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Rezensionen

The Ordinaries

The Ordinaries

D 2022, R: Sophie Linnenbaum, D: Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, 120 min

Mit Filmen über Filme oder die Filmbranche ist es oft so eine Sache: Die Prämisse klingt interessant bis witzig, in der Ausführung bleibt der Esprit aber oft auf der Strecke, es wird viel zu speziell oder alles zur Selbstbeweihräucherung. Aus Deutschland stammen ohnehin nur wenige Vertreter zum Thema, was es umso erfreulicher macht, dass Regisseurin Sophie Linnenbaum gleich mit ihrem Debütwerk einen der wohl originellsten, schönsten und besten Genre-Einträge überhaupt abgeliefert hat. Ihr »The Ordinaries« spielt dabei in einer fiktiven, streng hierarchisch strukturierten Welt, in der Filmcharaktere in drei verschiedene Klassen – Hauptfiguren, Nebenfiguren und Outtakes – hineingeboren werden. Einer davon ist die 16-jährige Paula Feinmann, die an der Hauptfigurenschule in Fächern wie »Panisches Schreien« und »Cliffhanging« unterrichtet wird. In der Königsdisziplin »Monolog mit emotionaler Musik« will es bei ihr aber nicht so recht klappen. Auf der Suche nach Inspiration möchte sie mehr über ihren verstorbenen Vater herausfinden, ein Vorhaben, das ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Linnenbaum nimmt ihre Grundidee und ihre Figuren ernst und schafft das Spagat-Kunststück, parallel zu einer dystopischen Gesellschaftsparabel eine einfühlsame und humorvolle Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, von der normalsterbliche Zuschauerinnen und Zuschauer ebenso abgeholt werden wie leidenschaftliche Cineasten. Peter Hoch

Victim

Victim

SK/CZ/D 2022, R: Michal Blaško, D: Vita Smachelyuk, Elizaveta Maximová, Gleb Kuchuk, 91 min

Irinas Leben steht kopf. Während die alleinerziehende Ukrainerin alles tut, um einen tschechischen Pass zu erlangen, wird eines Tages ihr Sohn Igor bewusstlos im Treppenhaus aufgefunden. Schnell eilt Irina an sein Krankenhausbett, wo die Polizei sie schon erwartet. Der Fall scheint klar: Igor wurde zusammengeschlagen. Von Roma vermutlich, mit denen die Familie im selben tristen Hochhausblock am Stadtrand lebt. Ein Eklat, den sich die örtlichen Neonazis gerne zunutze machen möchten. Sie organisieren eine Demonstration, fordern von Irina, dort aufzutreten. 
In realistischen, das heißt in diesem Fall überwiegend grauen Bildern und ohne Musik zeigt Regisseur Michal Blaško, wie der tschechische Alltag für jene aussieht, die ganz außen stehen. In respektvoller Distanz folgt die Kamera Irina bei ihrem Versuch, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften den richtigen Weg für sich und ihren Sohn zu finden. Das ist packend erzählt und trotz der unspektakulären Schauplätze und Dialoge gerade in seiner Schlichtheit fesselnder als so mancher moderne Thriller. Der Film schafft das Kunststück, nicht zu langweilen und gleichzeitig gesellschaftskritisch zu sein. Und seine Themen reichen weit über Tschechien hinaus: Wie gehen wir mit denen um, die im Abseits stehen? – »Victim« findet darauf seine eigenen, mitunter erschütternden Antworten. Josef Braun

Der Gymnasiast

Der Gymnasiast

F 2022, R: Christophe Honoré, D: Paul Kircher, Juliette Binoche, Vincent Lacoste, 122 min

Christophe Honoré (»Sorry Angel«), derzeit einer der spannendsten (queeren) französischen Regisseure, hat im Alter von 15 Jahren seinen Vater verloren und das schon mehrfach filmisch thematisiert. So auch in seinem neuesten Film »Der Gymnasiast«, in dem der Vater (Honoré selbst in einem Kurzauftritt) von Lucas bei einem Autounfall ums Leben kommt. Um auf andere Gedanken zu kommen, soll der 17-Jährige einige Tage bei seinem älteren Bruder in Paris verbringen. Lucas war in seinem kleinen Dorf bereits geoutet und hatte einen Freund, doch erst in der Millionenmetropole kann er all seine sexuellen Wünsche ausleben und damit den Schmerz betäuben, den er durch den Verlust des Vaters empfindet. Ähnlich wie François Ozon in »Sommer 85« macht auch Honoré hier von Anfang an keinen Hehl aus der eher tristen Grundstimmung seines Films und nimmt einige dramatische Ereignisse durch Off-Kommentare vorweg. Gleichwohl ist dem Filmemacher auch hier wieder ein aufrichtiger und nachvollziehbarer Film über eine schwule Selbstfindung geglückt. Der ideal gecastete, charmante Newcomer Paul Kircher erhält genügend Raum zur Entfaltung und scheut dabei auch vor ziemlich erotisch inszenierten Sexszenen und jeder Menge nackter Haut nicht zurück. Ein sensibles und zärtlich-poetisches Familiendrama, das nach und nach die Verzweiflung des Protagonisten über den Verlust des Vaters deutlich macht. Frank Brenner

