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Rezensionen

Lola

Lola

IRL/GB 2023, R: Andrew Legge, D: Stefanie Martini, David Bowie, Rory Fleck Byrne, 79 min

Großbritannien zu Beginn der 1940er Jahre: Die Schwestern Thom und Mars leben allein in einem abgeschiedenen Haus. Hier haben sie eine Maschine entwickelt, die Radio- und Fernsehwellen aus der Zukunft empfangen kann. Wobei Thom das Entwicklergenie ist und Mars die Ereignisse dokumentiert. Sie verlieben sich in David Bowie, entdecken Bob Dylan und die Kinks. Doch als der zweite Weltkrieg ausbricht, werden sie sich der Tragweite ihrer Erfindung bewusst. Lola – wie sie die Maschine nennen – könnte Großbritannien den entscheidenden Vorteil im Krieg gegen Hitler liefern. Anonym schicken sie zunächst die Angriffsdaten der Nazis an die britischen Streitkräfte, um so Leben zu retten. Aber natürlich kommt ihnen das Militär auf die Schliche und will die Erfindung für seine Zwecke vereinnahmen. Schließlich stehen Thom und Mars vor tiefgreifenden moralischen Entscheidungen und müssen abwägen, ob das Opfer eines einzelnen Menschenlebens zugunsten der Allgemeinheit gerechtfertigt ist. Andrew Legge inszeniert sein Langfilmdebüt im Stile einer Mockumentary. In schwarz-weißem Found-Footage dokumentieren die beiden Frauen ihre Erfindung und ihre Begeisterung für den Blick in die Zukunft. Das wirkt auch ohne ausladende Special-Effects absolut überzeugend und mitreißend. Wenn jedoch die Welt über sie hereinbricht, gerät das Konzept ins Wanken. So ist »Lola« am Ende vor allem der einfallsreiche Erstling eines vielversprechenden Regisseurs. Lars Tunçay

Die unendliche Erinnerung

Die unendliche Erinnerung

CHL 2023, Dok, R: Maite Alberdi, 85 min

Augusto Góngora (1952–2023) war einer der populärsten chilenischen »Underground«-Journalisten, der in den achtziger Jahren seinem Land in einer populären Fernsehsendung und in einigen Büchern auf den Zahn fühlte. Dabei war es ihm stets sehr wichtig, die Erinnerungen an die Vergangenheit Chiles wachzuhalten, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Welch Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Góngora am Ende seines Lebens an Alzheimer erkrankte und mehr und mehr den Bezug zur Realität und zu seinem bisherigen Leben verlor. An seiner Seite muss seine Lebensgefährtin von mehr als zwanzig Jahren, die Schauspielerin und ehemalige chilenische Kulturministerin Paulina Urrutia, täglich aufs Neue damit klarkommen, nicht erkannt zu werden – oder in den wenigen klaren Momenten Góngoras dessen grenzenlose Liebe zu erfahren. Hierzulande sind die beiden Protagonisten in Maite Alberdis Dokumentarfilm natürlich längst nicht so bekannt wie in ihrem Heimatland. Aber die Demenz-Geschichte, die hier erzählt wird, ist so allgemeingültig und von großer Liebe durchströmt, dass das Publikum weltweit etliche Anknüpfungspunkte für sich finden dürfte, zumal der geistige Verfall im Alter längst zu einer Volkskrankheit geworden ist. Am beeindruckendsten an »Die unendliche Erinnerung« ist, dass uns der Film vermittelt, dass man selbst in einer ausweglos erscheinenden Situation die Hoffnung niemals aufgeben sollte. Gleichwohl wird man hier emotional stark mitgenommen, da der degenerative Verlauf der Krankheit unumgänglich ist. Frank Brenner

Der Junge und der Reiher

Der Junge und der Reiher

J 2023, R: Hayao Miyazaki, 124 min

Es fühlte sich schon wie ein Abschied an, als Hayao Miyazaki 2013 »Wie der Wind sich hebt« präsentierte. Aber irgendwie wollte niemand an ein Versiegen der unbändigen Kreativität des damals 72-Jährigen glauben. Nun, zehn Jahre später, entführt uns Miyazaki-San erneut in seine Fantasie. »Der Junge und der Reiher« ist gleichermaßen vertraut und faszinierend. Wieder ist es ein junger Protagonist, der ähnlich wie etwa in »Chihiros Reise« aus der Realität mitten hinein in eine magische Welt fällt, die von irrwitzigen Kreaturen bewohnt wird. Doch die Motive in Miyazakis zwölftem Langfilm sind deutlich düsterer: Der 12-jährige Mahito muss zu Beginn hilflos mit ansehen, wie seine Mutter Hisako bei einem Luftangriff auf Tokio ums Leben kommt. Als der Krieg vorbei ist, zieht der Junge mit seinem Vater Shoichi aufs Land. Hier muss er sich an ein neues Umfeld und seine Stiefmutter Natsuko gewöhnen, die die Erinnerung an seine verstorbene Mutter hervorruft – ist sie doch Hisakos Schwester. Als ein mysteriöser Reiher auftaucht und Mahito angreift und schließlich Natsuko spurlos verschwindet, macht sich der Junge auf in ein Abenteuer, bei dem er sich der eigenen Trauer stellen und über sich hinauswachsen muss. Mahitos Reise entwickelt sich zu einer Reflexion Miyazakis über die Vergänglichkeit und das, was uns Menschen ausmacht. Für uns ist es ein Geschenk, vielleicht des Abschieds. Meister Miyazaki zeichnet derweil einfach weiter. Lars Tunçay

