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Rezensionen

Iggy Pop

Iggy Pop

Every Loser

Every Loser

»I’m the guy with no shirt who rocks« – mit diesen Worten hat der sogenannte »Godfather of Punk« das recht simple Konzept seines neuen Albums »Every Loser« schon ganz gut zusammengefasst. Nach den etwas gediegeneren und experimentelleren Alben »Free« und »Post Pop Depression« kehrt Iggy Pop auf seiner mittlerweile 19. Platte nun wieder mehr zu seinen Punkwurzeln zurück – im Song »Modern Day Ripoff« klingt sogar deutlich das charakteristische Piano-Stakkato des Stooges-Hits »I Wanna Be Your Dog« durch. Auch wenn zwischendurch mal eine Gitarren-Ballade (»Morning Show«) oder ein Synth-Pop-Track (»Strung Out Johnny«) eingeschoben werden, »Every Loser« tut vor allem eins: ganz gut brettern. Für die Aufnahmen des Albums hat Pop unter anderem mit Chad Smith (Red Hot Chili Peppers), Josh Klinghoffer (Ex-Chili Peppers) und Duff McKagan (Guns N’ Roses) eine ebenso illustre wie etwas ergraute Schar an Rockmusikern um sich gesammelt. Das hat sicherlich dazu beigetragen, dass »Every Loser« sowohl handwerklich als auch produktionstechnisch absolut solide klingt, soundästhetisch dann aber doch auch etwas angestaubt wirkt. Auch lyrisch sind die wütenden Rants über Hollywood-Dekadenz, Pseudo-Punks oder Internet-Trolle nicht unbedingt immer das, was man originell oder auf Höhe der Zeit nennen kann: »Got a dick and two balls, that’s more than you all« – okay, Iggy, okay. Auch wenn das Album sicher kein großer, visionärer Wurf ist, Spaß machen tut das Ganze dann doch. Und im stolzen Alter von 75 noch so viel angry energy auf eine Platte zu pressen, ist ja irgendwie auch eine Leistung. Yannic Köhler

Schrottgrenze

Schrottgrenze

Das Universum ist nicht binär

Das Universum ist nicht binär

Darf’s ein bisschen direkter sein? – Aber bitte, klar doch!, sagen Schrottgrenze auf ihrem zehnten Studioalbum und nennen es »Das Universum ist nicht binär«. Schon das macht klar, worum es auf dem Album geht, und für die paar Leute, die es nicht verstehen, gibt’s die Single »Dysphorie« inklusive Video dazu: Wir befinden uns mitten im queeren Powerpop-Universum des norddeutschen Quartetts. Spätestens seit 2017 ist alles Glitzer auf Beton und die Diskussion um Feminismus, Geschlechteridentitäten und -rollen wird in aller Dringlichkeit auf der Tanzfläche verhandelt. Das ist bei »Das Universum ist nicht binär« nicht anders: Gitarren und Schlagzeug, die straight keine Pause erlauben, und Melodien, die man nach dem ersten Hören schon mitsummt. Dabei wird auch die inhaltliche Diskussion noch mehr auf einzelne Statements reduziert, fast bis zur Plakativität. Sophie Rauscher posiert im Video zur Single und wiederholt wieder und wieder die Zeilen: »Und alle kennen mich besser als ich mich / Und alle wissen alles besser«. Ein Luftballon mit der Aufschrift »He / She / Pop to See« wird zerplatzt. Noch Fragen? Diese Direktheit und Klarheit in dieser bunten Selbstverständlichkeit ist das Geschenk, das uns Schrottgrenze 2023 machen. Ich möchte Zeilen wie »Ich bin so, wie ich mich fühl, lebe, wie ich will. Ich bin so was von echt« ganz selbstverständlich vor mich hinsummen oder laut rausschreien. Ich möchte rumspringen zu Zeilen wie »Reiß das Fenster auf, wirf endlich alles raus, Strategien und Männerphantasien.« Vielleicht braucht es das, damit das auch passiert und Realität wird. Kerstin Petermann