Der Fuchs

Der Fuchs

D/AT 2022, R: Adrian Goiginger, D: Simon Morzé, Marko Kerezovic, Joseph Stoisits, 118 min

Vor einhundert Jahren ist in Europa die Wahrscheinlichkeit zu überleben noch deutlich geringer. Großfamilien sorgen für den Fortbestand der Gene. Nicht jedes Familienmitglied schafft es durch die harten Winter. Franz ist der jüngste Sohn eines Bauernpaares in den österreichischen Bergen. Als er völlig entkräftet das Bett hüten muss, trifft sein Vater eine Entscheidung: Er gibt den Jungen fort, an einen Großbauern unten im Tal. Nach einem traumatischen Abschied wächst Franz als Knecht des neuen Herren auf. Als er volljährig ist, lässt er den Hof hinter sich. Es ist das Jahr 1937. Das Heer braucht Soldaten. So heuert er an und fährt als Motorradkurier an die Fronten des Zweiten Weltkriegs. Sein einziger Halt ist ein junger Fuchs, den er im Wald aufliest. Ein Jahr lang begleitet er ihn, versteckt im Inneren des Mantels oder in der Motorradtasche. Das Tier wird zum einzigen Freund des stillen Gefreiten. Dieser Soldat war der Urgroßvater des Regisseurs Adrian Goiginger. Als Adrian 15 war, erzählte der ihm von seinem ungewöhnlichen Begleiter. Der Regisseur machte daraus einen berührenden Film darüber, wie ein Soldat verzweifelt versucht, sich ein Stück Menschlichkeit zu bewahren. Blickt man in die Augen seiner Wegbegleiter, sieht man ebenso verängstigte Kinder, die wie er in diesen Konflikt geworfen wurden. Ein kraftvolles Plädoyer für Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten, einnehmend verkörpert von Hauptdarsteller Simon Morzé (»Der Trafikant«). Lars Tunçay

Alle wollen geliebt werden

Alle wollen geliebt werden

D 2022, R: Katharina Woll, D: Anne Ratte-Polle, Lea Drinda, Jonas Hien, 84 min

Mitten im drückend heißen Berliner Sommer merkt Psychotherapeutin Ina, dass etwas nicht stimmt. Dauernd dieses Unwohlsein, dauernd dieser Schwindel. Doch sie hat keine Zeit, sich um sich selbst zu kümmern, schließlich haben alle anderen auch Probleme. Und die soll nun einmal sie lösen. Die neurotische Mutter Tamara wird 70 und fordert ungeteilte Aufmerksamkeit für ein Gartenfest, Inas Freund Reto will heiraten und gemeinsam nach Finnland auswandern, ihre Teenagertochter Elli will das nun überhaupt nicht. Und auch berufsbedingt läuft nicht alles rund. Regisseurin Katharina Woll begleitet in ihrem Langfilmdebüt »Alle wollen geliebt werden« einen Tag im Leben der Protagonistin, an dem klar wird: In Inas Leben ist kein Platz für sie selbst. Dass alle anderen so anstrengend sind, ist dabei auch selbst verschuldet. Während man der Therapeutin nur zuschreien möchte: »Lerne Grenzen zu setzen!«, sperrt sich diese im mütterlichen Badezimmer ein, um endlich den wichtigen Arztbrief zwischen Sektausschank und Gesangsdarbietung zu überfliegen. Immerhin bringt der einen Wendepunkt. Und kaum gönnt sich Ina nur ein bisschen von dem Egoismus, in dem die meisten Menschen um sie herum scheinbar gebadet haben, drückt die Hitze gar nicht mehr so. Berlin im Sommer ist eigentlich ganz schön. SARAH NÄGELE