Poor Things

Poor Things

IRL/GB/USA 2023, R: Yórgos Lánthimos, D: Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo, 141 min

Mit eigenwilligen Filmen wie »Dogtooth« und »Alpen« hat sich der griechische Regisseur Yórgos Lánthimos einen Namen gemacht. Mit »The Lobster« gelang ihm der internationale Durchbruch im englischsprachigen Kino. Nach ihrer Hauptrolle in »The Favourite« stellt sich nun erneut Emma Stone furchtlos in seine Dienste. Sie verkörpert Bella Baxter, die Schöpfung des exzentrischen Wissenschaftlers Dr. Godwin Baxter. Der junge Londoner Medizinstudent Max McCandless wird von ihm angeheuert, das Verhalten und die Entwicklung seines Experiments zu dokumentieren. Doch Bella ist das Anwesen ihres Schöpfers bald zu klein. Es zieht sie in die Welt hinaus, und so reist sie an der Seite des Frauenhelden Duncan Wedderburn nach Lissabon, um ihrerseits das Leben der Menschen zu erforschen. Mit ihrem unbedarften Blick auf die Welt eckt sie immer wieder an und wird ihres überforderten Reisebegleiters schon bald überdrüssig. Lánthimos entwirft in »Poor Things« eine eigene Welt, die er mit Fischaugen-Objektiv, fantasievollen Kostümen und Sets in Szene setzt. Seine Adaption des Romans von Alasdair Gray irritiert bewusst. Bellas Beobachtungen der menschlichen Natur, insbesondere der Rolle der Frauen sind entlarvend. Aus den bekannten Motiven des Frankenstein-Mythos entwickelt der Ausnahmeregisseur ein cleveres, kunstvolles Horror-Märchen. Sein exzellentes Ensemble, zu dem Willem Dafoe als Schöpfer und Mark Ruffalo als Schaumschläger gehören, setzt Lánthimos’ Einfallsreichtum in pure Spielfreude um. Lars Tunçay

Olfas Töchter

Olfas Töchter

F/TUN/D/SA 2023, Dok, R: Kaouther Ben Hania, 107 min

»Olfa hat vier Töchter«, heißt es im Trailer, »die beiden jüngsten, Eya und Tayssir, leben noch bei ihr. Die beiden ältesten, Rahma und Ghofrane, hat der Wolf gefressen.« Der gefräßige Wolf ist die Terrororganisation Islamischer Staat. Olfas ältere Töchter haben Tunesien verlassen, um an seiner Seite in Libyen zu kämpfen. 2016 wurde Olfa Hamroun bekannt, als sie die tunesischen Behörden öffentlich kritisierte. Weil diese Rahma ausreisen ließen. Weil sie auch nach der Festnahme der beiden Töchter durch libysche Streitkräfte nicht reagierten. Weil sie es Olfa nicht gestatteten, in Libyen auf eigene Faust nach ihren Töchtern zu suchen. In ihrem Film lässt Kaouther Ben Hania, die 2020 mit »Der Mann, der seine Haut verkaufte« für den Oscar nominiert war, die verbliebene Familie den Schmerz experimentell verhandeln. Drei Schauspielerinnen springen jeweils für die verschwundenen Schwestern und auch für Olfa ein, wenn ihre Gefühle sie überwältigen. Während die halbfiktive Familie reale Ereignisse, Entwicklungen und Generationskonflikte diskutiert, gelingt es Ben Hania, die Zuschauerperspektive so zu positionieren, dass die globale Relevanz dieser Makrobeobachtungen unmittelbar emotional verstanden wird. »Olfas Töchter« feierte im Rahmen des Filmfestivals von Cannes Premiere und gewann den L’Œil d’Or – den Preis für den besten Dokumentarfilm. Laura Gerlach

