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Rezensionen

Fritz Bauers Erbe – Gerechtigkeit verjährt nicht

Fritz Bauers Erbe – Gerechtigkeit verjährt nicht

D 2022, Dok, R: Sabine Lamby, Cornelia Partmann, Isabel Gathof, 98 min

Ein Prozess am Landgericht Münster: Der 95-jährige Johann R. wird der Beihilfe zum Mord in Hunderten Fällen beschuldigt. Taten, die mehr als 70 Jahre zurückliegen. Johann R. war Wachmann im Konzentrationslager Stutthof in der Nähe von Danzig. Er bestreitet, von den systematischen Morden an den jüdischen Insassen gewusst zu haben. Insgesamt 17 Nebenkläger, Überlebende des Lagers und ihre Nachkommen, sind anderer Auffassung. Die Augen der ganzen Welt ruhen auf dem Prozess. Er ist ein entscheidender Schritt in einer langwierigen Aufarbeitung. Die Verurteilung des ehemaligen Wehrmachtssoldaten ist das Ergebnis der umfangreichen Recherchen, denen sich die Zentrale Stelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen widmet. Sie tritt das Erbe Fritz Bauers an, der in den sechziger Jahren als Generalstaatsanwalt damit begann, die Handlanger des Nationalsozialismus vor Gericht zu stellen. In den Nürnberger Prozessen wurden die Strippenzieher zur Rechenschaft gezogen. Doch was ist mit den Rädchen, die die Tötungsmaschinerie überhaupt erst zum Laufen brachten? Ihre Verfolgung dauert bis heute an. Die Filmemacherinnen Isabel Gathof, Sabine Lamby und Cornelia Partmann gewähren spannende Einblicke in die so wichtige Arbeit der Kämpferinnen und Kämpfer für Gerechtigkeit. Juristinnen und Juristen, auch von der Staatsanwaltschaft, erklären die komplizierten Abläufe im Rechtssystem, die begünstigen, dass es mehr als sieben Jahrzehnte dauert, Nazis den Prozess zu machen. LARS TUNÇAY

Final Cut of the Dead

Final Cut of the Dead

F/GB/J 2022, R: Michel Hazanavicius, D: Romain Duris, Bérénice Bejo, Grégory Gadebois, 112 min

Mit der Low-Budget-Zombie-Komödie »One Cut of the Dead« schuf Shin’ichirô Ueda 2017 einen echten Überraschungshit, der diese Bezeichnung mehr als verdient, wusste er doch erstens wirklich zu überraschen und wurde zweitens zumindest in seiner Heimat Japan zum Publikumserfolg. Nun lässt sich das schwer wiederholen, noch dazu übertragen auf den westlichen Kulturraum. Trotzdem schafft Michel Hazanavicius mit seinem Remix »Final Cut of the Dead« einen großen Spaß für Genrefans. Ein Grund dafür ist, dass sich der Regisseur – wie schon bei »The Artist«, seiner Hommage an die Stummfilmära – über Filmsprache, Klischees und die Konventionen des Horror-Genres Gedanken macht und sie gekonnt persifliert. Hazanavicius stapelt Metaebene über Metaebene und lässt im Film den Regisseur Rémi – herrlich hilflos verkörpert von Romain Duris – ein Remake des japanischen Erfolgs inszenieren. Der ist künstlerisch eh gerade ohne Plan und will den Draht zu seiner Teenager-Tochter nicht verlieren. Da tritt die seltsame japanische Produzentin in sein Leben und macht sich nicht nur über französische Gepflogenheiten lustig, sondern unterbreitet ihm auch ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. Was folgt, sind herrlich chaotische Dreharbeiten und eben eine zweite Ebene (und schließlich dritte im Abspann), die den Film noch mal auf den Kopf stellt. Das wirkt vielleicht nicht mehr ganz so frisch und unverbraucht, wenn man das Original kennt, aber der Spaß am Film ist allen Beteiligten anzumerken und überträgt sich mühelos aufs Publikum. LARS TUNÇAY