Return to Dust

Return to Dust

CHN 2022, R: Li Ruijun, D: Renlin Wu, Hai-Qing, 131 min

Die Zeit ist ungewiss in der kargen Provinz Gaotai im Nordwesten Chinas, unweit der Wüste Gobi. Es könnte ein Tag vor etlichen Jahrhunderten sein oder ein Moment im Heute. Armut kennt keinen Fortschritt. Fernab der Metropolen Shanghai und Peking leben die mittellosen Bauersfamilien seit Generationen mit dem wenigen, was die Erde ihnen gibt. So auch die Familie von Ma. Er, der vierte Bruder, soll eine Frau finden und wird verheiratet mit Guiyang, die von den Schlägen ihrer Brüder gelähmt und inkontinent ist. Gemeinsam bauen sie sich in harter Arbeit ein einfaches Leben auf, das auch Momente des Glücks bereithält, wenn sie mit ihrem Esel in das selbst gebaute Haus ziehen, den Weizen ernten oder ihre Hühner großziehen. Doch die Regierung treibt den Fortschritt unaufhaltsam voran und bald werden auch die Bauern von ihrem Land verdrängt. Ehrlich und einfühlsam erzählt Regisseur Li Ruiyun sein Drama und legt dabei wenig Wert auf Sentimentalitäten. Gedreht hat er es vornehmlich mit den lokalen Familien in seinem Heimatort. Sein Film hat ein Herz für die einfachen Leute und ihr entbehrungsreiches Leben. Behutsam erzählt und in starke Bilder gefasst zeigt er eine mitreißende Geschichte einer schwindenden Welt, die in seiner Heimat unerzählt bleibt. Dort wurde »Return to Dust« kurz nach der Veröffentlichung aus dem Programm aller Streaming-Anbieter gestrichen. LARS TUNÇAY

Lars Eidinger – Sein oder nicht sein

Lars Eidinger – Sein oder nicht sein

D 2022, Dok, R: Reiner Holzemer, 92 min

Viel wurde bereits erzählt über die Ambivalenz des Schauspieler- und Schauspielerinnendaseins. In einem Moment im Rampenlicht auf der Bühne oder im Fokus der Kamera zu stehen und eine Figur zu verkörpern, im nächsten Moment als Privatmensch im Supermarkt zu stehen oder sich durch die Welt der sozialen Medien zu bewegen – immer wieder reiben sich diese Welten und jeder Fehltritt wird gierig von der Schmierpresse aufgesogen. Auch Lars Eidinger hat vor einigen Jahren Öffentlichkeit und Bühne verwechselt und sich mit einer Luxustasche im Design einer ALDI-Tüte vor dem Lager eines Obdachlosen ablichten lassen. Offensichtlich wollte er damit irgendein Statement setzen. Den meisten Pressevertretern war das egal: Die Aktion sorgte für einen Shitstorm und ein angeknackstes Ego des Schauspielers. Man kann von ihm halten, was man will – aber Eidinger ist nicht nur einer der schillerndsten Künstler Deutschlands mit Auftritten in Deichkind-Videos und exaltierten DJ-Sets, er ist auch einer der begnadetsten Schauspieler unserer Zeit. Schauspielerinnen wie Juliette Binoche oder Isabelle Huppert sind fasziniert von seiner Präsenz. Seine Interpretationen von Hamlet oder dem Jedermann werden gefeiert. Der Dokumentarfilmregisseur Reiner Holzemer zeigt Eidinger in Nahaufnahme. Auch wenn er Persönliches nahezu komplett ausklammert, ist sein Film eine intime Auseinandersetzung mit der Kunst des Schauspiels und das faszinierende Porträt eines Vollblutschauspielers. LARS TUNÇAY

Broker – Familie gesucht

Broker – Familie gesucht

KOR 2021, R: Hirokazu Kore-eda, D: Song Kang-Ho, Dong-won Gang, Doona Bae, 129 min

Was definiert Familie? Ist es das Blut, sind es die Gene oder kann auch eine Schicksalsgemeinschaft einsamer Charaktere Familie bedeuten? Hirokazu Koreedas »Shoplifters« beantwortete diese Frage vor fünf Jahren mit viel Herz für die Außenseiter. Die berührende Geschichte einer Gruppe von Menschen am Rande der Gesellschaft erwärmte die Herzen der Jury in Cannes, wo der Film die Goldene Palme gewann, und die des Kinopublikums weltweit. Auch in seinem neuen Film »Broker« bleibt die Frage nach Recht und Moral Auslegungssache. Die Geschichte hat darüber hinaus noch einige andere Parallelen zu »Shoplifters«. Auch hier finden die Figuren ein Zuhause in der Gemeinschaft: Der Wäschereibetreiber Sang-hyeon und sein Freund Dong-soo betreiben ein lukratives Nebengeschäft: Sie stehlen die Babys aus der Klappe, um sie reichen, kinderlosen Paaren zu vermitteln. So landet auch der Sohn der Prostituierten So-young bei den Brokern. Als die junge Frau sich schließlich auf die Suche nach ihrem Sohn macht, durchschaut sie das abgekartete Spiel – und verlangt ihren Anteil. So beginnt ein Roadtrip zu dritt durch Südkorea auf der Suche nach zahlungswilligen Klientinnen und Klienten. Die Motivation der Delinquenten ist dabei ebenso nachvollziehbar wie die der Polizeibeamten, die ihnen auf den Fersen sind. Kore-eda baut Sympathien für alle seine Figuren auf. Das macht eine Antwort auf die Frage nach Recht und Moral am Ende nur schwerer. LARS TUNÇAY

