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Rezensionen

The Whale

The Whale

USA 2022, R: Darren Aronofsky, D: Brendan Fraser, Sadie Sink, Ty Simpkins, 117 min

Er wirkt unbeholfen, als wüsste er selbst nicht so genau, wie es so weit kommen konnte. Aber Charlie hat sich dabei zugesehen, wie er versuchte, seine Trauer mit Essen zu stillen. Jetzt steckt er fest, in einem Appartement, das er nur noch mit einer Gehhilfe durchqueren kann. Dort sitzt er und wartet auf seinen Tod. Die Einzige, die ihn noch am Leben hält, ist seine Freundin Liz, die regelmäßig nach ihm schaut. Und eigentlich hat Charlie auch eine Tochter im Teenageralter, Ellie, nach der er die Hand ausstreckt. Dann ist da noch der Missionar Thomas, der unbeholfen in die Szenerie stolpert und sich in den Kopf gesetzt hat, Charlie zu helfen. Diese Anordnung von Personen zeugt davon, dass »The Whale« seinen Ursprung im Theater hat. Samuel D. Hunter adaptierte hier sein gefeiertes Bühnenstück unter der Regie von Darren Aronofsky (»Black Swan«). Im Mittelpunkt steht die überragende schauspielerische Präsenz von Brendan Fraser, über dessen Comeback schon viel geredet wurde. Seinen Oscar hat er ebenso verdient wie Adrien Morot, Judy Chin und Annemarie Bradley-Sherron, die für das Make-up verantwortlich zeichneten. Drehbuch und Inszenierung kommen da nicht ganz auf Augenhöhe, weil Hunter und Aronofsky ein um das andere Mal emotional zu dick auftragen. Das ändert aber nichts daran, dass Charlie sein Herz am rechten Fleck trägt und »The Whale« ein sehenswertes Plädoyer für Menschlichkeit ist. Lars Tunçay

Sparta

Sparta

AU/D/F 2022, R: Ulrich Seidl, D: Georg Friedrich, Florentina Elena Pop, Hans-Michael Rehberg, 99 min

Eigentlich wollte Ulrich Seidl die Geschichte der Brüder Richie und Ewald in einem Film erzählen. Aus »Böse Spiele« sind nun zwei Geschichten geworden, die ihren Ausgangspunkt im Heim haben, wo der demente Nazi-Vater vor sich hindämmert. Während wir allerdings in »Rimini« dem gescheiterten Schlagersänger Richie Bravo dabei zusahen, wie er in Italien von seiner Vergangenheit eingeholt wird, weicht der tragikomische Ton bei »Sparta« vollends der Seidlschen Tristesse. Wie Richie hat auch Ewald die Heimat verlassen und sucht in Rumänien sein Glück. Augenscheinlich hat er es in Aurica gefunden, doch während sie von der Heirat träumt, tobt Ewald lieber auf dem Bett mit ihren Cousins. Seine sexuelle Insuffizienz offenbart endgültig, dass Ewald seine wahren Gefühle unterdrückt. Er verlässt Aurica und reist in die rumänische Provinz. Dort findet er ein leerstehendes Schulhaus und bietet Judotraining für Kinder an. Während die Kids froh sind, aus dem oftmals von Gewalt und Alkohol geprägten Elternhäusern auszubrechen, nutzt Ewald die Intimität, um seiner Neigung nachzugehen, ohne ihr jedoch vollends nachzugeben. Der moralische Grat, auf dem Seidl hier wandelt, ist dünn. In der Folge gab es Vorwürfe im Spiegel, Kinder seien beim Dreh unangemessen behandelt worden, die der Regisseur und sein Team abwiesen. Auch abseits dessen ist »Sparta« ein ambivalenter Film, der Seidl-typisch dorthin geht, wo es weh tut, zumal Georg Friedrich den zwiespältigen Charakter schmerzhaft eindringlich verkörpert. Lars Tunçay

Die Linie

Die Linie

F/CH/B 2022, R: Ursula Meier, D: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, 103 min