791 km

791 km

D 2023, R: Tobi Baumann, D: Iris Berben, Joachim Król, Nilam Farooq, 103 min

Die Prämisse ist einfach: Vier Menschen finden während eines stürmischen deutschen Herbstabends am Münchener Hauptbahnhof zusammen. Und weil sie ganz dringend weiter nach Hamburg müssen, beschließen sie, sich ein Taxi zu teilen. Gemeinsam mit dem verschlossenen Taxifahrer geht es durch die Nacht, wo zwischen der bunt zusammengewürfelten Reisegruppe schnell alle Themen auf den Tisch kommen, die Deutschland derzeit beschäftigen. Persönliches wie die Verluste geliebter Menschen oder eine beginnende Demenzerkrankung genauso wie Politisches (Klimawandel, Geschlechterfragen und Rassismus) machen im engen Innenraum des Autos die Runde, bis die Köpfe rauchen oder erschöpft auf die Schulter des Nebensitzers sinken. Selten ist ein Casting in einem deutschen Film der letzten Jahren so perfekt aufgegangen. Neben Iris Berben als politisch engagierter Professorin im Ruhestand und Joachim Król als Taxifahrer ohne Führerschein, denen man beiden den Spaß an ihren Rollen deutlich anmerkt, brillieren die Nachwuchsschauspieler Nilam Farooq, Ben Münchow und Lena Urzendowsky. Gute Dialoge, ein perfekter Soundtrack und die Neonlichtromantik hiesiger Autobahnen runden das Erlebnis ab und machen aus »791 km« vielleicht den Feelgood-Film des Winters. Eine Leistung, die man bei all den schweren Dramen, die sonst oft erscheinen, gar nicht genug würdigen kann. JOSEF BRAUN

Perfect Days

Perfect Days

J/D 2023, R: Wim Wenders, D: Kôji Yakusho, Min Tanaka, Tokio Emoto, 123 min

Morgen für Morgen erwacht Hirayama in seinem kleinen Haus im Schatten des Tokio Towers. Er rollt seine Tatamimatte zusammen, zieht seinen Arbeitsoverall über und putzt die Zähne, greift das Kleingeld und die Schlüssel und tritt in die Dunkelheit. Er saugt die frische Morgenluft wein, grüßt den Baum vor seinem Haus, zieht sich einen Dosenkaffee und steigt in den Kleinbus in seiner Einfahrt. Am Abend liest er, löscht das Licht und am nächsten Morgen beginnt das Ritual von vorne. Trotz seines scheinbar monotonen Tagesablaufs ist Hirayama glücklich. Denn die Tage zwischen Aufstehen und Schlafengehen sind mit Begegnungen gefüllt − der schweigsame Mann putzt die öffentlichen Toiletten in der Millionenmetropole. Episodenhaft erzählt Regisseur Wim Wenders zunächst von Hirayamas Alltag. Dann erfahren wir Bruchstücke von seinem Weg, der ihn an diesen Punkt geführt hat. Eine junge Ausreißerin wirft den geregelten Tagesablauf des Sechzigjährigen gehörig durcheinander. Ganz organisch formt sich ein Bild des verschlossenen Einzelgängers, der aus seiner Deckung gelockt wird. Es ist meisterhaft, wie Wenders das erzählt, wie sein Hauptdarsteller Koji Yakusho (»Shall we dance?«) Es verkörpert. In Cannes gab es dafür den Hauptstellerpreis. In nur sechzehn Drehtagen entstand ein intimes Porträt, das Wenders’ Liebe zu Tokio und den Filmen Yasujiro Ozus (»Die Reise nach Tokio«) spiegelt. LARS TUNÇAY

Falling into place

Falling into place

D/GB 2023, R: Aylin Tezel, D: Chris Fulton, Aylin Tezel, 110 min

Hat man über Liebende im Film nicht alles schon gesehen? Von »So wie wir waren« bis »Her« wurde doch quasi jede Konstellation und Dynamik in allen Facetten ausgeleuchtet. Aylin Tezels Debütlangfilm »Falling Into Place« gibt dem Genre zwar keine neuen Impulse, zeigt aber dennoch eine eindrucksvolle Annäherung zweier Suchender. Die Mittdreißiger Ian und Kira treffen sich zufällig auf der Isle of Skye, er vergeben, sie grade frisch getrennt. Zwischen den beiden entfaltet sich der Zauber des Anfangs, die Nacht und der Morgen in der malerischen Umgebung könnten ewig dauern, die Chemie zwischen ihnen ist fast physisch spürbar. Bevor sie allerdings später wieder aufeinandertreffen, müssen sie ihre Leben ordnen: er seine Distanz zu seiner suizidalen Schwester und seine unausgeglichene Beziehung, sie ihren noch in ihr wabernden Ex-Freund und ihre Selbstzweifel. In all diesen Szenen großer Verletzlichkeit und Wahrhaftigkeit greift vor allem Aylin Tezel (»Der Russe ist einer, der Birken liebt«) auf ein weites Sortiment an Emotionseruptionen zurück – angesichts der Dreifachrolle als Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin eine famose Leistung. Nebenbei werden einige große Fragen von Sinn-, Selbst- und Partner-Suche angeschnitten, deren vermeintliche Lösung sich besonders in Kiras Selbstoffenbarung im Gespräch mit ihrem Ex dramatisch Bahn bricht. MARKUS GÄRTNER