Seneca

Seneca

D 2023, R: Robert Schwentke, D: John Malkovich, Geraldine Chaplin, Mary-Louise Parker, 112 min

Es braucht nicht viel, um das alte Rom zum Leben zu erwecken: eine verfallene Ruine mit dem weiten Blick in eine karge, zerklüftete Landschaft, durch die Menschen in Roben wandeln und reden. Robert Schwentke lässt mit seiner Interpretation des Lebens und Sterbens des römischen Philosophen Seneca eine versunkene Epoche auferstehen, und das einzig mit Mitteln des Drehbuchs und furchtloser Darsteller. Wie schon bei seiner außergewöhnlichen Nazi-Groteske »Der Hauptmann« bricht Schwentke auch hier mit den althergebrachten Konventionen der Filmhistorie. »Seneca« ist alles andere als ein klassischer »Sandalenfilm«. Im Jahre 65 nach Christus ist Seneca ein selbstgefälliger Narziss geworden. Seine Tage als beschwichtigender Berater Neros sind gezählt. Der launische Tyrann ist Senecas Zunge überdrüssig. Er beschuldigt ihn der Planung eines Attentats und sendet einen Soldaten, der Seneca die Wahl lässt: Entweder setzt er seinem eigenen Leben bis zum Morgengrauen ein Ende oder der Auftragsmörder wird seine bestialische Arbeit verrichten. Der Todgeweihte tut das, was er am besten kann, und redet um sein Leben – bis er realisieren muss, dass ihm das aus dieser Situation nicht heraushelfen wird. Mit John Malkovich fand Schwentke den perfekten Darsteller, um die Ambivalenz Senecas zu verkörpern und die nahezu 90 Seiten Monolog überzeugend zu transportieren. »Seneca« ist furchtloses Kino von einem der eigenwilligsten Regisseure des Landes. LARS TUNÇAY

Saint Omer

Saint Omer

F 2022, R: Alice Diop, D: Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville, 123 min

Die 30-jährige Rama führt ein Leben, wie man es aus dem französischen Kino zur Genüge kennt: Sie ist Universitätsdozentin und erfolgreiche Schriftstellerin, ihr Freund ein sympathischer Musiker. Gemeinsam wohnen sie in einer gemütlichen Pariser Wohnung. So weit, so gewöhnlich, das Publikum erwartet an dieser Stelle vielleicht, dass sich Rama in einen anderen Mann verliebt oder andersherum entdeckt, dass ihr Freund sich mit fremden Frauen trifft. Doch statt eine Affäre zu beginnen, steigt Rama eines Tages in den Zug nach Saint-Omer, um dort als Beobachterin einem Prozess beizuwohnen: Die Senegalesin Laurence Coly wird vor einem Schwurgericht angeklagt, ihr Baby getötet zu haben. Während des Prozesses bekennt sie sich schuldig, behauptet allerdings, verhext worden zu sein. Die Geschichte beruht auf einem wahren Fall, den Regisseurin Alice Diop (»Nous«) 2016 noch als Dokumentarfilmerin begleitete, ehe sie sich entschied, darüber ihren ersten Spielfilm zu drehen. In warmen, lichtgesättigten Farben folgt »Saint Omer« dem Prozessverlauf. Lange Einstellungen zeigen die beiden Schauspielerinnen Kayije Kagame und Guslagie Malanda, die grandiose Leistungen abliefern. Obwohl sie nie miteinander reden, spürt man beim Zusehen immer ihre Verbindungslinien und wartet die ganze Zeit auf den Moment, in dem sich ihre zurückgehaltenen Gefühle endlich Bahn brechen. Auch wenn die Auflösung etwas holzschnittartig daherkommt, »Saint Omer« ist ein überzeugendes Spielfilmdebüt JOSEF BRAUN

Inside

Inside

D/GB/B/GR/CH 2023, R: Vasilis Katsoupis, D: Willem Dafoe, Eliza Stuyck, Gene Bervoets, 101 min