Die Filme von Ursula Meier (»Winterdieb«) setzen sich immer wieder mit dysfunktionalen Familien auseinander. Auch das Verhältnis zwischen Margaret und ihrer alleinerziehenden Mutter Christina ist gestört. Das wird gleich zu Beginn in einer vierminütigen Eröffnungssequenz überdeutlich. In der erleben wir in Zeitlupe, wie die rasende Tochter die familiäre Wohnung zerlegt und schließlich ihre Mutter niederschlägt, bevor sie gewaltsam aus dem Haus geworfen wird. Die Mutter, eine selbstverliebte Pianistin, ist fortan auf einem Ohr taub, die Tochter ohne Wohnsitz. Sie wird dazu verurteilt, dem Elternhaus auf 100 Meter fernzubleiben. Immer wieder nähert sie sich jedoch, bis die jüngere Schwester Marion schließlich eine Linie um das Haus zieht, an der Margaret Tage und Nächte verbringt. Die kleine Marion hat am meisten unter den Spannungen zu leiden, während die mittlere Schwester Louise mit ihrer Schwangerschaft beschäftigt ist. Das Leiden der Mutter und ihre passive Aggressivität zersetzen das familiäre Gefüge. Das ist anstrengend gut gespielt von Valeria Bruni Tedeschi. Auch ohne zeitliche Rückgriffe begreift man die Dynamiken, die zu diesem Punkt geführt haben. Margarets Wunsch nach Nähe und der Impuls zur Flucht sorgen für die realistische Reibung in diesem Familienporträt. Regisseurin Ursula Meier sucht nach einem Mittelweg, aber ist der bei allem gegenseitig zugefügte Schmerz überhaupt möglich? Lars Tunçay

Die Gewerkschafterin

Die Gewerkschafterin

F/D 2022, R: Jean-Paul Salomé, D: Isabelle Huppert, Gregory Gadebois, Yvan Attal, 122 min

Maureen Kearney ist Personalrätin im französischen Industriekonzern Areva und tritt dort vehement für die Rechte der Beschäftigten ein. Immer wieder bekommt sie dabei Macht und Machenschaften einer überwiegend von Männern dominierten Geschäftswelt zu spüren. Ein Whistleblower steckt der Gewerkschafterin eines Tages, dass ihre auf Atomanlagen spezialisierte Firma insgeheim einen Deal mit China verhandelt, durch den viele ihre Arbeit verlieren würden. Als Maureen dagegen vorgeht, spitzt sich die Situation dramatisch zu: Sie wird, das zeigt die erste Filmszene, in ihrem Haus überfallen und brutal geschändet. Oder hat sie all das etwa nur inszeniert, um Aufmerksamkeit zu erregen, wie die Polizei ihr bald unterstellt? Die Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten aus dem Jahr 2012 und die Protagonistin Maureen Kearney gibt es tatsächlich. Gespielt wird sie von der brillanten Isabelle Huppert, an deren Leistung es wie gewohnt nichts zu beanstanden gibt. Anders verhält sich das beim Drehbuch von Regisseur Jean-Paul Salomé. Denn die tonangebenden Handlungsstränge um den Überfall und die damit einhergehenden Fragestellungen werden erst lang nach der Eingangsszene wieder aufgegriffen, weil das Publikum vorher einem behäbigen Wirtschaftsthriller beiwohnen muss. Dessen Fäden laufen weitestgehend ins Leere – hier wäre ein anderer Fokus nötig, und, wie so oft, weniger mehr gewesen. Peter Hoch

Der Rhein fließt ins Mittelmeer

Der Rhein fließt ins Mittelmeer

ISR 2022, Dok, R: Offer Avnon, 95 min

Zehn Jahre lebt der Filmemacher Offer Avnon in Deutschland, bevor er in seine Heimat Haifa zurückkehrt. In diesem Jahrzehnt kann der Sohn eines polnischen Überlebenden der Shoah die Erlebnisse seines Vaters keinen einzigen Tag vergessen. Und so macht er sich auf die Suche nach versteckten Erinnerungen, sucht den Dialog, stellt Fragen, hört zu und beobachtet. In seinem Dokumentarfilm »Der Rhein fließt ins Mittelmeer« spricht Avnon mit Überlebenden und Angehörigen, mit Schuldbewussten, Gleichgültigen, mit feindlich und versöhnlich Gestimmten in Deutschland, Polen und Israel. In den fragmentarisch aneinander gereihten Dialogen ergründet der Film Verdrängungsmechanismen, Verständigungsversuche und bleibende Traumata. Welchen Dialog können Angehörige von Opfern und Tätern miteinander führen? Worum geht es bei der kollektiven Schuld? Wie weit soll sie gehen? Jede Antwort wirft weitere Fragen auf. Dazwischen sind Orte zu sehen, die die Geschichten dieser Zeit in ihre DNA eingeschrieben haben, ohne explizite Erinnerungsstätten wie Konzentrationslager oder Ghettos zu sein. Man sieht Aufnahmen von Bahnhofshallen, Gleisen, einem jüdischem Friedhof in Warschau in Form eines Waldes, verlassenen Orte – und immer wieder den stoisch vor sich hin fließenden Rhein. »Der Rhein fließt ins Mittelmeer« ist ein wichtiges Zeugnis einer verblassenden Zeit, doch die Suche nach den versteckten Erinnerungen abschließen, das kann er nicht. SARAH NÄGELE