Die Sirene

Die Sirene

F/D/LUX/B 2023, R: Sepideh Farsi, 100 min

Der Iran im Jahr 1980: Nach der Revolution beginnt der Krieg. Die Hafenstadt Abadan im Südwesten des Landes ist die Heimat des 14-jährigen Omid. Als sie von einem irakischen Raketenangriff getroffen wird, stehen die Häuser in Flammen und die wehrfähigen Männer werden in die Schlacht geschickt. Auch Omids Bruder zieht in den Krieg, der Teenager bleibt zurück bei seinem Opa, obwohl er selbst viel lieber an die Front ziehen würde. Als Essenslieferant versucht er in der Stadt, die im Chaos versinkt, zu helfen, wo er kann. Gleichzeitig sucht er nach einem Ausweg für sich und seinen Großvater – und findet ein Schiff, das er zu seiner Arche macht, um alle, die er liebt, zu retten. Mit den Mitteln der Animation schildert die selbst im Iran geborene und heute im französischen Exil lebende Filmemacherin Sepideh Farsi eine Jugend in den Achtzigern inmitten eines Konflikts, der auf beiden Seiten mehr als 100.000 Menschenleben forderte. Ähnlich wie Marjane Satrapi in »Persepolis« erzählt sie den politischen Konflikt konsequent aus einer subjektiven Perspektive und macht ihn damit auch dem jüngeren Publikum zugänglich. »Die Sirene« ist dabei bunt und mit zeitgemäßem Synthpop-Soundtrack untermalt. Farsi gelingt ein differenziertes Bild der iranischen Gesellschaft in einem Krieg, den niemand will und unter dem alle zu leiden haben. Unerschütterlich lässt sie ihren Film auf einer fantasievollen Note enden, die Hoffnung verbreiten will. LARS TUNÇAY

Auf dem Weg

Auf dem Weg

F 2023, R: Denis Imbert, D: Jean Dujardin, Joséphine Japy, Izïa Higelin, 95 min

Alkoholisiert stürzt der Schriftsteller Sylvain Tesson von einem Balkongeländer. Zurück bleiben Frakturen am ganzen Körper: »In 8 Metern bin ich um 50 Jahre gealtert.« Mit einer sanften Rehabilitation will sich Tesson nicht zufriedengeben. Sein Ziel ist das Meer, von Mercantour im Süden Frankreichs bis zu den Klippen von La Hague im Norden, rund 1.300 km Strecke zu Fuß. Er meidet urbane Zentren, wandelt lieber auf unberührten Abwegen. Durch das Beschreiten dieser Wege will sich der Schriftsteller den Körper wieder zu eigen machen. Unterwegs wechseln die Weggefährten, mal begleitet Tesson ein guter Freund oder seine Schwester, mal geht er einen Teil des Weges mit einem fremden jungen Mann, den der Zuschauer schnell ins Herz schließt. »Auf dem Weg« ist inspiriert von Sylvain Tessons Buch »Auf versunkenen Wegen«, das als literarisches Werk in Frankreich viel Anklang fand. Hier scheitert es jedoch am Transfer in ein anderes Medium. Der Text lebt von den Schilderungen der Gedanken des Erzählers. Der Film besteht jedoch zu einer beachtlichen Menge aus Aufnahmen die Schauspieler Jean Dujardin beim Wandern zeigen. Stellen aus dem literarischen Text werden aus dem Off eingesprochen, während es Zuschauern und Zuschauerinnen schwerfällt, den philosophischen Versatzstücken zu folgen. »Auf dem Weg« ist ein ruhiger Film, eine Liebeserklärung an das Wandern und das Schreiben. Michelle Schleimer

Wie wilde Tiere

Wie wilde Tiere

E/F 2023, R: Rodrigo Sorogoyen, D: Marina Foïs, Denis Ménochet, Luis Zahera, 137 min