Tischlerei Lischitzki

Tischlerei Lischitzki

Wir ahnen Böses

Wir ahnen Böses

Toxoplasma, Wizo, … But Alive: Musikvergleiche mögen Architekturtänze und Quadraturen des Kreises sein. Und zwischen Gut und Böse liegt nicht der Platz an der Sonne, sondern residieren der Hass und die Gerechtigkeit. Ja, man muss es so hoch hängen: Tischlerei Lischitzki sind in die genannte Qualitätslinie einzureihen. »Wir ahnen Böses« ist ihr fünftes Album, doch noch immer fliegen sie unterm Radar von vielen. Wohl auch, weil sie es keinem recht machen wollen – und sich vor allem am Umgang mit rechts abarbeiten. Das kann dann auch schon mal kompromisslos ausfallen. Denn eingängige »Nazis raus!«-Hymnen findet man bei den Rand-Lüneburgern nicht. Es geht um Grauzonen und ihren Nullbock, auf Gigs zu spielen, wo die stattfinden – und die Wut, das Veranstaltern überhaupt noch erklären zu müssen. Deutsche Vergangenheit und der Nicht-Umgang damit in den eigenen Familien sind Themen, auch die Gegenwart, in der es zwischen Nazis und Festung Europa nichts zu beschönigen gibt. Schlau, stark, emotional: So muss antifaschistischer Punk schmecken. Den textlichen Tiefgang unterstreichen Songstrukturen jenseits von Humpa-Pogo. Natürlich gehts gut nach vorne, aber nicht gefällig. Die Tischler rumpeln, ecken an, ziehen einen mit. Aber sie brechen mit den Erwartungen, da kommt nicht immer gleich der Refrain zum Mitsingen. Und immer schwingt im Klampfengedröhne, Drumdruck und Rufgesang eine Spur Schwermut mit – nennt man sie nun Wave oder Postpunk. Tobias Prüwer

Various Artists

Various Artists

Battle Of The Year 2021 – Special Edition

Battle Of The Year 2021 – Special Edition

Seit vielen Jahren bei uns im Januarheft, und der Covid-bedingte letztjährige Ausfall der Sampler-Rezension ist hiermit kompensiert. Der Labelchef aus Dessau, Matthias Kretschmer, liefert nach per »Maxiversion« und erstmals digital only. Unkonventionell wie der namengebende Battle-Event im November in Montpellier: Pandemiebedingt konnten keine Vorausscheide in den Ländern ausgetragen werden, deshalb wurden Crews zum Batteln direkt nach Frankreich geladen. Kretschmer sagte, weil es 2021 eine Zwangspause gegeben habe, die Künstler aber heiß gewesen seien, endlich wieder was für BOTY zu machen, habe er mit 25 Beiträgen quasi ein Doppelalbum kompiliert. Und das ist traditionell international ausgefallen – mit auffallendem Akzent auf Osteuropa: Zehn Tracks wurden in Staaten wie Belarus, Lettland, Polen und der Ukraine produziert. Und der dem klassischen Breakdanlistischece-E-Funk am nahesten kommende Song »Time to rock« von Atomic Project stammt aus Russland. Der Sampler startet mit klassischem Straßenkampf des Amerikaners DJ Flag, lässt Raum für BOTY-Stammpersonal wie DJ Nas’D, Jay-Roc & Jakebeatz sowie DJ Pablo und bietet eine Plattform für Szenegrößen aus Ägypten, Israel und Japan, die ebenfalls ihre Wurzeln im Sound der Straßen der Bronx gezogen haben wollen. Dominance-Head Kretschmer beklagte beim kreuzer die Hektik und sehr kurzfristige Planung seines 25-Track-Projekts, doch erneut zeigt seine Arbeit, wie agil und experimentierlaunig die globale Szene ist. Covid konnte ihr Immunsystem einen Jahreswechsel lang umgehen, eine heftige Reaktion mit mehr als zwei Dutzend musikalischen Antikörpern aber nicht stoppen. Torsten Fuchs

Rauchen

Rauchen

Nein

Nein

Da ist so viel drin, das geht nur in kleinen Häppchen. So oder so ähnlich. Jedenfalls präsentieren die Hamburger Rauchen ihr zweites Album »Nein« in drei kleinen Dosen zu je vier Stücken: Die drei bis dahin als EPs konzipierten Veröffentlichungen werden zu einem Longplayer zusammengepackt und veröffentlicht. Und auf abstruse Weise ergibt das Sinn: Die Dreiteilung gibt den zwölf Songs eine (neue) Ordnung und Struktur. Sie lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Kompilation in ihren 25 Minuten mehr zu bieten hat als manches Doppelalbum. Die drei EPs machen eine musikalische Vielfalt deutlich, der man mit dem Label »Punk« allein nicht gerecht würde. Sie offenbart die Spannbreite von Post-Punk mit klarem Gesang und hämmernden Bässen (EP I) über Hardcore mit geschrienen Vocals und Feedback (EP II) bis hin zu klassischem Keller-Punk (EP III). Und immer trägt Nadines Gesang diese Wechsel mit und lotet die Genregrenzen kraftvoll aus. Thematisch spielen Rauchen auf »Nein« gewissermaßen Punk-Bingo: Feminismus – check, Kapitalismuskritik – check, Polizeigewalt – check und … ja … Liebe – check. Sie tun das aber auf sehr souveräne und spannende Art: Auf jeder der drei EPs wird jedes Thema in einem Stück behandelt, auf jeder EP aus einer anderen Perspektive. So wird jedes Thema aus drei Blickwinkeln betrachtet: dem der Betroffenen, einem sehr persönlichen oder einem eher analytischen. Das gibt genug Stoff für Auseinandersetzung weit über die 25 Minuten des Albums hinaus. Dass bei so viel Struktur, Ordnung und Berechnung, die in der Konzeption des Albums steckt, eine so emotionale Platte mit so viel Bauchgefühl entstanden ist, ist allein schon ein Kunststück und macht sie noch eindrucksvoller. Kerstin Petermann