Das Lehrerzimmer

Das Lehrerzimmer

D 2023, R: İlker Çatak, D: Leonie Benesch, Anne-Kathrin Gummich, Michael Klammer, 98 min

Für Carla Nowak ist der Beruf der Lehrerin eine Berufung. Morgens gestaltet sie liebevoll den Unterricht ihrer siebten Klasse. Abends ist sie oft die Letzte im Lehrerzimmer und korrigiert noch Arbeiten. Aber die Stimmung an ihrer Schule ist vergiftet. Jemand klaut und verdächtigt werden die Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse. Um ihre »Zero Tolerance«-Taktik durchzusetzen, lässt Schulleiterin Bettina Böhm die Schülersprecher der Klasse verhören und die Portemonnaies der Kinder filzen, was Carla hilflos mitansehen muss. Schlimmer ist allerdings, dass sich innerhalb der Klasse Gerüchte verbreiten wie ein Lauffeuer. Als es zu einem Zwischenfall kommt, der ein anderes Licht auf den Fall wirft, beschließt Carla, die Schulleitung einzuschalten. Dieser Schritt setzt eine Ereigniskette in Gang, die die Klassenlehrerin schon bald nicht mehr unter Kontrolle hat. Sehr genau beobachtet Regisseur İlker Çatak (»Es gilt das gesprochene Wort«) die Strukturen an einer durchschnittlichen deutschen Schule. Der Schmelztiegel der Befindlichkeiten ist ebenfalls ein Spiegel unserer Gesellschaft. Auch wenn die Situation hier und da ein wenig zugespitzt wirkt, findet sich doch jede und jeder mit Kindern im schulfähigen Alter in Çataks ernüchternder Analyse wieder. Clever und pointiert hinterfragt das Drehbuch, das Çatak gemeinsam mit Johannes Duncker verfasste, auf kritische Weise unsere aktuelle Debattenkultur und entfacht eine grundlegende Diskussion um Wahrheit und Gerechtigkeit. Lars Tunçay

Beau Is Afraid

Beau Is Afraid

USA 2023, R: Ari Aster, D: Joaquin Phoenix, Nathan Lane, Amy Ryan, 178 min

Die Sitzungen beim Psychiater scheinen Beau nicht viel zu bringen. Liegen seine dauernde Nervosität und seine eskalierende Paranoia wirklich nur in einem Schuldgefühl seiner dominanten Mutter gegenüber begründet? Die ersten fünf Minuten von »Beau is afraid« sind gleichzeitig die letzten, die in einer halbwegs wiedererkennbaren Realität stattfinden. Danach stürzt sich der Film mit Wollust in eine surrealistische Parallelwelt, die zu gleichen Teilen lustig und verstörend ist; ein impulsiver Psychotrip wie in die Gehirnwindungen eines Nervenpatienten. Für Regisseur Ari Aster, der zuvor mit den Horrorfilmen »Hereditary« und »Midsommar« auf sich aufmerksam machte, ist es ein Kopfsprung ins Reich der Neurosen – und der eigenen Eitelkeiten. Nach etwa der Hälfte des überlangen Streifens beginnen die visuellen Tricks und der Dauerbeschuss mit absurden Szenen die Geduld zu strapazieren. Was als schwarzhumorige Groteske beginnt, verkommt nach und nach zu einer anstrengenden Nabelschau, bei der eine psychosexuelle Mutterfixierung unangenehm in den Vordergrund rückt. »Beau is afraid« wächst irgendwo zwischen Selbstentblößung und Selbsttherapie ins Monumentale, ins Monströse, und vermutlich auch ins allzu Private. Mit Alfred Hitchcock beginnt man zu ahnen: Regisseure können sich offenbar den Gang zum Psychiater sparen. Sie legen sich einfach vor ihrem Kinopublikum auf die Couch. Lars Tunçay