Rigoros ringen die galizischen Cowboys die Wildpferde nieder, um sie gefügig zu machen. Regisseur Rodrigo Sorogoyen wählt diesen Akt der Gewalt, in Zeitlupe eingefangen, als kraftvolle Eröffnung für seinen Film. Das Ehepaar Antoine und Olga ist vor zwei Jahren aus Frankreich in die idyllische Berglandschaft gezogen, auf der Suche nach Abgeschiedenheit. Hier wollen beide sich mit einem Ökobetrieb zur Ruhe setzen. Antoine geht Abend für Abend in die örtliche Kneipe, trinkt und spielt mit den heimischen Bauern Domino. Doch besonders die Brüder Xan und Lorenzo sind ihm feindlich gesinnt. Der Grund dafür liegt in der geplanten Investition eines Windenergieunternehmens. Als es um die Errichtung eines Windparks ging, stimmten Antoine und Olga dagegen. Für die armen Bauern im Dorf ist die Aussicht auf schnelles Geld allerdings verlockend. So setzen die Brüder das französische Paar immer mehr unter Druck. Von der visuellen Brutalität des Einstiegs verlegt Sorogoyen die Kraft zunächst auf die Dialoge, schafft mit Worten Druck, der seiner Hauptfigur zunehmend den Atem raubt. Charakterdarsteller Denis Ménochet (»Peter von Kant«) spielt das grandios mit einer Mischung aus Kraft und Hilflosigkeit. In der zweiten Hälfte rücken Marina Foïs (»Poliezei«) und Olgas Verhältnis zu ihrer Tochter in den Mittelpunkt des Films. Das verdichtet die vielschichtige Handlung und trägt die Spannung bis zum Ende der 137 Minuten dieses in seiner Heimat mit neun Goyas ausgezeichneten, meisterhaften Dramas. Lars Tunçay

Captain Faggotron saves the Universe

Captain Faggotron saves the Universe

D 2023, R: Harvey Rabbit, D: Tchivett, Bishop Black, Rodrigo Garcia Alves, 70 min

Bald ist die Zeit gekommen, da sich durch die richtige Planetenkonstellation und den selbstlosen Einsatz von Queen Bitch der Anus zur Hölle öffnen und die gesamte Erde zu einem Planeten der Homosexualität machen wird! Priester Gaylord ist zwar selbst ein verklemmter Schwuler, der einst mit dem muskulösen Queen Bitch liiert war, bezweifelt aber, dass dieses Szenario mit der Bibel vereinbar ist. Deswegen beauftragt er Captain Faggotron, der noch eine alte Schuld abzuleisten hat, Queen Bitch den Ring zu stehlen, den dieser für das geplante Ritual benötigt. – Man erkennt schon an dieser kurzen Inhaltsangabe, dass dem Kalifornier Harvey Rabbit in seinem Langfilmdebüt »Captain Faggotron saves the Universe« kaum etwas heilig ist. Erst recht nicht die katholische Kirche, die er mit beißendem Spott übergießt. Wie eigentlich alle konservativen und gestrigen Menschen und deren altmodische Ansichten. Rabbits Debüt rangiert thematisch und stilistisch irgendwo zwischen den frühen Arbeiten Rosa von Praunheims (»Ein Virus kennt keine Moral«) und den ebenfalls oftmals in Berlin angesiedelten Trash-Komödien des Kanadiers Bruce La Bruce (»Die Misandristinnen«), was zum einen bedeutet, dass man anstatt Perfektion eher eine gesunde Form des Dilettantismus und zum anderen übertrieben agierende Darsteller geboten bekommt. Aber das Timing stimmt, und es ist auch ein Gespür für die richtigen Kameraeinstellungen vorhanden, so dass sowohl das queere als auch das aufgeschlossene heteronormative Publikum hier durchaus Spaß haben kann. Frank Brenner

BlackBerry – Klick einer Generation

BlackBerry – Klick einer Generation

CDN 2023, R: Matt Johnson, D: Jay Baruchel, Glenn Howerton, Matt Johnson, 120 min

Das Leben der Proto-Nerds Doug und Mike im kanadischen Nest Waterloo ist geprägt von Pizza und Programmieren. Einen richtigen Businessplan hat keiner von ihnen, weshalb sie auch kurz vor der Pleite stehen, als sie Jim Balsillie kennenlernen. Der Geschäftsmann erkennt das Potenzial der Wizkids und schließt einen Pakt mit ihnen. Fortan kümmert er sich darum, die großen Tech-Konzerne zu belabern, und macht aus einem genialen Konzept das nächste große Ding: E-Mails für die Westentasche: Blackberry, das erste Smartphone, ist geboren – und muss nur noch funktionieren, damit dem Durchbruch nichts mehr im Wege steht. Nur eines von einer nicht enden wollenden Flut von Problemen, die Firmenboss Mike und seine Freundschaft mit Doug massiv unter Druck setzen – erst recht, als ein gewisser Steve Jobs mit einem neuen Produkt den Markt betritt. Was als großer Spaß beginnt, wird zunehmend zu einer Studie menschlicher Abgründe. Eine Geschichte, die zu gut ist, um wahr zu sein, charmant-schräge Typen und eine große Portion Nostalgie zeichnen Matt Johnsons Tech-Tragödie aus. Als Mischung aus »Social Network«, »The Big Short« und »Computer Chess« schafft »Blackberry« ein glänzendes Gefühl für die Zeit vor dem neuen Millennium, als alles möglich schien. Das Ende ist allseits bekannt, der Abstieg trotzdem höchst unterhaltsam und mitreißend. Das ist Johnsons Drehbuch und seinen Darstellern zu verdanken, die ihre Figuren nie der Lächerlichkeit preisgeben. Lars Tunçay