Wie ist der Wert von Kunst zu bemessen? Für Nemo, einen Meister seines Fachs, ist sie das wichtigste Gut. Doch als der Dieb bei einem Einbruch in dem vielfach gesicherten Smart-Home eines Sammlers festsitzt, wird sie wertlos. Für Nemo geht es nur noch ums nackte Überleben, denn aus den Leitungen kommt kein Wasser und der Kühlschrank ist leer. Der einfallsreiche Gauner ist eingesperrt in einem goldenen Käfig – und wir sind ganz mit ihm allein. Da braucht es einen exzellenten Hauptdarsteller, der keine Grenzen scheut. Der griechische Autor und Regisseur Vasilis Katsoupis konnte für sein Spielfilmdebüt Charakterdarsteller Willem Dafoe gewinnen und schenkt ihm für 100 Minuten die ganze Leinwand. Namenlose Nebenfiguren tauchen nur in den Bildern der Überwachungskamera von draußen auf. Neben der kraftvollen Bildgestaltung von Steve Annis (»I am Mother«) und dem cleveren Drehbuch von Katsoupis und Ben Hopkins (»The Nine Lives of Thomas Katz«) ist es vor allem Dafoes Schauspielkunst, die hier zu bewundern ist. Sein schleichender körperlicher und geistiger Verfall ist schmerzhaft spürbar. Gleichzeitig hält die Inszenierung die Spannung aufrecht mit immer neuen Ideen, aus dem luxuriösen Gefängnis auszubrechen, angetrieben von einer eigenen kreativen Energie. So entsteht neue Kunst in der Isolation. In einem Kölner Studio wurde die klaustrophobische Tour de Force inmitten der Pandemie gedreht. Durch die Umstände erhält »Inside« eine aktuelle Relevanz. LARS TUNÇAY

Das Blau des Kaftans

Das Blau des Kaftans

F/M 2022, R: Maryam Touzani, D: Lubna Azabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui, 124 min

Halim ist ein Schneider in der Medina von Salé, der sein traditionelles Handwerk von seinem Vater erlernt hat. Ohne Nähmaschine fertigt er mit Hilfe seiner Frau Mina die aufwendigsten Kleider und Kaftane in Handarbeit an. Obwohl auch in Marokko die Wertschätzung dieser Kunst zurückgeht, hat er mit Youssef wieder einen Lehrling gefunden, der sich mit Engagement und Talent auf seine schwierige Aufgabe einlässt. Während Mina durch ihre fortschreitende Krebserkrankung gezwungen ist, im Laden kürzerzutreten, beginnt Youssef, seinem Meister schöne Augen zu machen – da er dessen jahrelang nur versteckt ausgelebte Homosexualität erkannt hat. In vornehmlich muslimisch geprägten arabischen Ländern gibt es auch heutzutage nur sehr selten Filme mit queerer Thematik. Umso erfreulicher ist Maryam Touzanis (»Adam«) neuer Film »Das Blau des Kaftans« zu bewerten, der seine fortschrittliche Aussage zudem in einem von Traditionen und Konventionen geprägten Milieu transportiert. Touzani entwickelt ihre Geschichte sehr verhalten und ruhig, erzählt vieles zunächst nur über Blicke und vage Andeutungen, was indes eine gelungene Parallele zur präzisen und langwierigen Arbeit des Schneiders darstellt. Im Mittelpunkt der zärtlichen Freundschafts- und Liebesgeschichte steht als spannendste Figur die der Ehefrau Mina, deren Aussagen – die für moderne, progressive Ansichten stehen – ein großer Symbolgehalt zukommt FRANK BRENNER

Kalle Kosmonaut

Kalle Kosmonaut

D 2022, Dok, R: Tine Kugler, Günther Kurth, 99 min

Die Allee der Kosmonauten ist Kalles Zuhause. Was nach großer Sehnsucht und dem Greifen nach den Sternen klingt, ist vielmehr trister Alltag für viele Berliner Kinder: eine Plattenbausiedlung in Marzahn-Hellersdorf. Kalles Vater will nichts mit ihm zu tun haben, seine Mutter hat kaum Zeit für ihn, der Opa verliert sich in DDR-Nostalgie und die Oma hat zu spät den Absprung aus der Alkoholsucht geschafft, um noch ein gutes Vorbild für ihn zu sein. Trotzdem ist Kalle eigentlich »ein lieber Kerl«, wie sogar die Polizisten und Polizistinnen feststellen, die regelmäßig mit ihm zu tun haben. Das nützt ihm letztlich aber leider auch nichts – mit 17 landet Kalle im Gefängnis, er hat im Drogenrausch einen anderen Menschen angegriffen. Tine Kugler und Günther Kurth begleiten Kalle in diesem eindrücklichen Dokumentarfilm über einen Zeitraum von zehn Jahren, von seinen Ausflügen durch die Siedlung bis zur Entlassung aus dem Gefängnis und seinem schwierigen Weg zurück in die Normalität. Kalle erzählt meistens selbst, reflektiert, rappt und erträumt sich eine bessere Zukunft. Seinem Sohn will er ein guter Vater sein, die Frage ist nur, wie er das anstellen soll. Ohne Romantisierung, ohne großes Drama und mit pointiertem Einsatz von Animation schildern Tine Kugler und Günther Kurth Kalles Geschichte. Und zeigen auch, dass es manchmal nicht reicht, ein lieber Kerl zu sein, wenn dein Umfeld dir keine Perspektiven bietet. HANNE BIERMANN

