrt gebannt in den Nebel im gedimmten Scheinwerferlicht, aus dem atmosphärische Gitarren-Klanglandschaften aufsteigen. Das aktuelle Album »Ich sende dir Rosen Ray« ist die zweite Veröffentlichung der Leipziger Band. Neun Songs, darunter auch der erste deutschsprachige, der sich wunderbar einfügt in die anderen auf Englisch geschriebenen Stücke. Im DIY-Stil aufgenommen und produziert, hat das Album einige berührende, nahbare Momente, die den lauten, lustigen Funpunk-Momenten dramaturgisch kongenial gegenüberstehen. Hören kann man Dust Sucker auf Bandcamp und Youtube oder auch live. Im April waren sie mit Wrackspurts auf Tour, Leipzig allerdings war noch nicht dabei – es lässt sich also auf ein zeitnahes Konzert hoffen. Fiona Lehmann

Hendrik Otremba

Hendrik Otremba

Riskantes Manöver

Riskantes Manöver

Messer-Sänger Hendrik Otremba wurde im Vorfeld der Veröffentlichung seines ersten Soloalbums nicht müde zu betonen, dass seine Stammband trotz des eingeschlagenen Solopfades weiterhin existieren würde, man gerade gar an einem neuen Album arbeite. Keine Frage: Die Liste jener Sänger, die die erste Soloplatte als Sprungbrett genutzt haben, um sich des alten, lästig gewordenen Kollektivs zu entledigen, ist lang. Otremba hingegen hat sich für den Soloweg entschieden, weil sich über die Jahre Ideen, Melodien, Fragmente und Songs angesammelt haben, die bei Messer aus verschiedenen Gründen keinen Platz gefunden haben. Und tatsächlich wird auf »Riskantes Manöver« musikalisch neues Terrain betreten, das sich explizit von den bisherigen Messer-Platten unterscheidet – insbesondere vom funky-dubbigen Sound von »No Future Days«. Stattdessen verbindet Otremba hier chansoneske Songs mit gelegentlichen Industrial- und Noise-Explosionen, die in der Verbindung mehr als einmal an die Einstürzenden Neubauten erinnern. Nicht umsonst sprach Otremba im Vorfeld davon, dass das Album musikalisch die härtesten und zugleich zerbrechlichsten Elemente in seiner musikalischen Laufbahn vereine. Exemplarisch genannt werden können an dieser Stelle die wunderschön-intime Piano-Ballade »Bargfeld« sowie die brutal-verzerrte Doom-Walze »Nektar, Nektar«, deren simples wie zugleich eindringliches Gitarrenriff in Kombination mit Otrembas verzweifeltem Höllengeschrei wie eine Reinkarnation Black Sabbaths aus den frühen Siebzigern daherkommt. Höhepunkt der Platte ist aber zweifellos das Duett mit Die-Heiterkeit-Frontfrau Stella Sommer in »Smog in Frankfurt«, einem überragenden Remake des Schlager-Hits von Michael Holm aus dem Jahr 1974. »Welten sollen aufeinanderprallen«, hat Otremba in Bezug auf seine neue Platte gesagt. Das ist ihm zweifellos gelungen, und man möchte hinzufügen, dass durch die Kollision gar eine neue Welt entstanden ist – wenigstens für die Dauer dieses Albums. Luca Glenzer

Rose City Band

Rose City Band

Garden Party

Garden Party

Hinter dem Projektnamen Rose City Band verbirgt sich Ripley Johnson. Zusätzlich ist der Musiker aus Portland bei den Wooden Shjips zugange und eine Hälfte des Moon Duo. Die neue Platte ist die konsequente Fortführung seines letzten Longplayers »Earth Trip«. Darauf wurde entspannt und endgültig der Übergang von Psychedelic-Rock zu Country vollzogen. In demselben Fahrwasser mäandert »Garden Party« höchst gemütlich vor sich hin. Dass der psychedelische Einschlag immer noch spürbar ist, zeigt aber allein schon das Cover. Statt dem üblichen Grillzeug und Saufkram gibt es auf dieser Party Fliegenpilze, Kräutertee und doppelte Böden im Rasen. Doppelte Böden im Sound gibt es erfreulicherweise keine. Die Pedal-Steel-Gitarre gehört inzwischen zur ansprechenden Grundausstattung. Zugegeben, die acht neuen Songs erfinden das Country-Rad nicht neu. Da wir aber den meditativen Gitarrensoli und der sanften Stimme von Johnson stundenlang lauschen könnten, stellt dies kein größeres Problem dar. Alle Hörerinnen und Hörer, die Built To Spill auf Opiaten mögen könnten, sollten zugreifen. Kay Engelhardt

Mondëna Quartet

Mondëna Quartet

Circles

Circles

Das Mondëna Quartet gibt es seit 2019. Vier junge, klassisch ausgebildete Musikerinnen taten sich in Leipzig als Streichquartett zusammen. Ihre Musik bezeichnen sie selbst als Mischung aus Neoklassik, Pop, Folk und Filmmusik. Ihre Vielseitigkeit ist auf Streams und diversen ansprechenden Videos im Internet zu sehen und zu hören. Erfolge wie Nominierungen zum Opus-Klassik 2022 und Stipendien sprechen für sich. Das Quartett arbeitet auch als Begleitband mit unterschiedlichen Musikerinnen und Musikern wie Diana Ezerex, Felix Räuber, Sven Helbig und Felix Rösch zusammen. Seit 2019 hat sich viel getan, nun ist das Debütalbum erschienen: »Circles«, das ausschließlich Kompositionen der ersten Geigerin Shir-Ran Yiron enthält. Es sind fast alles circa fünfminütige stimmungsvolle Stücke, durchsichtig komponiert, makellos intoniert, trotz unterschiedlicher Charaktere eher ästhetisch als emotional. Die Vorliebe für sphärisch-lyrische Klänge überwiegt. Diese Musik kann für sich alleine stehen, lädt aber dazu ein, durch Bilder, Tanz, Gesang ergänzt zu werden, oder wie im letzten Stück auf dieser CD – »Remember« – durch Clemens Christian Poetsch am Klavier Silke Peterson

Aelbgut

Aelbgut

Leipzig 1723

Leipzig 1723

Das musikalische Leipzig feiert sich mal wieder: 300 Jahre ist es her, dass Bach seinen fürstlichen Kapellmeisterposten in Köthen gegen das Amt des Thomaskantors tauschte. Als er mit mehreren Kutschen im Frühjahr 1723 an der Pleiße aufschlug, berichtete sogar die Zeitung darüber – eine Seltenheit in Bachs Leben. Dabei war er zunächst nur »dritte Wahl« und konnte das Amt nur antreten, weil Telemann und Graupner aus unterschiedlichen Gründen ihre Berufungen ausschlugen. Accentus widmet nun dem langwierigen Bewerbungsverfahren eine CD und stellt die erhaltenen Probe-Musiken der drei gegenüber. Im informativen Beiheft vollzieht Bachfest-Intendant Michael Maul einen spannenden Zeitsprung und liefert höchst unterhaltsam den neuesten Stand der Forschung. Auch musikalisch ist die Scheibe des Solistenquartetts Aelbgut sehr erhaben – wenngleich auch die Besetzung mit einem Sänger pro Stimmgruppe wenig historisch ist. Aber wie die vier gemeinsam mit den Instrumentalisten der Capella Jenensis hier die Musikgeschichte zum Klingen bringen, das verdient wirklich höchsten Respekt. Hagen Kunze