Mein Sohn, der Soldat

Mein Sohn, der Soldat

F/SEN, R: Mathieu Vadepied, D: Omar Sy, Alassane Diong, Jonas Bloquet, 100 min

Der junge Thierno treibt gemeinsam mit seinem Vater Bakary eine Herde Kühe durch die trockene senegalesische Landschaft, bis in sein kleines Dorf, wo die Mutter und die Geschwister warten. Es ist Thiernos letzter Tag in Freiheit. Kurz darauf wird er von französischen Militärs in ein Camp gebracht und erhält eine Ausbildung zum Soldaten – er soll für seine Kolonie in den Ersten Weltkrieg ziehen. In der Hoffnung, seinen Sohn beschützen zu können, tritt Bakary als Freiwilliger dessen Regiment bei. Gemeinsam landen sie schließlich in der Nähe von Verdun, im Herzen des Krieges. Gekonnt zeigt Regisseur Mathieu Vadiepied, wie sich Vater und Sohn in der französischen Armee voneinander entfremden. Wie der Kolonialismus (eine neue Sprache, ein anderes Land) die alten Strukturen (die Familie, den muslimischen Glauben) zersetzt. Machtlos muss Bakary zusehen, wie sich sein Kind von ihm entfernt, während er selbst verzweifelt nach einem Weg zurück nach Hause sucht. Mathieu Vadiepied hat als Kameramann bereits für »Ziemlich beste Freunde« mit Omar Sy zusammengearbeitet. »Mein Sohn, der Soldat« trägt der Hauptdarsteller ebenso mühelos auf seinen Schultern. Doch auch wenn diese Geschichte unbedingt erzählenswert ist, fehlen dem Film die Mittel, um die Grauen des Krieges überzeugend darzustellen. Diese bleiben im Vergleich zu anderen Werken wie »Im Westen nichts Neues« oder »1917« eher blass. Josef Braun

The Quiet Girl

The Quiet Girl

IRL 2022, R: Colm Bairéad, D: Carrie Crowley, Andrew Bennett, Catherine Clinch, 95 min

Fast unsichtbar liegt Cáit im Gras. Ihre Geschwister rufen nach ihr, aber sie würde am liebsten verschwinden. Ihre Eltern nehmen sie ohnehin nicht wahr. Die Mutter ist wieder hochschwanger, der Vater geht wetten und versäuft das Geld der Familie im Pub. Als es irgendwann nicht mehr reicht, um alle zu ernähren, wird Cáit über den Sommer zu Verwandten geschickt. Dort lernt sie eine vollkommen andere Welt kennen, erfährt zum ersten Mal Liebe durch die behutsame Eibhlín und ihren schweigsamen Mann Seán. Zurückhaltend beobachtet die Kamera von Kate McCullough (»Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry«) das stille Mädchen, fängt immer wieder unscheinbare Details ein, ihren gesenkten Blick, die Finger, die mit Fäden am Kleid und Löchern in den Socken spielen. Wenn sich Cáits Welt öffnet, ist auch der Film befreit und die Kamera fliegt durch die sonnendurchflutete Allee. Hauptdarstellerin Catherine Clinch, die hier zum ersten Mal vor einer Kamera steht, besitzt eine bemerkenswerte Unschuld und beobachtet die neue Welt um sie herum mit großen Augen. Zu verdanken ist dieses kleine Kinowunder Colm Bairéad, der Claire Keegans Kurzgeschichte »Foster« las und wusste, dass er sie verfilmen musste – in seiner Heimat Irland und in seiner Muttersprache Gälisch. Das Ergebnis ist herzzerreißend schön und tieftraurig. »The Quiet Girl«, der seine Premiere im Generationen-Programm der Berlinale feierte, war als erster irischsprachiger Film für den Oscar nominiert. LARS TUNÇAY

Franky Five Star

Franky Five Star

D/FIN 2022, R: Birgit Möller, D: Lena Urzendowsky, Cino Djavid, Sven Hönig, 114 min