Die Frau im Nebel

Die Frau im Nebel

KOR 2022, R: Park Chan-wook, D: Park Hae-il, Tang Wei, Lee Jung-hyun, 139 min

Seit der Koreaner Park Chan-wook vor zwanzig Jahren mit dem gnadenlosen Rachedrama »Old Boy« auch im westlichen Kino aufschlug, hat er sich, wie kaum ein Zweiter, durch die Genres gearbeitet. Mal inszenierte er eine Liebesgeschichte (»I Am A Cyborg But That’s Okay«), mal eine Doku (»Bitter Sweet Seoul«), Horror (»Durst«) oder ein Historiendrama (»The Handmaiden«), starbesetztes Hollywood-Kino (»Stoker«) und zuletzt eine Serie über eine britische Mossad-Agentin (»The Little Drummer Girl«). Mit »Die Frau im Nebel« kehrt er nun zu einem Genre zurück, das die Filmemacher seiner Heimat beherrschen wie kein zweites. Doch Parks Variante des klassischen Cop-Thrillers ist dann doch eine andere: Er vermischt die spannende Jagd nach einem Mörder mit einer unerwarteten Liebesgeschichte und einem Schuss Humor und wandelt damit mehr denn je auf den Spuren des Meisters der Suspense, Alfred Hitchcock. Dabei ist der Plot, den Park mit seiner langjährigen Partnerin Chung Seo-kyung gesponnen hat, ebenso schwindelerregend wie die clevere Kamerarbeit von Kim Ji-yong (»Ashfall«). Der Großstadt-Cop Jang Hae-joon verfällt der verdächtigten Witwe Song Seo-rae, und schon bald versuchen wir jede ihrer Regungen zu lesen, um herauszufinden, ob sie ihren Mann um die Ecke gebracht hat oder nicht. Temporeich und meisterhaft zieht Park Chan-wook uns an der Nase durch sein Spiegelkabinett, bei dem manches Detail erst beim zweiten Hinschauen Sinn ergibt. LARS TUNÇAY

Close

Close

B/F/NL 2022, R: Lukas Dhont, D: Eden Dambrine, Gustav De Waele, Émilie Dequenne, 105 min

Léo und Rémi sind als beste Freunde in einer ländlichen Gegend Belgiens gemeinsam aufgewachsen. Ihre Freizeit verbringen sie fast immer zusammen, Léo übernachtet auch häufig im Haus von Rémi, ist für dessen Eltern zu so etwas wie einem zweiten Sohn geworden. Als die 13-Jährigen Jungs gemeinsam die Schule wechseln und in die Pubertät kommen, wird ihre Innigkeit und Nähe von den neuen Mitschülern kritisch beäugt. Es kommt zu Mobbing und dummen Kommentaren, was Léo dermaßen überfordert, dass er auf Distanz zu Rémi geht – mit dramatischen Folgen. Der neue Film des Belgiers Lukas Dhont (»Girl«) wurde im vergangenen Jahr in Cannes mit dem Großen Preis der Jury prämiert. Wie schon in seinem mehrfach ausgezeichneten Debütfilm über das Seelenleben einer 16-jährigen Transfrau bleibt auch »Close« ganz nah an der Erlebnisrealität seines jugendlichen Protagonisten. Der Film ist ausschließlich aus dem Blickwinkel Léos geschildert, weswegen es auch zu einigen Auslassungen kommt, die sich das Publikum selbst erschließen muss. Dhont nimmt sich die Zeit, die seine Figuren benötigen, um aus ihrer Bestürzung, ihrer Trauer und ihrer Hilflosigkeit herauszufinden, weshalb »Close« durch seine hohe Glaubwürdigkeit mitunter fast schon wie ein Dokumentarfilm anmutet. Die beiden grandiosen jugendlichen Hauptdarsteller, die hier zum ersten Mal vor der Kamera zu sehen sind, tragen dazu ebenfalls viel bei. FRANK BRENNER

Passagiere der Nacht

Passagiere der Nacht

F 2022, R: Mikhaël Hers, D: Charlotte Gainsbourg, Quito Rayon Richter, Noée Abita, 111 min

Nachdem Elisabeth von ihrem Ehemann verlassen wurde, muss die zweifache Mutter zum ersten Mal im Leben selbst für ihren Unterhalt sorgen. Sie erhält einen Job bei der nächtlichen Radiotalkshow von Vanda, muss die Anrufenden vorab darauf überprüfen, wie interessant ihre Geschichten sind. Dabei lernt sie eine junge Obdachlose kennen, mit der sie Mitleid hat und die sie schließlich in ihre Mansardenwohnung einziehen lässt. Auch Elisabeths Teenagerkinder sind bald Feuer und Flamme für die sympathische Talula, aber das Drogenproblem der 18-Jährigen wird die Familie in den folgenden Jahren immer wieder vor harte Prüfungen stellen. Mikhaël Hers hat »Passagiere der Nacht« in den Achtzigern angesiedelt und die Stimmung und Befindlichkeit im Paris jener Zeit atmosphärisch und facettenreich eingefangen. Sein Film wirkt aufgrund seiner opulenten Erzählweise und den zahlreichen Details fast wie eine überbordende Romanverfilmung, beruht aber auf einem originären Drehbuch. Das hat Hers zusammen mit zwei Co-Autorinnen sehr authentisch angelegt, so dass hier am Ende das spannende und lebensechte Porträt einer typischen französischen Kleinfamilie mit ihren Problemen herausgekommen ist. Charlotte Gainsbourg ist zwar der publikumswirksame Star dieses Films, doch die junge Noée Abita in der Rolle Talulas reißt mit ihrem entwaffnenden Charme und ihrem einfühlsamen Spiel den Film an sich. FRANK BRENNER