Nils Frahm

Nils Frahm

Old Friends New Friends

Old Friends New Friends

Der Maestro hat ausgemistet: Auf »Old Friends New Friends« versammeln sich bislang ungehörte Stücke, die Pianist Nils Frahm über den Verlauf der letzten zwölf Jahre aufgenommen und jeweils vom Feeling her oder sonst wie nicht für geeignet befunden hat, um sie auf ein Studioalbum zu packen. Das heißt nicht, dass es sich hier um Ausschussware handelt, Tracks wie »Rain Take«, »Then Patterns« oder »Corn« funktionieren als melancholisch-minimalistische Klangskulpturen auch ohne ein Albumkonzept um sie herum. Alle Stücke seien auf einem anderen Klavier eingespielt worden, gibt Frahm im Pressetext zu Protokoll, das macht bei 23 Tracks einen Haufen Klaviere, wenn man mal darüber nachdenkt und sich die bildlich in einem Raum vorstellt. Darum kommt man beim Hören der Platte auch nicht herum, denn Frahms Liebe zum Klang der Pedale und des Klavier-Inneren macht sich diesmal besonders stark im Soundmix bemerkbar. All das Knirschen, Schaben und Klackern setzt oft einen willkommenen Kontrapunkt zur Lieblichkeit der Melodien, macht die Substanz des Instruments und die Arbeit daran hörbar, manchmal kippt das aber auch in so fiese Holz-kratzt-über-Holz-Sounds, deren Beitrag zur Komposition sich nicht wirklich erschließt. Trotz seiner Länge und seines Charakters als Loseblattsammlung funktioniert das Album gut in einem Rutsch, vorausgesetzt, man ist auf der Suche nach zwei Stunden meditativer Melancholie ohne große Ausschläge in andere emotionale Gefilde. Mit »Old Friends New Friends« rührt Nils Frahm einerseits nicht an seinem Platz in den »Piano Chillout«-Playlists dieser Welt und beweist andererseits wiederum, dass seine Musik zum Gehaltvollsten gehört, was diese zu bieten haben. Kay Schier

Spidergawd

Spidergawd

VI

VI

Ein Blick auf den Titel sagt: Ja, es ist das sechste Album der Norweger von Spidergawd. Und zwischen Album V und VI ist mehr passiert als zwischen I und V zusammen. Na ja, fast. Aber nicht nur der zeitliche Abstand ist deutlich länger gewesen. Auch musikalisch gibt es Veränderungen, die beinahe als dramatisch gelten können für eine Band, die so sehr auf Beständigkeit setzt wie Spidergawd. Da ist erstens die zweite Gitarre, mit der Brynjar Takle Ohr den Sound der Band verdichtet. Noch ein bisschen kraftvoller. Noch ein bisschen mehr Energie. Weiter hin zum Metal und weg vom Groove, den die Band trotz aller Härte immer hatte, dank des Saxofons von Martin Snustad, das sich auf »VI« sehr zurückhält. Und das ist dann auch das Zweitens: Ohne das immer wieder überraschende Saxofon sind Spidergawd ne Prog-Metal-Band, die mehr Metal ist als Prog. Sie sind das wie gewohnt sehr gut, aber eigentlich war die Sache der Norweger nie, sich an Bekanntes anzulehnen. So bleibt zwar die unbedingte Freude über ein hervorragendes, kraftvolles und drängendes Alternative-Album, das einen mal wieder wachrüttelt. Gleichzeitig paart sie sich mit dem Gefühl, den Kick von etwas wirklich Neuem gebraucht zu haben. Ein wenig, wie eine richtig gute Vollmilch-Schokolade zu essen, wenn man eigentlich Salted Caramel mit Himbeer-Topping gewollt hätte. Kerstin Petermann