The Son

The Son

GB/F 2022, R: Florian Zeller, D: Vanessa Kirby, Anthony Hopkins, Hugh Jackman, 123 min

Florian Zeller ist ein sehr erfolgreicher Theater-Autor, der im Jahr 2020 selbst sein Stück »The Father« mit Anthony Hopkins als sensationellen Film über Demenz inszenierte. Nun verfilmt der französische Schriftsteller mit Hilfe des legendären Drehbuch-Autors Christopher Hampton (»Gefährliche Liebschaften«) sein Bühnen-Baby »The Son« zum Thema Depression. Der New Yorker Anwalt Peter ist erfolgreich und glücklich in seiner frischen Ehe mit der jüngeren Beth – bis seine Ex-Frau Kate vor der Tür steht und von den Problemen ihres gemeinsamen Sohns Nicholas erzählt, der wochenlang nicht mehr in der Schule war. Peter lässt schließlich den 17-Jährigen bei sich im arg grau designten Appartement wohnen. Anfangs ist Nicholas verbittert gegenüber der Frau, welche die Ehe der Eltern auseinandergebracht hat. Dann scheint sich alles zu bessern, doch nach kurzer Euphorie verfällt der Sohn wieder seiner Traurigkeit. Es ist relativ schnell klar, dass Nicholas an einer schweren Depression leidet. Allein die Erwachsenen im Film kriegen das scheinbar nicht mit oder wollen es nicht sehen. »The Son« ist im Prinzip ein Kammerspiel mit kurzen Ausflügen in die Außenwelt. Florian Zeller kümmert sich aufwendig um sein Bühnenkind »The Son« mit hervorragender Kamera (Ben Smithard), emotionalem Soundtrack (Hans Zimmer) und vor allem exzellentem Schauspiel von Hugh Jackman. GÜNTER JEKUBZIK

Wo ist Anne Frank?

Wo ist Anne Frank?

»Das Tagebuch der Anne Frank« ist wohl das bekannteste und zugänglichste Werk zur Judenverfolgung im deutschen Nationalsozialismus. Die Aufzeichnungen der 13-jährigen Anne, die sich mit ihrer Familie von 1942 bis zu ihrer Entdeckung 1944 im geheimen Teil eines Hinterhauses mitten in Amsterdam versteckt hielt, sind authentisches, erschütterndes Zeugnis eines der schlimmsten Abschnitte der Menschheitsgeschichte. Ihr Schicksal wurde mehrfach verfilmt. Der israelische Regisseur Ari Folman, der 2008 mit »Waltz with Bashir« seinem Animadok über den Libanonkrieg aufwühlte, hat in seinem neuen Trickfilm, der auch Jugendliche behutsam an die Materie heranführt, nun einen frischen Ansatz gefunden: Protagonistin ist vor allem Kitty, die imaginäre Freundin, an die Anne ihre Tagebucheinträge einst richtete. 2019 erwacht sie eines Nachts im Anne-Frank-Haus in der Amsterdamer Prinsengracht 263 zu unsichtbarem Leben, beobachtet zunächst die zahllosen internationalen Besucherinnen und Besucher und wird dann gemeinsam mit dem Filmpublikum an die Hand genommen, um alles über Annes tragisches Schicksal zu erfahren. In der Gegenwartshandlung zeigt Folman unterdessen, dass der Satz »Geschichte wiederholt sich« keine leere Floskel ist, indem er einen Bogen zur aktuellen Flüchtlingsthematik spannt, das Publikum aber immerhin mit einem vorsichtig hoffnungsvollen Ende aus dem Kino entlässt. PETER HOCH

Return To Seoul

Return To Seoul

D/B/F/KAT 2022, R: Davy Chou, D: Park Ji-min, Oh Kwang-rok, Sun-Young Kim, 119 min