Unrueh

Unrueh

CH 2022, R: Cyril Schäublin, D: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, 93 min

Höflichkeit ist durchaus eine Tugend. Doch wie es darum bestellt, wenn ein Fabrikbesitzer, aufs Allerhöflichste drei Mitarbeiterinnen entlässt, weil sie Teil einer anarchistischen Bewegung sind? Oder wenn zwei Schutzmänner einer alten Frau mit Engelszungen erklären, dass sie nun leider für zehn Tage ins Gefängnis müsse, weil sie ihre Gemeindesteuern nicht bezahlt habe? Willkommen in Saint-Imier, einem kleinen Schweizer Bergdorf im Jahr 1877, berühmt für seine Uhrenproduktion. In »Unrueh« trifft hier der russische Kartograf und Anarchist Pyotr Kropotkin auf die Arbeiterin Josephine Gräbli, die in der Fabrik dafür zuständig ist, die titelgebende Unruh einzustellen, einen Mechanismus, der das Räderwerk einer Uhr zum Schwingen bringt. Regisseur Cyril Schäublin orientiert sich in seinem Film nur lose an seinen beiden Figuren. Sein Interesse gilt dem Dorfkosmos im letzten Drittel vor der Jahrhundertwende. Vor idyllischer Bergkulisse treffen anarchistische Ideen auf die beginnende Industrialisierung, Spaziergänger auf Fotografen, die Sammelbildchen verkaufen und Landschaftsaufnahmen schießen. »Unrueh« gelingt das Kunststück, mit langsamem Puls eine ganze Welt zu verhandeln. Viele Fragen werden dabei jedoch eher angerissen, als beantwortet und so schwebt auch etwas Rätselhaftes über diesem Film, der bei der Berlinale in der Sektion Encounters den Preis für die Beste Regie gewann. JOSEF BRAUN

The Banshees of Inisherin

The Banshees of Inisherin

USA/IRL, R: Martin McDonagh, D: Colin Farrell, Brendan Gleeson, Kerry Condon, 114 min

Inisherin, eine gottverlassene irische Insel in den 1920ern. Wer hier geboren ist, wird hier begraben. Deshalb streben nur wenige der Inselbewohner nach Größerem. Während Siobhan den eintönigen Alltag leid ist und von einem Leben auf dem Festland träumt, ist ihr einfach gestrickter Bruder Pádraic zufrieden. Gegen Mittag spaziert er mit seinem Esel zum Haus von Colm, um mit ihm gemeinsam in den örtlichen Pub zu wandern, wo die beiden in der Regel den Rest des Tages verbringen. Doch eines ganz gewöhnlichen Morgens hat Colm auf einmal keine Lust mehr auf die Gesellschaft von Pádraic und kündigt ihm die Freundschaft. Der konsternierte Pádraic kann das nicht begreifen und lässt nicht locker, auch als Colm zu drastischen Maßnahmen greift. Nach seinem zweifach oscarprämierten Drama »Three Billboards Outside Ebbing, Missouri« kehrt Martin McDonagh in seine irische Heimat zurück. »The Banshees of Inisherin« konzentriert sich voll auf seine zwei Hauptfiguren, kongenial verkörpert von Colin Farrell und Brendan Gleeson, mit denen er bereits sein Debüt »Brügge sehen … und sterben« inszenierte. Daneben glänzen Kerry Condon und Barry Keoghan, deren Figuren der tragischen Komödie Konturen verleihen. So offenbaren sich in dem scheinbar kleinen Kosmos der Insel Menschen mit Träumen, Hoffnungen und dem Drang nach Freundschaft und Verständigung. Das macht das achtfach oscarnominierte Drama universell und zeitlos. Und darüber hinaus zu einem absoluten Vergnügen für Freunde des schwarzen Humors. LARS TUNÇAY