Gellert Ensemble/Andreas Mitschke

Gellert Ensemble/Andreas Mitschke

J. C. F. Bach: Die Auferweckung des Lazarus

J. C. F. Bach: Die Auferweckung des Lazarus

Abseits von den Pfeilern der Leipziger Hochkultur hat sich Andreas Mitschke, Kantor an der Taborkirche Kleinzschocher, eine musikalische Nische eingerichtet, die längst weit über Leipzig hinaus strahlt: die Musik der Aufklärung, die zeitlich in die Spätphase von Bachs Thomaskantorat und in die nachfolgende Generation fällt. Im März 2020 lag ein Passionsoratorium des oft vergessenen Bach-Sohns Johann Christoph Friedrich (des »Bückeburger Bachs«) auf den Pulten – doch auch diesem Projekt machte Corona einen Strich durch die Rechnung: Die Idee blieb, das Werk aber wurde getauscht: Nun liegt eine hörenswerte Einspielung des nur knapp einstündigen Oratoriums »Die Auferweckung des Lazarus« vor, das 1773 als kongeniale Gemeinschaftsarbeit des Komponisten mit dem Aufklärer Johann Gottfried Herder entstand. In den Händen des jungen Gellert-Ensembles blüht diese Musik regelrecht auf und widerlegt das immer wieder zu lesende Vorurteil, der Bückeburger Bach sei der Konservativste im Quartett der komponierenden Bach-Söhne gewesen. Was hier zu hören ist, ist »Sturm und Drang« vom Feinsten! Hagen Kunze

Slixs

Slixs

Quer Bach 3

Quer Bach 3

Die Geschichte macht Mut: 2014 sorgten Slixs für Aufsehen im Blätterwald, als man mit viel Sinn für Musikalität und Lockerheit Instrumentalwerke des größten aller Thomaskantoren für das sonst im Jazzpop wandelnde A-cappella-Ensemble bearbeitete. Ganz neu war derlei zwar nicht, aber in den vergangenen Jahren haben sich Slixs mit dem Seitensprung »Quer Bach« auf zwei CDs jede Menge Freunde gemacht. Dann kam jedoch Corona – und mit dem Virus die Idee, via Crowdfunding ein Nachfolgeprojekt auf die Beine zu stellen: »Quer Bach 3«. Nun liegt die Scheibe vor, und die größte Überraschung prangt nicht einmal auf dem Titel, sondern versteckt sich ganz am Ende: die Übertragung des Orgel-konzerts d-Moll BWV 596 in einer atemberaubenden Fassung für Orgel-Solo (gespielt vom Gewandhausorganisten Michael Schönheit) und Vokalsextett, das auch hier Gespür für Gestaltung zeigt. Denn schon die Wahl der Vokalisen, mit denen die fünf Herren samt Dame agieren, sorgt für vielschichtige Farben und geht weit über den simplen »Dabadaba«-Sound hinaus, der sonst zu hören ist, wenn Bach derart bearbeitet wird. Hagen Kunze

Christian FP Kram

Christian FP Kram

Grenzschatten – Lieder

Grenzschatten – Lieder

Der in Leipzig lebende Komponist ChristianFP Kram stellt auf dieser CD seine Klavierlieder aus dem Zeitraum 2001 bis 2019 vor. Vielfältig wie die von ihm ausgewählten Texte sind seine Vertonungen derselben – Hesse und Nietzsche stehen hier neben drei Gegenwartsautoren – und provozieren mit ihrer Verschiedenartigkeit ein weites Spektrum an musikalischen Ausdrucksmitteln. So reichen die Vertonungen vom konzentriert Aphoristischen über filigran sich verlierende Momente und traditionellere Lied-Strukturen bis hin zu Krams typischen sich rhythmisch verdichtenden, insistierend fordernden Akkord-Repetitionen. Nietzsches Sentenzen werden sehr sparsam und konzentriert vertont, pointiert unterstützt die Musik hier die Sprache. Die Gedichte der Tschechin Kateřina Rudčenková (*1976) kreisen um Einsamkeit, Schlaf, Dämmerung und Finsternis. Kram lotet hier die Grenzen des Tonumfangs einer Baritonstimme aus und fordert im Sinne extremen Ausdrucks vom Interpreten gelegentlich auch das Verlassen der sängerischen Komfortzone. Der ergreifenden Sprachgewalt und Dramatik der Texte des irakischen Dichters Sargon Boulus (1944–2007) liegen politische Vorfälle und menschliche Extremsituationen zugrunde. Kram inszeniert sie für Mezzosopran musikalisch zerklüftet, fast rezitativisch und dynamisch weit aufgespreizt. In den Hesse-Vertonungen für Mezzosopran und Klavier durchwandern stille Linien ruhig den aufgedehnten Zeit-Raum. Kevin Perryman (*1950) ist ein in Bayern lebender, britischstämmiger Lyriker. Im Zyklus »Eingeschneit« erscheint im Lied »Teppich« in fast klassischer Manier dann sogar einmal eine ganz schlichte Gesangslinie über einem sanften Teppich aus Akkorden. Überhaupt gibt es hier viele beständige Texturen, die den einzelnen Liedern prägnanten Charakter verleihen. Die fünf Liederzyklen werden von zwei Liedduos interpretiert. (...) Anja Kleinmichel