Franky ist Anfang 20 und weiß noch nicht so recht, wohin sie ihr Leben steuern soll. Geld verdient sie mit einem öden Job im Getränkemarkt. Mit ihrer besten Freundin Katja teilt sie sich eine Wohnung, in der auch schon mal wilde Partys gefeiert werden. In Liebesangelegenheiten ist die junge Frau recht schüchtern und gelegentlich himmelt sie ihren desinteressierten Nachbarn an. So weit, so durchschnittlich. Immer wenn sie in Situationen gerät, die sie emotional überfordern, »beamt« sie sich jedoch per Aufzug in ein baufälliges Belle-Époque-Hotel, dessen vier schräge Angestellte und Gäste unterschiedliche Aspekte von Frankys Persönlichkeit verkörpern – und die dann auch in der realen Welt zeitweise die Kontrolle übernehmen, was irgendwann für jede Menge Gefühlschaos sorgt. Regisseurin Birgit Möller hat für ihren zweiten Kinospielfilm zusammen mit Co-Autor Knut Mierswe eine charmante, märchenhafte Liebeskomödie entworfen, die ähnliche Knöpfe drückt wie vor über zwanzig Jahren Jean-Pierre Jeunets Genreklassiker »Die fabelhafte Welt der Amélie«. Dank der originellen Gedankenhotel-Idee schafft es »Franky Five Star« aber fantasievoll und effektiv, eigene Schwerpunkte zu setzen. Als Glücksgriff erweist sich dabei Darstellerin Lena Urzendowsky (»Kokon«), die Unsicherheit und Verpeiltheit der Hauptfigur ebenso überzeugend transportiert wie deren Liebesbedürftigkeit und Lebenslust. Peter Hoch

The old Oak

The old Oak

F/GB 2023, R: Ken Loach, D: Dave Turner, Ebla Mari, Debbie Honeywood, 113 min

Auch mit 87 Jahren findet Ken Loach keinen Frieden, keine Versöhnung mit der englischen Regierung und seinen Landsleuten. So dreht er einfach immer weiter. Missstände gibt es genügend, die es anzuprangern gilt. In »The Old Oak« zeigen sich gleich zu Beginn die Bewohnerinnen und Bewohner der kleinen Ortschaft im Nordosten Englands, in der er seine Geschichte diesmal ansiedelt, von ihrer hässlichsten Seite. Als ein Bus mit einer Gruppe syrischer Geflüchteter ankommt, fliegen Steine. Nur wenige aufrechte Helferinnen und Helfer sind zur Stelle, versorgen die Heimatlosen mit dem Nötigsten und verschaffen ihnen Wohnraum. Auch der Pubbesitzer TJ Ballantyne hilft, weil es das Richtige ist. Dabei sind die letzten verbliebenen Gäste seiner Kneipe eher der bürgerlichen Rechten zuzuordnen. Sie fluchen auf die Fremden und darüber, wie sehr ihr Land verkommt. Jobs gibt es keine, in der Nachbarschaft werden die Häuser an ausländische Investoren zu einem Spottpreis verhökert, der eigene Grund und Boden – das Einzige, was vielen von ihnen geblieben ist – ist nichts mehr wert. TJ nimmt all das schweigend hin. Als sich die Situation zuspitzt, muss er schließlich Stellung beziehen. Die Szenen des offen zur Schau gestellten Rassismus schnüren die Kehle zu. Sind sie uns doch nur zu vertraut. Dem gegenüber stellt Loach die Solidarität der Gemeinschaft. Die Geschichte, die er dabei mit seinem langjährigen Drehbuch-Partner Paul Laverty erzählt, wirkt dadurch mitunter überhöht. Das macht sie aber nicht weniger relevant – und brandaktuell. LARS TUNÇAY

Die Bologna-Entführung

Die Bologna-Entführung

I/F/D 2023, R: Marco Bellocchio, D: Paolo Pierobon, Enea Sala, Leonardo Maltese, 135 min