Schlachthäuser der Moderne

Schlachthäuser der Moderne

D 2022, Dok, R: Heinz Emigholz, 80 min

Der Regisseur Heinz Emigholz ist seit Längerem für Experimentalfilme über Architektur und Raumentwicklung im Spätkapitalismus bekannt. Mit seiner neuesten Dokumentation »Schlachthäuser der Moderne« verwebt er widersprüchliche und räumlich weit getrennte Sphären virtuos zu einer dekolonialen Gesellschaftskritik. »Schlachthäuser der Moderne« ist die Verzweigung zweier Architekturstudien: »Salamone, Pampa« und »Mamani in El Alto«. Mit den beiden Filmstudien zeigt Emigholz die unterschiedlichen Wege kolonial geprägter Architektur wie auch die Entwicklung postkolonialer Architektur in Südamerika. Das Humboldtforum steht formal wie inhaltlich in der Mitte als Ausgangspunkt dieser Bewegung. Emigholz schlägt mit dem Beispiel Freddy Mamanis in El Alto eine Entkolonisierung von Architektur vor. Denn anstatt des barocken Humboldtforums mit seiner kolonialen Herrschaftsromantik soll im Herzen Berlins ein Tanzsaal im Stile Mamanis in grellbunten Farben stehen, worin der Sänger Kiev Stingl singt: »all the modern africans hate my system«. Die Verbindung verschiedener Entwicklungen postkolonialer Architekturgeschichte durch das Humboldtforum ist fürs Publikum nicht einfach nachzuvollziehen. Doch Emigholz präsentiert sie in einer Kompromisslosigkeit, die vor den Kopf stößt und eine grundsätzliche Debatte über das architektonische Erbe europäischer Kolonialgeschichte anregt. EYCK-MARCUS WENDT

Blueback – Eine tiefe Freundschaft

Blueback – Eine tiefe Freundschaft

AU 2022, R: Robert Connolly, D: Eric Bana, Mia Wasikowska, Ariel Donoghue, 102 min

Als ihre Mutter Dora einen Schlaganfall erleidet, kehrt die Meeresbiologin Abby zurück zu ihrem Heimatort an der westaustralischen Küste. Erinnerungen kommen hoch, wie Abby als Achtjährige beim Tauchen zum ersten Mal Blueback begegnete, einem seltenen Riesenlippfisch, der in der Bucht heimisch ist. Immer wieder besuchte das Mädchen ihren »Freund« und erlernte dabei einen rücksichtsvollen Umgang mit der Natur. Doch schon früh wurde das Riff durch das Ausbaggern für größere Schiffe bedroht und ein übler Investor ließ hemmungslos selbst geschützte Meereslebewesen wegfischen. Dora kettete sich an Baufahrzeuge und wurde von der Polizei festgenommen. Heute ist die kämpferische Aktivistin jedoch mit dem Einsatz der »feigen« Tochter nicht zufrieden. Auch auf dem weiteren Weg des Erwachsenwerdens will Dora nicht akzeptieren, dass Abby mit einem Studium der Meeresbiologie fern von zuhause einen anderen Weg sucht, die Natur zu retten. Aus dem gleichnamigen Roman von Tim Winton macht der australische Regisseur Robert Connolly (»The Dry«) eine überzeugende Öko-Geschichte. Der klassische Mix aus den aktuellen familiären Problemen und Jugend-Erinnerungen bekommt ökologisch die volle Punktzahl. Die Wasseraufnahmen sind großartig, für die mangelnde Originalität der ruhigen Geschichte gibt es allerdings etwas Abzug. GÜNTER JEKBZIK

In der Nacht des 12.

In der Nacht des 12.

F/B 2022, R: Dominik Moll, D: Bastien Bouillon, Bouli Lanners, Théo Cholbi, 114 min

Es ist eine schöne Herbstnacht im französischen Alpenstädtchen Saint-Jean-de-Maurienne, in der Clara von einem fröhlichen Partyabend mit Freundinnen nach Hause geht und plötzlich von einer unbekannten Person mit Benzin bespritzt und angezündet wird. Die Polizei kann am nächsten Tag nur noch ihre verkohlte Leiche finden und bemüht sich in den folgenden Wochen darum, den Fall aufzuklären. Doch es gibt lediglich schwache Indizien und sämtliche Verdächtigen aus Claras Umfeld scheinen unschuldig zu sein. Das beunruhigt und bewegt auch die zuständigen Kommissare Yohan und Marceau, denn je mehr Zeit verstreicht, desto aussichtsloser wird es, den Mörder oder die Mörderin zu verhaften. Gleich zu Filmbeginn erfährt das Publikum dann auch durch einige Texttafeln: »Fast 20 Prozent aller Morduntersuchungen bleiben ungelöst. Dieser Film erzählt von einem dieser Fälle.« Die Hoffnung, einen klassischen Krimi zu sehen, ist damit eigentlich sogleich begraben und auch die Inszenierung ist betont sachlich gehalten. Spannend und vor allem aufwühlend und dramatisch ist »In der Nacht des 12.« aber trotzdem, schildert Regisseur Dominik Moll (»Lemming«) die von wahren Ereignissen inspirierte Geschichte doch vor allem als engagierte Ermittlungsarbeit, Kampf gegen bürokratische Windmühlen und ernüchternde Abbildung einer Welt, in der manch schreckliche Tat einfach ungesühnt bleibt. Peter Hoch