The Melmacs

The Melmacs

Good Advice

Good Advice

Nachdem die Veröffentlichung aufgrund der aktuell obligatorischen Engpässe in den Presswerken noch mal verschoben werden musste, ist »Good Advice«, das neue Album der Leipziger Band The Melmacs, nun erschienen. Das Warten aber hat sich gelohnt: Die zehn Songs, aufgenommen in den Leipziger Glooven-Studios, changieren zwischen Pop, Punk und 70s-Garagerock. Wer jetzt wegen der Buzzwordkombi »Pop« und »Punk« fürchtet, Opfer einer weiteren Band zu werden, die die tote Kuh der Blink-182-Nostalgie melken möchte, sei beruhigt. Ein Glamrockeinschlag, der vor allem dank der Stimme einer talentierten Sängerin zum Tragen kommt, verleiht dem Album in der aktuellen Rock-Soundlandschaft (insbesondere zwischen Dresden und Leipzig) zweifelsohne die nötige Unverwechselbarkeit. Übrigens wurden die im Schnitt zweieinhalb Minuten dauernden Tracks zwar in Leipzig aufgenommen, aber in Atlanta von Dan Dixon gemixt und danach von Magnus Lindberg in Stockholm gemastert. Ein wahrhaft internationales Werk also. Den Liebhaberinnen und Liebhabern von Vinyl sei außerdem gesagt, dass die LP mit einem illustrierten Zine (in dem auch die Lyrics zu finden sind), einem Stickerset und einem Downloadcode geliefert wird – und dank des Artworks von Bimmi Breidel aus Dresden ein echtes Schmuckstück ist. Laura Gerlach

Lil Obeah

Lil Obeah

Goes Nyabinghi. Ghostdance Dubs

Goes Nyabinghi. Ghostdance Dubs

Obeah ist ein (auch) auf Jamaika praktizierter karibischer Ritus, der afrikanisches Erbe synkretistisch aufmischt, mit Geistern und Zauberei. Lil Obeah transformiert diese Bezüge und die Insel-Sounds seit einiger Zeit in die von ganz anderen Gespenstern durchwehten Karpaten, vermittelt über die post-punkige Reggae-Party und düstere Industrial-Dub-Dances. Mit deren Protagonisten er sogar kooperiert, so bei der Radioshow Devil’s Jukebox mit seinem Mentor Mark Stewart von der Pop Group. »Goes Nyabinghi«, wie sonst mit dem Produzenten Marius Costache erarbeitet, führt unter Verweis auf das Rasta-Drumming in Doom-dunkle und eher kühle Sound-Täler Transsilvaniens, vor allem in den Dubversionen. Die Referenz des Geistertanzes geht dabei aber auch zur Frühzeit jamaikanischer Produktion: zu Prince Buster, der nicht nur den legendären Song »Ghost Dance« intonierte, sondern zudem die tribalistischen Trommeln erstmals in die Pop-Musik überführte, mit »Oh Carolina« von den Folkes Brothers, 1961. Alexander Pehlemann