All The Beauty And The Bloodshed

All The Beauty And The Bloodshed

USA 2022, Dok, R: Laura Poitras, 117 min

Eine Aktivistengruppe wirft sich im Sackler-Flügel des Metropolitan Museum of Art in New York auf den Boden und übersät diesen mit leeren Pillendosen für Schmerzmittel. Mitten unter ihnen: die Fotografin Nan Goldin. Selbst einige Zeit opiatabhängig, nutzt die angesehene Künstlerin seit Jahren ihren Einfluss, um den Namen der Mäzen-Familie Sackler weltweit aus den Museen zu verbannen. Denn die Inhaberfamilie eines Pharmaziehunternehmens sei mitschuldig am Tod hunderttausender Menschen, die von ihren Schmerzmitteln abhängig wurden. Laura Poitras hat das Leben Goldins über Jahre hinweg mit der Kamera begleitet, Besprechungen und Aktionen ihrer Gruppe P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now) eingefangen und die Fotografin, die Ende der Siebziger durch ihre Alltagsfotos aus dem New Yorker Underground bekannt wurde, zu ihrem Werdegang befragt. Sie legt dabei offen, dass der Ursprung zu Goldins rebellischem Verhalten bereits in deren Kindheit liegt, als ihre ältere, missverstandene Schwester in den Selbstmord getrieben wurde. Seitdem hat sich die Künstlerin immer wieder gegen Ungerechtigkeiten und Stigmatisierungen eingesetzt, beispielsweise durch psychische Störungen, Drogenkonsum, Homosexualität oder Prostitution. Die Filmemacherin kommt ihrer Protagonistin dabei ungewöhnlich nahe und kann deren zutiefst humanitäre Weltsicht eindringlich vermitteln. Frank Brenner

Die Kairo-Verschwörung

Die Kairo-Verschwörung

SW/F/FIN/DK 2022, R: Tarik Saleh, D: Tawfeek Barhom, Fares Fares, Mohammad Bakri, 126 min

Adam wächst als Sohn eines einfachen Fischers in der ägyptischen Provinz heran. Doch es zieht ihn weg von dem strengen, gottesfürchtigen Zuhause. Als er ein Stipendium für die al-Azhar-Universität in Kairo erhält, sieht er seine Gelegenheit gekommen. Fasziniert und überfordert durchstreift er den Campus und versucht, die komplexen Strukturen im Machtzentrum des sunnitischen Islam zu durchschauen. Sein Kommilitone Zizo zeigt ihm die Welt außerhalb der altehrwürdigen Mauern. Doch als Adam mit ansieht, wie Zizo brutal ermordet wird, gerät der junge Student zwischen die Fronten eines Machtkampfs. Der Groß-Imam ist tot, ein neues religiöses Oberhaupt soll gewählt werden und jede Partei versucht die Wahl zu beeinflussen. Die Strukturen aus Regierung und religiösen Führern in Ägypten sind komplex und wirken im ersten Moment überfordernd. Durch die Augen des Protagonisten wird aber auch das Publikum mit fortschreitender Lauflänge des Films hineingezogen. Hauptdarsteller Tawfeek Barhom bietet dabei eine willkommene Projektionsfläche für uns. Seine Perspektive erinnert an die des jungen Novizen in Umberto Ecos »Der Name der Rose«, eingangs unbedarft und unschuldig, aber am Ende erwachsen. Die dichte Inszenierung des schwedischen Regisseurs Tarik Saleh (»Die Nile-Hilton-Affäre«) macht den Gewinner des Drehbuchpreises in Cannes zu einem spannenden und außergewöhnlichen Politthriller. Lars Tunçay

Infinity Pool

Infinity Pool

CDN/F/HUN 2022, R: Brandon Cronenberg, D: Alexander Skarsgård, Mia Goth, Adam Boncz, 117 min

Dass Brandon Cronenberg Sohn der Horror-Legende David Cronenberg ist, war bereits bei seinem Erstling »Possessor« spürbar. War das Debüt noch subtil und doppelbödig mit gelegentlichen Schockmomenten, ist sein neuer Film nun ein Angriff auf alle Sinne und die Mägen des Publikums. Dabei beginnt alles noch recht situiert und gediegen: Der Autor James Foster hat vor Jahren einen mittelprächtigen Roman geschrieben und wartet seitdem auf eine Eingebung für den Nachfolger. Solange lässt er sich von seiner reichen Frau Em aushalten. Zur Inspiration reist er mit ihr in ein Urlaubsresort auf der (fiktiven) Insel La Tolqa. Das vermeintliche Ferienparadies ist ein abgeriegelter Hochsicherheitstrakt der langweiligen Glückseligkeit, das Verlassen der Mauern strikt verboten. Als sie das Paar Gabi und Alban kennenlernen, hält es James und Em jedoch nicht lange auf den Liegestühlen. Auf dem Rückweg von der Spritztour überfährt der angetrunkene James in der Dunkelheit einen Bauern und landet in einer Zelle. Der Polizist Thresh offenbart ihm, dass es auf der Insel Tradition ist, ein Leben für ein Leben zu bezahlen. James könne sich allerdings freikaufen und ein eigens dafür geschaffener Klon übernimmt seine Strafe. Mit dem moralischen Grenzübertritt beginnt eine Spirale, die tief in die Abgründe der menschlichen Natur führt und dank Cronenberg-DNA in einem Strudel aus Blut, Schweiß und Sperma endet. Hauptdarsteller Alexander Skarsgård lotet dabei (mal wieder) furchtlos alle schauspielerischen Limits aus. Lars Tunçay