Holy Spider

Holy Spider

DK/D/S/F 2022, R: Ali Abbasi, D: Zar Amir-Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Arash Ashtiani, 117 min

Nacht für Nacht tötet Saeed Azimi Prostituierte auf den Straßen Mashhads. Er sieht sich als Prophet Allahs, gesandt, um die Stadt zu reinigen. Tagsüber ist Saeed ein unbedarfter Familienvater, der allerdings deutliche Züge einer posttraumatischen Belastungsstörung aus seinem Kriegseinsatz mit sich trägt. Neun Frauen hat er bereits getötet, als die Kriminalreporterin Arezoo Rahimi in Mashhad ankommt. Die junge Frau trifft auf eine Mauer des Schweigens, auf Verachtung und Missgunst, als sie selbst beginnt zu ermitteln und dabei auch ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt. Drastisch und brutal schildert der Regisseur Ali Abbasi (»Border«) den wahren Fall als Neo-Noir-Thriller. Während die Taten schockieren, ist die Hilflosigkeit, mit der die Protagonistin den patriarchalischen Strukturen gegenübersteht, der eigentliche Horror. Die gnadenlose Inszenierung nimmt dem Publikum jede Sicherheit. Vor den Hintergründen des Mordes an einer jungen Frau durch die iranische Sittenpolizei bekommt Ali Abbasis Film eine brennende Aktualität. Zar Amir-Ebrahimi überzeugt als willensstarke Rahimi und erhielt in diesem Jahr verdientermaßen den Preis als beste Darstellerin in Cannes. Mehdi Bajestani als Saeed pendelt einnehmend zwischen dem liebevollen Umgang mit der Tochter und wahnhafter Brutalität. »Holy Spider« geht tief unter die Haut und ist nichts für Zartbesaitete. Die alltägliche Realität für die Frauen im Iran ist aber wohl noch wesentlich grausamer. Lars Tunçay

Acht Berge

Acht Berge

I/B/F 2022, R: Charlotte Vandermeersch, Felix van Groeningen, D: Luca Marinelli, Alessandro Borghi, Filippo Timi, 147 min

Mit der bittersüßen, musikalischen Liebesgeschichte »The Broken Circle« schufen Charlotte Vandermeersch und Felix van Groeningen das Drehbuch zu einem der emotional kraftvollsten Filme des vergangenen Jahrzehnts. Mit »Acht Berge« adaptierten sie nun den gleichnamigen Roman von Paolo Cognetti erneut als Gemeinschaftsprojekt und führten auch erstmals gemeinsam Regie. Über mehrere Jahrzehnte hinweg erzählt der Roman von der Freundschaft zweier Jungs, deren Wege sich in einem kleinen Bergdorf im italienischen Aostatal kreuzen. Pietro kommt aus der Stadt, Bruno ist das letzte Kind in der entlegenen Siedlung. Trotz ihrer Gegensätze werden sie Freunde. Ihr Heranwachsen zu Männern lässt sie auseinander driften. Das Schicksal führt sie schließlich wieder zusammen. Ganz getragen von der mächtigen Naturkulisse und den zwei überzeugenden Hauptdarstellern Luca Marinelli (»Martin Eden«) und Alessandro Borghi (»Suburra«) erzählt »Acht Berge« von unterschiedlichen Lebenswegen und Konzepten, dem Verlust von und dem sturen Festhalten an Idealen. Einfühlsam und warmherzig führt er uns zweieinhalb Stunden durch zwei Leben. Es geht um Familie, Freundschaft und Verlust – nicht weniger als die elementaren Dinge, die unser aller Leben bestimmen. Bei den Filmfestspielen in Cannes gab es dafür den Großen Preis der Jury. Die »Acht Berge« zu erklimmen, ist ein Kraftakt, aber die Aussicht von der Spitze ist wahrhaftig und wundervoll. LARS TUNÇAY

Aftersun

Aftersun

GB/USA 2021, R: Charlotte Wells, D: Paul Mescal, Frankie Corio, Celia Rowlson-Hall, 102 min