Tom Liwa

Tom Liwa

Eine andere Zeit

Eine andere Zeit

Seit Mitte der achtziger Jahre ist Tom Liwa solo und mit seiner Stammband, den Flowerpornoes, musikalisch aktiv. Jüngst hat er mit »Eine andere Zeit« den geschätzt 39. Frühling seiner Karriere eingeleitet. Wie seine beiden musikalischen Lebensbegleiter Bob Dylan und Neil Young hat sichLiwa dabei zeitlebens zwischen Riff-orientierter Rockmusik und folkig-intimem Blues bewegt. Nach der rockigen Flowerpornoes-Platte »Morgenstimmung« aus dem letzten Jahr ist es insofern nur folgerichtig, dass »Eine andere Zeit« wieder reduzierter und zerbrechlicher daherkommt und Liwa die Distortion-Pedale gegen Westerngitarren und Bottlenecks eingetauscht hat. Gleich der erste Track – »Schon wieder Februar« – lässt in prosaischer Weise Erinnerungen vorbeiziehen: »Wir wollten viel weiter / Aber sind nur bis hierher gekommen«, singt Liwa dabei gewohnt schnoddrig, aber nicht schnörkellos, wobei man ihm die Herkunft aus dem proletarischen Milieu des Ruhrgebiets angenehmerweise jederzeit anhört. Ebenso wie Young und Dylan pflegt auch Liwa ein inniges Verhältnis zu sogenannten Longtracks, weshalb auch auf dem neuen Album mit »Hunter«, »Onya«, »Ein halbes Jahr in Thailand« und »Fast schon März auf dem Traumschiff Aida« gleich vier Songs die Spiellänge von sieben Minuten überschreiten. Dabei bietet sich für Liwa die Möglichkeit, seine elegischen, metaphorischen, oft Tagebuch-ähnlichen Texte zu entfalten, die mitten im Winter eine frühlingshafte Aufbruchstimmung zu erzeugen vermögen. Luca Glenzer

Ladytron

Ladytron

Time’s Arrow

Time’s Arrow

Ein Album wie eine dicke Eisschicht, die sich über die Welt legt: die Fenster, die Wege, die Flüsse. Schneidend klar und hell ist der Gesang von Helen Marnie auf dem siebten Studioalbum von Ladytron »Time’s Arrow«. Der Shoegaze des Liverpooler Quartetts ist dabei das beste Beispiel für die Schönheit von Eis. Es ist nicht immer schroff und kalt. Es schimmert auch gleißend im Licht. Und es schützt und isoliert, was darunter liegt. In zehn geschliffenen Tracks zeigen Ladytron diese bezaubernde Seite der Kälte. Wie zarte Triebe von Frühblühern kämpft sich der Gesang durch die Synthesizer und führt die Melodie weiter bis zur Spitze des kleinen Zehs. Der Rest des Fußes wippt dabei ohnehin schon lange mit. Wie fernes Klirren brechen sanfte Rhythmen der Drumcomputer in das flirrende Treiben des Electro-Nebels. Sanfter und weniger discoesk sind die Rhythmen im Vergleich zu den vorangegangenen Alben. Und dichter ist zugleich der Nebel der Synthesizer. Es ist Winter. Die Songs ziehen in den Bann und machen süchtig nach mehr. Nach mehr von den Geschichten über vergangene Beziehungen oder großstädtische Lebensentwürfe. Kerstin Petermann

James Yorkston, Nina Persson & The Second Hand Orchestra

James Yorkston, Nina Persson & The Second Hand Orchestra

The Great White Sea Eagle

The Great White Sea Eagle

Dieses neue Album von James Yorkston ist die zweite Zusammenarbeit des schottischen Folk-Musikers mit dem schwedischen The Second Hand Orchestra. Karl-Jonas Winqvist, der Leiter dieses Ensembles, schlug Yorkston vor, diesmal eine weibliche Stimme mit an Bord zu nehmen. Nina Persson, Chefin der Cardigans, erklärte sich erfreulicherweise flugs dazu bereit. Ihre sanfte und klare Stimme ergänzt bestens den angenehm-kauzigen Gesang Yorkstons. Für »The Great White Sea Eagle« nutzte selbiger erstmals das Piano als Hauptinstrument fürs Songwriting, was den Stücken eine neue Leichtigkeit verleiht. Auch wenn der schottische Künstler die Rohfassungen beisteuerte, entstanden die Songs erst wirklich über die gemeinsame Arbeit im Studio. Yorkston formuliert das wie folgt: »Wir brauchten für keines der Stücke mehr als vier Takes, da niemand an Egotrips interessiert war. Alle Anwesenden ließen sich viel Raum für Experimente.« Die Platte lebt von diesem Live-Feeling und der Spannung des Spontanen. Zudem ist sie erneut ein wunderbarer Beleg dafür, dass Melancholie höchst fluffig daherkommen kann. Kay Engelhardt