Suzume

Suzume

J 2022, R: Makoto Shinkai, 122 min

In Japan wird gerade über die Thronfolge entschieden. Der 82-jährige Großmeister der Animation, Hayao Miyazaki, nimmt seinen Hut und wird mit »How do you live?« im Juli seinen letzten Film veröffentlichen. Vor allem Makoto Shinkai (»Your Name«) hat sich in den letzten Jahren darangemacht, das Erbe anzutreten. Mit seinem neuen Werk legt er nun eine tiefe Verneigung vor Miyazaki-San hin. So ist es sicherlich nicht nur der geografischen Lage im tiefsten Südosten der japanischen Insel geschuldet, dass die Reise von Suzume in einer kleinen Stadt in der Präfektur Miyazaki beginnt. Hier trifft das 17-jährige Mädchen auf den mysteriösen Sota, der sie in ein irrwitziges Abenteuer hineinzieht, das sie quer durchs Land führen wird. Auch das verheerende Erdbeben von 2011 spielt eine nicht unwesentliche Rolle bei der Inspiration zur Geschichte. »Suzume« feierte seine Premiere im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale. Vor 20 Jahren gewann dort »Chihiros Reise« den Goldenen Bären und im Anschluss den Oscar. Eine große Ehre also, dessen ist sich Makoto Shinkai bewusst. Die Zitate aus Klassikern wie »Kikis kleiner Lieferservice« oder »Das wandelnde Schloss« sind unübersehbar. Trotzdem ist »Suzume« alles andere als ein Abklatsch. Shinkai lässt seine eigene Fantasie von der Leine und nimmt sich die Stärken der Ghibli-Produktionen zum Vorbild. Das geht auf: »Suzume« wurde in seiner Heimat zum Hit und wird auch hierzulande die Japan-Fans begeistern. Lars Tunçay

Roter Himmel

Roter Himmel

D 2023, R: Christian Petzold, D: Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel, 102 min

Der Wald, der Sommer, ein alter Mercedes. Zwei Menschen treiben dahin, raus aus der Zivilisation, hinein in die Abgeschiedenheit. Sie sind schon ein ziemlich seltsames Paar: Leon und Felix haben völlig ungleiche Anforderungen an das Leben. Während Felix den Sommer genießen und vor allem am Strand abhängen will, um sich Inspiration für seine Fotoarbeit zu suchen, steht Leon unter Druck. Der junge Autor hat gerade sein Manuskript fertiggestellt. In ein paar Tagen kommt der Lektor vom Verlag, um mit ihm darüber zu reden. Doch als die beiden an dem kleinen Haus auf der Lichtung ankommen, sind sie nicht allein: Nadja teilt die Hütte mit ihnen und vergnügt sich in den Nächten mit Devid, dem »Bademeister«. Noch bevor Leon und Nadja sich das erste Mal begegnen, hat er eine Vorstellung von ihr und lässt sich nur unter Protest von seinen Vorurteilen abbringen. Ein schwieriger Charakter, der sich fast kindisch dagegen wehrt, glücklich zu sein. Für ihn ist es der Sommer an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Der erste Roman ging ihm überraschend leicht von der Hand, doch diese Leichtigkeit ist ihm abhandengekommen. Leon ist festgefahren in seinem Weltbild. Kein anderer deutscher Regisseur vermag es, die Widersprüche der menschlichen Natur so pointiert zu beobachten wie Christian Petzold (»Barbara«). Einnehmend leicht und mühelos breitet er die Figuren vor uns aus. Am Horizont lodern die Flammen in der Hitze des brandenburgischen Sommers und drohen die Welt zu verschlingen. Lars Tunçay

The Ordinaries

The Ordinaries

D 2022, R: Sophie Linnenbaum, D: Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, 120 min