Genau wie Träume am nächsten Morgen verflüchtigen sich auch die Erinnerungen an die unendlichen Stunden gelebten Lebens mit der Zeit, da helfen auch Tagebücher nur bedingt. Das ist auch der Grund, weshalb sich Charlotte Wells’ beeindruckendes Filmdebüt »Aftersun« nicht in erster Linie aus Worten zusammensetzt, sondern aus Eindrücken. Die elfjährige Sophie und ihr Vater Calum urlauben in einem türkischen Ferienresort; es ist wohl der letzte Sommer in dieser konkreten Konstellation. Die beiden sind ein gutes Team, können mit Abstand und Nähe umgehen und respektieren die Grenzen des anderen. Nichts Unbotmäßiges fällt vor, doch die Atmosphäre des Films siedelt immer am Rande des Unheimlichen. Später versteht man, dass man es mit einer Rückblende zu tun hat, doch die erzählt kaum etwas Spezifisches, sondern knöpft sich die Struktur der Erinnerung an sich vor. Was in den Tiefen der Vergangenheit nach und nach verschwimmt, ist für die Dauer von »Aftersun« wieder zurück an der Oberfläche. Schwer zu sagen, wie der Regisseurin diese Gefühlstransplantation gelingt. Der Film ist nicht nur ein stilles Spektakel, sondern wirkt auch erzählerisch wie etwas völlig Neues und Unverbrauchtes. Am Ende fühlt es sich an, als hätte man anderthalb Stunden unter Hypnose verbracht und bei der Gelegenheit sein Unterbewusstsein aufgeräumt. »Aftersun« erinnert sich an mehr, als die meisten Menschen vergessen. MARKUS HOCKENBRINK

An einem schönen Morgen

An einem schönen Morgen

F/GB/D 2022, R: Mia Hansen-Løve, D: Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, 112 min

Sandra ist Mitte 30 und lebt in Paris. Sie zieht ihre Tochter alleine groß und arbeitet als Übersetzerin. Daneben kümmert sich liebevoll um ihren dementen Vater. Doch eines Tages muss sie realisieren, dass sie ihm nicht mehr helfen kann. Auf Drängen ihrer geschiedenen Mutter macht sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Heim. Doch die staatlichen Einrichtungen sind heruntergekommen und überlastet, die privaten kostspielig. Als Sandra droht, unter der Belastung zusammen zu brechen, trifft sie auf Clément, einen alten Freund, für den sie neue Gefühle entdeckt. Realistisch und einfühlsam schildert Mia Hansen-Løve das Schicksal einer Frau in den Dreißigern. Ihr Spiel aus Entscheidungen, verpassten Chancen und möglichen Abzweigungen auf dem Weg des Schicksals bleibt stets nachvollziehbar und geerdet. Dafür sorgen auch die starken Schauspieler: Der preisgekrönte Charakterdarsteller Pascal Greggory (»La Vie En Rose«) spielt den Vater, einen ehemaligen Professor, dem die Worte entrissen wurden, mit berührender Intensität, Melvil Poupaud (»Laurence Anyways«) den Freund, hin und hergerissen zwischen seiner Liebe zu Sandra und der Ehe mit Frau und Tochter. Das Zentrum ist aber die überragende Léa Seydoux (»Blau ist eine warme Farbe«), die Sandra mit Hingabe verkörpert und eine tiefe Traurigkeit mit bedingungsloser Liebe in sich vereint. LARS TUNÇAY

Call Jane

Call Jane

USA 2022, R: Phyllis Nagy, D: Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Chris Messina, 122 min

Wie die schwangere Joy von einem Kreis heftig rauchender Ärzte erfährt, dass ihr eigenes Leben im Vergleich zum ungeborenen nichts wert sei, wäre gute Satire – wenn es nicht so furchtbar wahr ist: 1968 in Chicago, die Schwangerschaft schwächt das Herz der wohlsituierten Anwaltsgattin lebensbedrohlich, doch Abtreibung wird selbst in solchen Fällen nicht erlaubt. Alleine dem Horror illegaler Schwangerschaftsabbrüche ausgesetzt, bringt ein Aushang die Rettung: »Pregnant? Need help? Call Jane!«. Tatsächlich verbarg sich hinter dem Namen Jane nach historischen Fakten ein Kollektiv engagierter Frauen. Die Hauptrolle der sich mutig emanzipierenden Joy zeigt in vielen Nuancen zwischen Angst und Euphorie die auf diese Weise selten zu sehende »lustige Blondine« Elizabeth Banks. Dass der anhaltende Kampf um selbstbestimmtes Leben für Frauen wieder in einem starken historischen Film behandelt wird, ist nicht nur wegen der neuerlichen Entscheidung des Supreme Court leider brennend zeitgemäß. »Call Jane« begeistert dabei vor allem zu Beginn mit vielen, genau beobachteten Details, welche Zeitumstände und Leben einer hochintelligenten Frau in der Nixon-Ära nachempfinden lassen. Das »Jane Collective« führte, bis es 1972 aufflog, circa 11.000 Abtreibungen durch, ohne dass eine Frau dabei starb. Diese Arbeit wurde 1973 unnötig, als sich der Supreme Court im Fall »Roe v. Wade« für das Recht auf Abtreibung aussprach. GÜNTER JEKUBZIK