Modus Pitch

Modus Pitch

Polyism

Polyism

Obgleich diese Musik nicht gleich anfasst, erlaubt sie, ganz unbedarft in die beeindruckende Klanglandschaft von Modus Pitch zu blicken. Dessen Album »Polyism« erklingt als sphärische, kaum zu überblickende tonvolle Welt. Hier blitzen die Melodien als synkopierte Himmelskörper, dort verblassen anmutige Bläserstreifen am Horizont oder es bäumen sich taktvolle Wolkenberge auf, die sich für jeden Song neu und schön zusammenfinden. Gereizt von rätselhaften, geräuschvollen Brocken zwischen den auratischen, zumeist flächigen Soundweiten verliert es sich herrlich. Synthies öffnen Portale, aus denen mehr als nur Instrumentenstimmen zu säuseln, zu locken vermögen. Das Solodebüt des Leipziger Musikers, Produzenten und Sounddesigners Friedrich Brückner (Interview auf S. 42) kartografiert keine Genrepfade, sondern schafft mit jedem der neun Tracks vereinnahmende musikalische Universen – wie gemacht für Entdeckungswillige, für Hörfreudige, die bereit sind, den Boden zu verlieren und einzutauchen. Mit Gästen wie Hendrik Otremba (Messer), Fabian Altstötter (Jungstötter, ehemals Sizarr), Jonas Wehner (Warm Graves) und Martin Wenk (Calexico u. v. m.) ist »Polyism« auch Popkultur. Claudia Helmert

Leopold-Mozart-Quartett

Leopold-Mozart-Quartett

Aus der Enge in die Weite. Streichquartette Nr. 1–3 von Heinz Winbeck

Aus der Enge in die Weite. Streichquartette Nr. 1–3 von Heinz Winbeck

Die Einspielung aus diesem Jahr präsentiert drei Streichquartette des deutschen Komponisten Heinz Winbeck (1946–2019). Winbecks äußerst expressive, deutlich sich aus der klassisch-romantischen Tradition heraus erklärende Tonsprache versteht sich als Antwort auf eine Beliebigkeit, wie der Komponist sie in neuerer Musik für sich zu häufig wahrnahm. Seine Suche nach musikalischem Ausdruck war gebunden an existenzielle Fragen und immer wieder auch an seine Auseinandersetzung mit dem Tod. Nach 1996 beendete Winbeck seine kompositorische Tätigkeit. »Vielleicht sollte mehr und auch länger geschwiegen werden, verbal und auch musikalisch«, schrieb er 1995, »um erst wieder zu hören, was der wunden Zeit nottut.« Erst 2009 gab es nach langer Pause und auch auf Drängen des Dirigenten Dennis Russell Davies hin einen letzten großen musikalischen Ausstoß, eine fünfte Sinfonie. Winbecks drei Streichquartette entstanden in einer früheren Phase, zwischen 1979 und 1984, und haben einen äußerst strengen, expressiven und dramatisch aufgeladenen Tonfall. Der Einsatz des Instrumentariums ist in der Textur, dem konkreten Interplay der Instrumente und rhythmisch im Sinne einer weitergeführten klassischen Tradition zu verstehen und zeigt das Ringen um Neuformulierungen mit für »verbraucht« erklärtem musikalischem Material. Das Leopold-Mozart-Quartett interpretiert diese expressive Musik virtuos, farbenreich und fesselnd. Titel der Einspielung ist: »Aus der Enge in die Weite«. Grundstimmung dieser Musik bleibt jedoch äußerste Beklemmung, Weite scheint eher die unerreichte, ideale Qualität im Ringen nach Befreiung durch die Formulierung dieser Musik. Eine interessante Bereicherung des Repertoires. Anja Kleinmichel

Disillusion

Disillusion

Ayam

Ayam

»Ayam« bedeutet auf Malaysisch »Hahn«. Ob Disillusion das im Sinn hatten, als sie ihre neue Platte benannten, ist nicht bekannt. Jedenfalls schießen die Leipziger Progressive- Metaller den sprichwörtlichen Vogel mit der Veröffentlichung ab. Sie treiben die Richtung konsequent weiter, die sie mit ihrem Comeback »The Liberation« vor drei Jahren eingeschlagen haben, statt wie einst mit dem sehr differenten »Gloria« einen Teil der Fans vor den Kopf zu stoßen. Auch »Ayam« zeichnet sich durch zielstrebiges Mäandern in komplexen Kompositionen aus. Schon der Opener »Am Abgrund« überzeugt in seiner Vielschichtigkeit – und das kurzweilige elf Minuten lang. Die Progressive-Lawine wälzt sich unaufhaltsam nach unten, reißt dabei allerlei Death- und Thrash-Metal-Elemente mit, bevor sie epischer wird und an Geschwindigkeit verliert. Nur, um dann wieder Tempo aufzunehmen. Schon dieser erste Song sichert einen Beifallssturm. Der Rest der Platte steht aber nicht dahinter zurück. Dominiert anfangs noch der Klargesang, so reichert Sänger Andy Schmidt die Vokal-Ebene später mit finstererem Growling an. Fröhlich geht anders. Bei aller mittleren Härte und tobenden Ausbrüchen, die »Ayam« mitbringt, sticht vor allem der von Disillusion gewohnte melancholische Touch besonders heraus. Wie ließe sich diese Zeit nicht ohne ein gewisses Maß an Schwermut ertragen? Wunderbar emotional rauscht diese Musik dahin, legt sich als atmosphärischer Klangteppich wie Balsam auf die geschundene Seele. Eine dunkel-funkelnde Schönheit. Tobias Prüwer