Mit Filmen über Filme oder die Filmbranche ist es oft so eine Sache: Die Prämisse klingt interessant bis witzig, in der Ausführung bleibt der Esprit aber oft auf der Strecke, es wird viel zu speziell oder alles zur Selbstbeweihräucherung. Aus Deutschland stammen ohnehin nur wenige Vertreter zum Thema, was es umso erfreulicher macht, dass Regisseurin Sophie Linnenbaum gleich mit ihrem Debütwerk einen der wohl originellsten, schönsten und besten Genre-Einträge überhaupt abgeliefert hat. Ihr »The Ordinaries« spielt dabei in einer fiktiven, streng hierarchisch strukturierten Welt, in der Filmcharaktere in drei verschiedene Klassen – Hauptfiguren, Nebenfiguren und Outtakes – hineingeboren werden. Einer davon ist die 16-jährige Paula Feinmann, die an der Hauptfigurenschule in Fächern wie »Panisches Schreien« und »Cliffhanging« unterrichtet wird. In der Königsdisziplin »Monolog mit emotionaler Musik« will es bei ihr aber nicht so recht klappen. Auf der Suche nach Inspiration möchte sie mehr über ihren verstorbenen Vater herausfinden, ein Vorhaben, das ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Linnenbaum nimmt ihre Grundidee und ihre Figuren ernst und schafft das Spagat-Kunststück, parallel zu einer dystopischen Gesellschaftsparabel eine einfühlsame und humorvolle Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, von der normalsterbliche Zuschauerinnen und Zuschauer ebenso abgeholt werden wie leidenschaftliche Cineasten. Peter Hoch

Victim

Victim

SK/CZ/D 2022, R: Michal Blaško, D: Vita Smachelyuk, Elizaveta Maximová, Gleb Kuchuk, 91 min

Irinas Leben steht kopf. Während die alleinerziehende Ukrainerin alles tut, um einen tschechischen Pass zu erlangen, wird eines Tages ihr Sohn Igor bewusstlos im Treppenhaus aufgefunden. Schnell eilt Irina an sein Krankenhausbett, wo die Polizei sie schon erwartet. Der Fall scheint klar: Igor wurde zusammengeschlagen. Von Roma vermutlich, mit denen die Familie im selben tristen Hochhausblock am Stadtrand lebt. Ein Eklat, den sich die örtlichen Neonazis gerne zunutze machen möchten. Sie organisieren eine Demonstration, fordern von Irina, dort aufzutreten. 
In realistischen, das heißt in diesem Fall überwiegend grauen Bildern und ohne Musik zeigt Regisseur Michal Blaško, wie der tschechische Alltag für jene aussieht, die ganz außen stehen. In respektvoller Distanz folgt die Kamera Irina bei ihrem Versuch, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften den richtigen Weg für sich und ihren Sohn zu finden. Das ist packend erzählt und trotz der unspektakulären Schauplätze und Dialoge gerade in seiner Schlichtheit fesselnder als so mancher moderne Thriller. Der Film schafft das Kunststück, nicht zu langweilen und gleichzeitig gesellschaftskritisch zu sein. Und seine Themen reichen weit über Tschechien hinaus: Wie gehen wir mit denen um, die im Abseits stehen? – »Victim« findet darauf seine eigenen, mitunter erschütternden Antworten. Josef Braun

Der Gymnasiast

Der Gymnasiast

F 2022, R: Christophe Honoré, D: Paul Kircher, Juliette Binoche, Vincent Lacoste, 122 min

Christophe Honoré (»Sorry Angel«), derzeit einer der spannendsten (queeren) französischen Regisseure, hat im Alter von 15 Jahren seinen Vater verloren und das schon mehrfach filmisch thematisiert. So auch in seinem neuesten Film »Der Gymnasiast«, in dem der Vater (Honoré selbst in einem Kurzauftritt) von Lucas bei einem Autounfall ums Leben kommt. Um auf andere Gedanken zu kommen, soll der 17-Jährige einige Tage bei seinem älteren Bruder in Paris verbringen. Lucas war in seinem kleinen Dorf bereits geoutet und hatte einen Freund, doch erst in der Millionenmetropole kann er all seine sexuellen Wünsche ausleben und damit den Schmerz betäuben, den er durch den Verlust des Vaters empfindet. Ähnlich wie François Ozon in »Sommer 85« macht auch Honoré hier von Anfang an keinen Hehl aus der eher tristen Grundstimmung seines Films und nimmt einige dramatische Ereignisse durch Off-Kommentare vorweg. Gleichwohl ist dem Filmemacher auch hier wieder ein aufrichtiger und nachvollziehbarer Film über eine schwule Selbstfindung geglückt. Der ideal gecastete, charmante Newcomer Paul Kircher erhält genügend Raum zur Entfaltung und scheut dabei auch vor ziemlich erotisch inszenierten Sexszenen und jeder Menge nackter Haut nicht zurück. Ein sensibles und zärtlich-poetisches Familiendrama, das nach und nach die Verzweiflung des Protagonisten über den Verlust des Vaters deutlich macht. Frank Brenner