Mehr denn je

Mehr denn je

F/D/LUX/N 2022, R: Emily Atef, D: Vicky Krieps, Gaspard Ulliel, Björn Floberg, 122 min

Héléne stirbt. Eine seltene Lungenkrankheit hat sie geschwächt. Eine Heilung scheint aussichtslos. Ihre einzige Hoffnung ist eine Transplantation. Doch die ist hoch riskant. Die junge Frau verschanzt sich in ihrem Appartement. Auch ihr Freund Mathieu kommt nicht an sie heran. Auf der Suche nach einem Weg, mit der Situation umzugehen, entdeckt sie den Blog von »Mister«, der über seine Krankheit schreibt und Héléne berührt. Sie lässt ihren besorgten Freund zurück und reist nach Norwegen, um an einem entlegenen Fjord »Mister« zu treffen und zu sich selbst zu finden. In »Mehr denn je« schildert Regisseurin Emily Atef (»3 Tage in Quiberon«) einfühlsam das Innenleben einer Sterbenskranken. Es sei für Außenstehende nicht nachvollziehbar, was ein Sterbender fühlt, sagt Héléne zu Beginn und beendet damit alle Diskussionen ihrer Freunde, wie sie mit der Situation umzugehen hat. Das eindringliche Spiel von Vicky Krieps (»Corsage«) und die behutsame Regie von Atef geben uns dennoch einen Einblick. Der plötzliche Unfalltod von Hauptdarsteller Gaspard Ulliel (»Mathilde – Eine große Liebe«) verleiht dem ehrlichen und berührenden Film eine zusätzliche, tragische Melancholie. Die Premiere im Rahmen der Sektion »Un Certain Regard« bei den Filmfestspielen in Cannes hat er nicht mehr erleben können. LARS TUNÇAY

Sibirisch für Anfänger

Sibirisch für Anfänger

R/JAK 2021 2021, R: Stepan Burnashev, Dmitry Davydov, D: Innokentiy Lukovtsev, Sergei Balanov, Djulustan Semyonov, 103 min

Ein Junge nimmt das Gewehr seines Vaters und verleiht es an einen Freund, wo es sich inmitten eines Trinkgelages wiederfindet. Der störrische Davyd gräbt unbeirrbar ein Plumpsklo neben dem Gemüse seiner Nachbarn und zieht damit deren Groll auf sich. Petya hat das Haus seiner Großmutter verkauft, doch als er das Geld nach einer Sauftour mit stolz geschwellter Brust seiner Frau präsentieren will, ist es weg und der Nachbar hat ein neues Auto. Als ein Dorfbewohner schwer alkoholisiert seine Familie mit der Waffe bedroht, muss der Dorfälteste einschreiten, bevor die Situation eskaliert. Sieben tragikomische Geschichten vom anderen Ende der Welt erzählen Stepan Burnashev und Dmitrii Davydov. Wobei die Tragik hier oft die Überhand hat, alle Geschichten aber ein lakonischer Humor durchzieht. Hier, in der Republik Sacha am Ostsibirischen Meer, sind die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen. Hier machen Gerüchte schnell die Runde und werden für Wahrheiten genommen. Die Gespräche sind karg, die Tage wie Nächte alkoholgeschwängert und mit dem Vodka beginnen und enden oft die Probleme. In statischen, ausdrucksstarken Bildern erzählt der im Deutschen reichlich ungelenk betitelte Episodenfilm von falschem männlichen Stolz und der menschlichen Fehlbarkeit, inszeniert mit Laiendarstellern vor der endlosen Landschaft. Beim Filmfestival in Warschau gewann der Film dafür den Jurypreis. LARS TUNÇAY

Neptune Frost

Neptune Frost

RUM/USA 2021, R: Anisia Uzeyman, Saul Williams, D: Cheryl Isheja, Bertrand Ninteretse, Eliane Umuhire, 105 min