Das Leben der jüdischen Familie Mortare Mitte des 19. Jahrhunderts in Bologna: Die Kinder spielen Verstecken und vor dem Einschlafen beten sie auf Hebräisch. Dabei halten sie sich eine Hand vors Gesicht, verdecken symbolisch die Augen vor Gott. – Und schon schlägt die Geschichte in dieses friedliche Leben ein: Soldaten dringen ins Haus ein und nehmen den kleinen Edgardo mit. Denn er wurde ohne das Wissen seiner Eltern von einer Hausangestellten getauft. Davon hat die Kirche Wind bekommen und nun soll das Kind in einem katholischen Priesterinternat erzogen werden. Die religiöse Welt dort ist das ganze Gegenteil der organischen jüdischen Spiritualität im familiären Kreis. Regisseur Marco Bellocchio (»Il Traditore«) vollführt einen Abgesang auf eine Welt, die so immer weniger existiert: Messgesänge, die Pracht der Kirchen, all die Bilder von Heiligen und von Jesus am Kreuz. Das Judentum selbst lehnt Bilder dagegen ab, weil Gott nicht erfassbar sei. Die katholische Tradition produziert eine regelrechte Bilderflut, die in ihrem Überfluss im Endeffekt dasselbe zeigen will. Für diese Zugänge hat sich Marco Bellocchio wohl interessiert. Denn die Psychologie der Figuren geht in seinem Film ein wenig unter. Offen bleibt, warum Edgardo sich immer mehr dem Katholizismus zuwendet. Vielleicht, weil der wuchtigere Bilder hergibt? Inhaltlich überzeugt »Die Bologna-Entführung« nicht, ist dafür aber ästhetisch mitunter wohltuend überfordernd. Daniel Emmerling

Joyland

Joyland

PA 2022, R: Saim Sadiq, D: Ali Junejo, Alina Khan, Sania Saeed, 126 min

Haider ist mit Mumtaz verheiratet, die beiden sind aber noch immer kinderlos, im Gegensatz zu seinem Bruder, dessen Frau zum fünften Mal Nachwuchs bekommt. Alle wohnen noch zusammen mit Haiders Vater in einer einfachen Bleibe in Lahore. Haider war bislang als Hausmann tätig und fungierte für seine vier Nichten als Vorbild-Onkel. Nun erhält er das Angebot, in einem erotischen Theater für die Trans-Tänzerin Biba als Background-Tänzer tätig zu werden. Haider hat zunächst Skrupel, zumal er weiß, dass sein Vater dies niemals gutheißen würde. Nachdem er Biba aber kennengelernt hat, ist er von der hübschen Trans-Frau dermaßen fasziniert, dass er den Job nicht nur auf der Stelle annimmt, sondern sich auch in seine neue Chefin verliebt. Saim Sadiq ist in seinem Langfilmdebüt »Joyland«, das 2022 in Cannes mit der Queer-Palm und dem Jurypreis der Sektion »Un Certain Regard« ausgezeichnet wurde, tief in das zwischen Tradition und Moderne oszillierende Pakistan unserer Tage eingetaucht und erzählt die Geschichte einer sehnsuchtsvollen Begegnung, der von Anfang an etliche Hindernisse im Weg stehen. Man ahnt schon früh, dass die konservative Familie mit dem verruchten Arbeitsplatz Haiders ihre Probleme haben wird, auch ohne dass sie alle Details kennt. Aber auch in Bibas direktem Umfeld kommt es zu Diskriminierungen und Mobbing, was man als westlicher Betrachter traurig und beschämt registriert. Ein ruhiger, durchdachter Erstlingsfilm, der mitunter eine beeindruckende poetische Kraft entfaltet. Frank Brenner

Elaha

Elaha

D 2023, R: Milena Aboyan, D: Derya Dilber, Derya Durmaz, Bayan Layla, 110 min

Quer durch die sozialen Medien gibt es täglich Diskussionen über den Begriff »Bodycounts« und über tatsächliche Bodycounts. Darüber, mit wie vielen Personen man bereits Sex hatte und ob diese Zahl eine Aussage über partnerschaftliche Qualitäten zulässt. Es gibt unausgereifte und misogyne Analogien zu Schlössern und Schlüsseln und im Fokus der Debatte steht vor allem weibliche Sexualität. Dementsprechend wäre es vermessen zu sagen, dass Milena Aboyans Langspielfilmdebüt »Elaha« sich ausschließlich mit den Hürden weiblicher Selbstbestimmung innerhalb einer bestimmten Religion, eines bestimmten Kulturkreises auseinandersetzt. Elaha ist 22 und liebt ihre Familie, ihre Kultur und deren Traditionen. Allerdings wird sie bald heiraten und man erwartet, dass sie dabei noch jungfräulich ist. Ist sie nicht. Sie besucht also einen Chirurgen, der Jungfernhäutchen rekonstruiert, aber der Eingriff ist zu teuer. Kunstblutkapseln sind die günstigere Alternative, aber der Testlauf enttäuscht. Elahas Suche nach einem geeigneten Täuschungsmanöver ist nur ein Erzählstrang in einem eindrucksvollen Film, der das Konzept Jungfräulichkeit geschickt ad absurdum führt. Das dynamische Spiel der Hauptdarstellerin Bayan Layla, lebhafte Bilder und eine selbstermächtigt konzipierte Protagonistin positionieren »Elaha« als eine Verhandlung körperlicher Autonomie, die ihresgleichen sucht. Laura Gerlach