Der Fuchs

Der Fuchs

D/AT 2022, R: Adrian Goiginger, D: Simon Morzé, Marko Kerezovic, Joseph Stoisits, 118 min

Vor einhundert Jahren ist in Europa die Wahrscheinlichkeit zu überleben noch deutlich geringer. Großfamilien sorgen für den Fortbestand der Gene. Nicht jedes Familienmitglied schafft es durch die harten Winter. Franz ist der jüngste Sohn eines Bauernpaares in den österreichischen Bergen. Als er völlig entkräftet das Bett hüten muss, trifft sein Vater eine Entscheidung: Er gibt den Jungen fort, an einen Großbauern unten im Tal. Nach einem traumatischen Abschied wächst Franz als Knecht des neuen Herren auf. Als er volljährig ist, lässt er den Hof hinter sich. Es ist das Jahr 1937. Das Heer braucht Soldaten. So heuert er an und fährt als Motorradkurier an die Fronten des Zweiten Weltkriegs. Sein einziger Halt ist ein junger Fuchs, den er im Wald aufliest. Ein Jahr lang begleitet er ihn, versteckt im Inneren des Mantels oder in der Motorradtasche. Das Tier wird zum einzigen Freund des stillen Gefreiten. Dieser Soldat war der Urgroßvater des Regisseurs Adrian Goiginger. Als Adrian 15 war, erzählte der ihm von seinem ungewöhnlichen Begleiter. Der Regisseur machte daraus einen berührenden Film darüber, wie ein Soldat verzweifelt versucht, sich ein Stück Menschlichkeit zu bewahren. Blickt man in die Augen seiner Wegbegleiter, sieht man ebenso verängstigte Kinder, die wie er in diesen Konflikt geworfen wurden. Ein kraftvolles Plädoyer für Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten, einnehmend verkörpert von Hauptdarsteller Simon Morzé (»Der Trafikant«). Lars Tunçay

Alle wollen geliebt werden

Alle wollen geliebt werden

D 2022, R: Katharina Woll, D: Anne Ratte-Polle, Lea Drinda, Jonas Hien, 84 min

Mitten im drückend heißen Berliner Sommer merkt Psychotherapeutin Ina, dass etwas nicht stimmt. Dauernd dieses Unwohlsein, dauernd dieser Schwindel. Doch sie hat keine Zeit, sich um sich selbst zu kümmern, schließlich haben alle anderen auch Probleme. Und die soll nun einmal sie lösen. Die neurotische Mutter Tamara wird 70 und fordert ungeteilte Aufmerksamkeit für ein Gartenfest, Inas Freund Reto will heiraten und gemeinsam nach Finnland auswandern, ihre Teenagertochter Elli will das nun überhaupt nicht. Und auch berufsbedingt läuft nicht alles rund. Regisseurin Katharina Woll begleitet in ihrem Langfilmdebüt »Alle wollen geliebt werden« einen Tag im Leben der Protagonistin, an dem klar wird: In Inas Leben ist kein Platz für sie selbst. Dass alle anderen so anstrengend sind, ist dabei auch selbst verschuldet. Während man der Therapeutin nur zuschreien möchte: »Lerne Grenzen zu setzen!«, sperrt sich diese im mütterlichen Badezimmer ein, um endlich den wichtigen Arztbrief zwischen Sektausschank und Gesangsdarbietung zu überfliegen. Immerhin bringt der einen Wendepunkt. Und kaum gönnt sich Ina nur ein bisschen von dem Egoismus, in dem die meisten Menschen um sie herum scheinbar gebadet haben, drückt die Hitze gar nicht mehr so. Berlin im Sommer ist eigentlich ganz schön. SARAH NÄGELE

Return to Dust

Return to Dust

CHN 2022, R: Li Ruijun, D: Renlin Wu, Hai-Qing, 131 min

Die Zeit ist ungewiss in der kargen Provinz Gaotai im Nordwesten Chinas, unweit der Wüste Gobi. Es könnte ein Tag vor etlichen Jahrhunderten sein oder ein Moment im Heute. Armut kennt keinen Fortschritt. Fernab der Metropolen Shanghai und Peking leben die mittellosen Bauersfamilien seit Generationen mit dem wenigen, was die Erde ihnen gibt. So auch die Familie von Ma. Er, der vierte Bruder, soll eine Frau finden und wird verheiratet mit Guiyang, die von den Schlägen ihrer Brüder gelähmt und inkontinent ist. Gemeinsam bauen sie sich in harter Arbeit ein einfaches Leben auf, das auch Momente des Glücks bereithält, wenn sie mit ihrem Esel in das selbst gebaute Haus ziehen, den Weizen ernten oder ihre Hühner großziehen. Doch die Regierung treibt den Fortschritt unaufhaltsam voran und bald werden auch die Bauern von ihrem Land verdrängt. Ehrlich und einfühlsam erzählt Regisseur Li Ruiyun sein Drama und legt dabei wenig Wert auf Sentimentalitäten. Gedreht hat er es vornehmlich mit den lokalen Familien in seinem Heimatort. Sein Film hat ein Herz für die einfachen Leute und ihr entbehrungsreiches Leben. Behutsam erzählt und in starke Bilder gefasst zeigt er eine mitreißende Geschichte einer schwindenden Welt, die in seiner Heimat unerzählt bleibt. Dort wurde »Return to Dust« kurz nach der Veröffentlichung aus dem Programm aller Streaming-Anbieter gestrichen. LARS TUNÇAY