»Du bist ein sehr trauriger Mensch.« – Die Worte, die Tena ihrer Freundin Freddie ins Gesicht wirft, treffen sie tief. Und doch spricht sie damit nur die Wahrheit aus. Frédérique, von allen nur Freddie genannt, fühlt sich verloren. Geboren in Korea, adoptiert und aufgewachsen in Frankreich, sucht die 25-Jährige nach Halt. Obwohl sie eine behütete Kindheit hatte, fehlt etwas. Eher durch Zufall landet sie in Seoul und sucht das Zentrum für Adoptionen auf, in der Hand ein einziges Foto und eine Nummer. Freddie wird nicht nur mit ihrem eigentlichen Namen konfrontiert, sie erfährt auch, warum ihre biologischen Eltern sie damals zur Adoption freigegeben haben. Aber es dauert lange, bis sie etwas mit diesen Informationen anzufangen weiß und ihre Wurzeln zu akzeptieren beginnt. Regisseur Davy Chou (»Diamond Island«) erzählt hier die Geschichte einer Freundin und die von Hunderttausenden Adoptierten, die fernab der Heimat aufwachsen. Das Gefühl der Verlorenheit ist spürbar und macht aus Freddie eine impulsive, fahrige Figur, die in einem Moment ihre Mitmenschen mitreißt und sie im nächsten von sich stößt. In einem bemerkenswerten Schauspieldebüt verkörpert sie die bildende Künstlerin Ji-Min Park mit Haut und Haar. Langsam und eindrücklich inszeniert Chou ihre Selbstfindung. Dafür gab es viel Applaus und Preise bei Festivals rund um die Welt. LARS TUNÇAY

Fritz Bauers Erbe – Gerechtigkeit verjährt nicht

Fritz Bauers Erbe – Gerechtigkeit verjährt nicht

D 2022, Dok, R: Sabine Lamby, Cornelia Partmann, Isabel Gathof, 98 min

Ein Prozess am Landgericht Münster: Der 95-jährige Johann R. wird der Beihilfe zum Mord in Hunderten Fällen beschuldigt. Taten, die mehr als 70 Jahre zurückliegen. Johann R. war Wachmann im Konzentrationslager Stutthof in der Nähe von Danzig. Er bestreitet, von den systematischen Morden an den jüdischen Insassen gewusst zu haben. Insgesamt 17 Nebenkläger, Überlebende des Lagers und ihre Nachkommen, sind anderer Auffassung. Die Augen der ganzen Welt ruhen auf dem Prozess. Er ist ein entscheidender Schritt in einer langwierigen Aufarbeitung. Die Verurteilung des ehemaligen Wehrmachtssoldaten ist das Ergebnis der umfangreichen Recherchen, denen sich die Zentrale Stelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen widmet. Sie tritt das Erbe Fritz Bauers an, der in den sechziger Jahren als Generalstaatsanwalt damit begann, die Handlanger des Nationalsozialismus vor Gericht zu stellen. In den Nürnberger Prozessen wurden die Strippenzieher zur Rechenschaft gezogen. Doch was ist mit den Rädchen, die die Tötungsmaschinerie überhaupt erst zum Laufen brachten? Ihre Verfolgung dauert bis heute an. Die Filmemacherinnen Isabel Gathof, Sabine Lamby und Cornelia Partmann gewähren spannende Einblicke in die so wichtige Arbeit der Kämpferinnen und Kämpfer für Gerechtigkeit. Juristinnen und Juristen, auch von der Staatsanwaltschaft, erklären die komplizierten Abläufe im Rechtssystem, die begünstigen, dass es mehr als sieben Jahrzehnte dauert, Nazis den Prozess zu machen. LARS TUNÇAY

Final Cut of the Dead

Final Cut of the Dead

F/GB/J 2022, R: Michel Hazanavicius, D: Romain Duris, Bérénice Bejo, Grégory Gadebois, 112 min

Mit der Low-Budget-Zombie-Komödie »One Cut of the Dead« schuf Shin’ichirô Ueda 2017 einen echten Überraschungshit, der diese Bezeichnung mehr als verdient, wusste er doch erstens wirklich zu überraschen und wurde zweitens zumindest in seiner Heimat Japan zum Publikumserfolg. Nun lässt sich das schwer wiederholen, noch dazu übertragen auf den westlichen Kulturraum. Trotzdem schafft Michel Hazanavicius mit seinem Remix »Final Cut of the Dead« einen großen Spaß für Genrefans. Ein Grund dafür ist, dass sich der Regisseur – wie schon bei »The Artist«, seiner Hommage an die Stummfilmära – über Filmsprache, Klischees und die Konventionen des Horror-Genres Gedanken macht und sie gekonnt persifliert. Hazanavicius stapelt Metaebene über Metaebene und lässt im Film den Regisseur Rémi – herrlich hilflos verkörpert von Romain Duris – ein Remake des japanischen Erfolgs inszenieren. Der ist künstlerisch eh gerade ohne Plan und will den Draht zu seiner Teenager-Tochter nicht verlieren. Da tritt die seltsame japanische Produzentin in sein Leben und macht sich nicht nur über französische Gepflogenheiten lustig, sondern unterbreitet ihm auch ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. Was folgt, sind herrlich chaotische Dreharbeiten und eben eine zweite Ebene (und schließlich dritte im Abspann), die den Film noch mal auf den Kopf stellt. Das wirkt vielleicht nicht mehr ganz so frisch und unverbraucht, wenn man das Original kennt, aber der Spaß am Film ist allen Beteiligten anzumerken und überträgt sich mühelos aufs Publikum. LARS TUNÇAY