Jedes Smartphone und jeder PC, den wir tagtäglich benutzen, wurde unter Ausbeutung von Menschen in Afrika hergestellt, weil dafür Metalle der Seltenen Erden notwendig sind. »Neptune Frost« von Saul Williams und Anisia Uzeyman nimmt sich dieses Themenkomplexes rund um den Metallabbau an, bei dem Unterdrückung, Ausbeutung und korrupte Staatsgeschäfte an der Tagesordnung sind. Im Mittelpunkt steht der als Junge geborene Neptune, der mittlerweile eine Transformation zur Frau (ähnlich dem »Orlando« von Virginia Woolf) vollzogen hat und zu einer Art Sprachrohr für die Ausgebeuteten wird. Als »Martyr Loser King« stellt er/sie sich dem Militär und der Polizei entgegen und entfesselt unter den Arbeitern und Studenten eine Revolte für mehr Anerkennung und gerechte Arbeitsbedingungen. Dies ist nur einer der vielen guten und wichtigen Ansätze die »Neptune Frost« behandelt, aber die Umsetzung dürfte es dem Film schwermachen, ein breites Publikum zu finden. Die sehr stilisierten, teilweise geradezu kryptischen Dialoge sind inspiriert von »Geschichten, die über Generationen gesponnen« wurden (wie es einmal im Film heißt), von traditionellen Liedern, die von den Protagonisten und Protagonistinnen dargeboten werden, oder von Science-Fiction-Ideen, die in erster Linie in der gelungenen visuellen Umsetzung zitiert werden. Ein sperriger und keineswegs leicht zugänglicher Film, der gleichwohl thematisiert, was von uns viel zu oft verschwiegen oder verdrängt wird. FRANK BRENNER

Verlorene Illusionen

Verlorene Illusionen

F 2021, R: Xavier Giannoli, D: Benjamin Voisin, Cécile de France, Vincent Lacoste, 150 min

Frankreich in den 1820ern: Dem naiven Dichter Lucien raubt der Provinzmief seines Heimatstädtchens die Luft zum Atmen. Immerhin seine verheiratete Geliebte Louise de Bargeton erkennt sein Talent und fördert ihn. Als ihre Affäre auffliegt, flüchten beide nach Paris, wo Luciens adelige Gönnerin dabei scheitert, ihn in die höheren Gesellschaftsschichten einzuführen – und ihn fallen lässt. Nach einer Weile findet der junge Mann Beschäftigung bei einer Zeitung, wo er sich als Kritiker von Bühnenstücken, Romanen und Persönlichkeiten einen Namen macht. Luciens wachsende Gier nach Ansehen und Reichtum und die der Regenbogenpresse nach Sensationen und Skandalen korrumpieren den wortgewandten Journalisten jedoch zusehends und lassen ihn schließlich Erfundenes nach Wunsch des Meistbietenden schreiben. Regisseur Xavier Giannoli hat einen der bekanntesten Romane Honoré de Balzacs entschlackt und aufs Wesentliche reduziert. Sein Film ist einerseits klassisches, perfekt besetztes und opulent bebildertes Historienkino, erzählt andererseits aber auch von einer früh aus dem Ruder gelaufenen Medienwelt, deren übelste Auswüchse unter den Begriffen »Fake News« und »Influencer« heute präsenter sind denn je. Bei der 47. Verleihung des »César«, des wichtigsten französischen Filmpreises, hagelte es dafür im Februar bei rekordreifen fünfzehn Nominierungen sieben Trophäen, darunter eine für den besten Film. PETER HOCH

Zeiten des Umbruchs

Zeiten des Umbruchs

USA 2022, R: James Gray, D: Anne Hathaway, Jeremy Strong, Banks Repeta, 115 min

Das Werk des New Yorker Autors und Regisseurs James Gray ist außergewöhnlich. Egal, ob er nun einen Liebesfilm (»Two Lovers«), Abenteuerkino (»Die versunkene Stadt Z«) oder sein Science Fiction (»Ad Astra«) inszeniert – keiner seiner Filme bedient Genreklischees. Seine Handschrift äußert sich vielmehr in einer kitsch- und klischeefreien Erzählung. 18 Jahre nach seinem Debüt »Little Odessa« kehrt er nun zu seinen Wurzeln und in den New Yorker Stadtteil Queens zurück. Er schildert das Erwachsenwerden von Paul Graff, Sohn einer Familie jüdischer Einwanderer, in den 1980er Jahren. In dem gut situierten Elternhaus herrscht immer Leben. Paul nimmt kein Blatt vor den Mund, was im schon mal eine Backpfeife einbringt. Das Herz der Familie ist der Großvater Aaron Rabinowitz, der Paul von der Flucht ihrer Familie aus Nazideutschland erzählt und ihm Toleranz und Mitgefühl mit auf den Weg gibt. Beides wird getestet, als Paul sich mit dem afroamerikanischen Jungen Johnny Davis anfreundet und ihm ihre unterschiedliche Herkunft deutlich wird. James Gray erzählt von Alltagsrassismus und Zivilcourage und bettet seine autobiografisch geprägte Geschichte in den warmen Schoß der Familie. Das Herz der Mischpoke ist der wunderbare Sir Anthony Hopkins, dessen Leinwandpräsenz dem Film eine warmherzige Aufrichtigkeit verleiht und der mit Hauptdarsteller Banks Repeta wunderbar interagiert. LARS TUNÇAY