Lars Eidinger – Sein oder nicht sein

Lars Eidinger – Sein oder nicht sein

D 2022, Dok, R: Reiner Holzemer, 92 min

Viel wurde bereits erzählt über die Ambivalenz des Schauspieler- und Schauspielerinnendaseins. In einem Moment im Rampenlicht auf der Bühne oder im Fokus der Kamera zu stehen und eine Figur zu verkörpern, im nächsten Moment als Privatmensch im Supermarkt zu stehen oder sich durch die Welt der sozialen Medien zu bewegen – immer wieder reiben sich diese Welten und jeder Fehltritt wird gierig von der Schmierpresse aufgesogen. Auch Lars Eidinger hat vor einigen Jahren Öffentlichkeit und Bühne verwechselt und sich mit einer Luxustasche im Design einer ALDI-Tüte vor dem Lager eines Obdachlosen ablichten lassen. Offensichtlich wollte er damit irgendein Statement setzen. Den meisten Pressevertretern war das egal: Die Aktion sorgte für einen Shitstorm und ein angeknackstes Ego des Schauspielers. Man kann von ihm halten, was man will – aber Eidinger ist nicht nur einer der schillerndsten Künstler Deutschlands mit Auftritten in Deichkind-Videos und exaltierten DJ-Sets, er ist auch einer der begnadetsten Schauspieler unserer Zeit. Schauspielerinnen wie Juliette Binoche oder Isabelle Huppert sind fasziniert von seiner Präsenz. Seine Interpretationen von Hamlet oder dem Jedermann werden gefeiert. Der Dokumentarfilmregisseur Reiner Holzemer zeigt Eidinger in Nahaufnahme. Auch wenn er Persönliches nahezu komplett ausklammert, ist sein Film eine intime Auseinandersetzung mit der Kunst des Schauspiels und das faszinierende Porträt eines Vollblutschauspielers. LARS TUNÇAY

Broker – Familie gesucht

Broker – Familie gesucht

KOR 2021, R: Hirokazu Kore-eda, D: Song Kang-Ho, Dong-won Gang, Doona Bae, 129 min

Was definiert Familie? Ist es das Blut, sind es die Gene oder kann auch eine Schicksalsgemeinschaft einsamer Charaktere Familie bedeuten? Hirokazu Koreedas »Shoplifters« beantwortete diese Frage vor fünf Jahren mit viel Herz für die Außenseiter. Die berührende Geschichte einer Gruppe von Menschen am Rande der Gesellschaft erwärmte die Herzen der Jury in Cannes, wo der Film die Goldene Palme gewann, und die des Kinopublikums weltweit. Auch in seinem neuen Film »Broker« bleibt die Frage nach Recht und Moral Auslegungssache. Die Geschichte hat darüber hinaus noch einige andere Parallelen zu »Shoplifters«. Auch hier finden die Figuren ein Zuhause in der Gemeinschaft: Der Wäschereibetreiber Sang-hyeon und sein Freund Dong-soo betreiben ein lukratives Nebengeschäft: Sie stehlen die Babys aus der Klappe, um sie reichen, kinderlosen Paaren zu vermitteln. So landet auch der Sohn der Prostituierten So-young bei den Brokern. Als die junge Frau sich schließlich auf die Suche nach ihrem Sohn macht, durchschaut sie das abgekartete Spiel – und verlangt ihren Anteil. So beginnt ein Roadtrip zu dritt durch Südkorea auf der Suche nach zahlungswilligen Klientinnen und Klienten. Die Motivation der Delinquenten ist dabei ebenso nachvollziehbar wie die der Polizeibeamten, die ihnen auf den Fersen sind. Kore-eda baut Sympathien für alle seine Figuren auf. Das macht eine Antwort auf die Frage nach Recht und Moral am Ende nur schwerer. LARS TUNÇAY