Die Frau im Nebel

Die Frau im Nebel

KOR 2022, R: Park Chan-wook, D: Park Hae-il, Tang Wei, Lee Jung-hyun, 139 min

Seit der Koreaner Park Chan-wook vor zwanzig Jahren mit dem gnadenlosen Rachedrama »Old Boy« auch im westlichen Kino aufschlug, hat er sich, wie kaum ein Zweiter, durch die Genres gearbeitet. Mal inszenierte er eine Liebesgeschichte (»I Am A Cyborg But That’s Okay«), mal eine Doku (»Bitter Sweet Seoul«), Horror (»Durst«) oder ein Historiendrama (»The Handmaiden«), starbesetztes Hollywood-Kino (»Stoker«) und zuletzt eine Serie über eine britische Mossad-Agentin (»The Little Drummer Girl«). Mit »Die Frau im Nebel« kehrt er nun zu einem Genre zurück, das die Filmemacher seiner Heimat beherrschen wie kein zweites. Doch Parks Variante des klassischen Cop-Thrillers ist dann doch eine andere: Er vermischt die spannende Jagd nach einem Mörder mit einer unerwarteten Liebesgeschichte und einem Schuss Humor und wandelt damit mehr denn je auf den Spuren des Meisters der Suspense, Alfred Hitchcock. Dabei ist der Plot, den Park mit seiner langjährigen Partnerin Chung Seo-kyung gesponnen hat, ebenso schwindelerregend wie die clevere Kamerarbeit von Kim Ji-yong (»Ashfall«). Der Großstadt-Cop Jang Hae-joon verfällt der verdächtigten Witwe Song Seo-rae, und schon bald versuchen wir jede ihrer Regungen zu lesen, um herauszufinden, ob sie ihren Mann um die Ecke gebracht hat oder nicht. Temporeich und meisterhaft zieht Park Chan-wook uns an der Nase durch sein Spiegelkabinett, bei dem manches Detail erst beim zweiten Hinschauen Sinn ergibt. LARS TUNÇAY

Close

Close

B/F/NL 2022, R: Lukas Dhont, D: Eden Dambrine, Gustav De Waele, Émilie Dequenne, 105 min

Léo und Rémi sind als beste Freunde in einer ländlichen Gegend Belgiens gemeinsam aufgewachsen. Ihre Freizeit verbringen sie fast immer zusammen, Léo übernachtet auch häufig im Haus von Rémi, ist für dessen Eltern zu so etwas wie einem zweiten Sohn geworden. Als die 13-Jährigen Jungs gemeinsam die Schule wechseln und in die Pubertät kommen, wird ihre Innigkeit und Nähe von den neuen Mitschülern kritisch beäugt. Es kommt zu Mobbing und dummen Kommentaren, was Léo dermaßen überfordert, dass er auf Distanz zu Rémi geht – mit dramatischen Folgen. Der neue Film des Belgiers Lukas Dhont (»Girl«) wurde im vergangenen Jahr in Cannes mit dem Großen Preis der Jury prämiert. Wie schon in seinem mehrfach ausgezeichneten Debütfilm über das Seelenleben einer 16-jährigen Transfrau bleibt auch »Close« ganz nah an der Erlebnisrealität seines jugendlichen Protagonisten. Der Film ist ausschließlich aus dem Blickwinkel Léos geschildert, weswegen es auch zu einigen Auslassungen kommt, die sich das Publikum selbst erschließen muss. Dhont nimmt sich die Zeit, die seine Figuren benötigen, um aus ihrer Bestürzung, ihrer Trauer und ihrer Hilflosigkeit herauszufinden, weshalb »Close« durch seine hohe Glaubwürdigkeit mitunter fast schon wie ein Dokumentarfilm anmutet. Die beiden grandiosen jugendlichen Hauptdarsteller, die hier zum ersten Mal vor der Kamera zu sehen sind, tragen dazu ebenfalls viel bei. FRANK BRENNER