Mellie

Mellie

I Have Ideas, Too

I Have Ideas, Too

In der dritten Staffel der David-Lynch-Serie »Twin Peaks« nimmt das »Roadhouse« (eine Bar, in der in jeder Folge andere Interpreten die Bühne betreten und den Soundtrack zur jeweiligen bizarren Szenerie beisteuern) quasi die Rolle eines handlungstragenden Nebencharakters ein. Was diese Interpreten eint, ist, dass sie mit ihrem individuellen Je ne sais quoi die omnipräsente, düstere Surrealität der Erzählung verstärken. Genau diese Atmosphäre beschwört »Snail«, der Opener auf Mellies Debüt-LP »I Have Ideas, Too«: Zu einer nervösen Stakkato-Saite gesellt sich eine schleppende Gitarrenmelodie, bevor blecherne Drums und dissonanter Gesang – wie aus fremden Sphären – das Zerrbild komplettieren und die volle Aufmerksamkeit der Hörerschaft kassieren. Mellie ordnen sich selbst dem Genre Avant/Rock-Pop zu. Vergleiche mit Sonic Youth scheinen sich also aufzudrängen – würden Mellie aber nicht gerecht. Zum einen wirkt die Produktion der neun Titel auf »I Have Ideas, Too« zwar etwas weniger professionell, aber eben auch weniger bemüht-rotzig als beispielsweise auf Sonic Youths »Goo«. Zum anderen klingt das Verhältnis zwischen Vocals und Instrumentals hier eher symbiotisch als konkurrierend. Nach etwa der Hälfte des Albums wird das konzentrierte Lauschen für alle Nicht-Genre-Fans eventuell etwas mühselig, da der Aufbau der Songs stellenweise schablonenhaft anmutet. Mellies Spielfreude und die Kreativität, die sie in diesem durchschnittlich dreieinhalb Minuten spannenden Rahmen auffahren, lassen die meisten Hörenden – besonders nach dem sechsten Track »No, No, No« – sicher dennoch mit viel Lust auf einen Live-Gig der Band zurück. Laura Gerlach

Special Interest

Special Interest

Endure

Endure

Punk atmet das dritte Album von Special Interest in jedem Moment. »Endure« strotzt vor DIY und Kampfansagen an Diskriminierung und Ungleichheit. Die Verpackung hat aber so viel mehr Soul, ist mehr The Specials (ja, nicht nur wegen der Namensähnlichkeit) als The Slits, mehr NWA als The Damned. Schon auf den ersten beiden Alben wurde deutlich, wo die Wurzeln des Quartetts liegen – im Black-Conscious-Soul aus New Orleans. Wer das nicht gleich gehört hat, dem wurde es als Nina-Simone-Sample auf dem silbernen Tablett serviert. Und auf »Endure« zeigen es die Kollaboration mit der Rapperin Mykki Blanco oder auch der Verweis auf den Menschenrechtsaktivisten Herman Wallace im Song »(Herman’s) House«. So einzigartig jede der elf Geschichten in Song-Form ist, so einzigartig und vielseitig ist auch ihre musikalische Umsetzung: Ja, da ist der 3-Akkorde-Punk. Der geht aber über in Soul-Grooves. Über die Gitarre von Marina Elena rappt Mykki Blanco oder faucht auch mal Alli Logout. Und um noch mal klar zu sagen, was sie dabei für Ansagen macht, die Single »Foul« bringt es in wenigen Gegenüberstellungen auf den Punkt: »If it’s not my back – It’s my head / If not my head – It’s my heart / Short staffed – Overworked Sleep deprived – It’s an art / God, I need a cigarette but knowing it’s against the law«. Mit dieser Haltung ist »Endure« ein revolutionäres und rundum beeindruckendes Album. Kerstin Petermann