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Rezensionen

Everything will change

Everything will change

D/NL 2021, R: Marten Persiel, D: Noah Saavedra, Jessamine-Bliss Bell, Paul G. Raymond, 92 min

Im Jahr 2054 sind Flora und Fauna quasi ausgestorben, Menschen tragen einen Chip im Brustbein und haben den Glauben an Bilder längst verloren. Ben lebt mit seiner Freundin Cherry und seinem Freund Fini in einer Dreiecksbeziehung inmitten dieser Dystopie. In einem Antiquariat findet er das Foto einer Giraffe und das Weltbild der Freunde kippt. Kann das echt sein? Die drei Antihelden entdecken auf einem Roadtrip, was die Menschheit an Artenvielfalt und Biodiversität verloren hat. Bisher haben sie nichts vermisst, das sie nicht kannten, doch das ändert sich nun: Sie unternehmen eine Zeitreise ins Jahr 2020, um die Menschen (vor den Bildschirmen) zu warnen. Marten Persiel hat mit »Everything will change« ein Science-Fiction-Drama mit Doku-Elementen gedreht. Leider ist das gewagte Konzept nicht stimmig: Im Doku-Teil lässt Persiel zwölf Expertinnen und Experten zu Wort kommen, von denen man erst im Abspann erfährt, wer sie sind. Der immensen Fülle ihrer Botschaften fehlt ein roter Faden, sie bleibt Nebenprodukt der eigentlichen Storyline trotz hochinteressanter Fakten. Neben der ohnehin komplizierten filmischen Struktur überlädt das den Film. Aber es gehört Mut dazu, so radikal mit filmischen Konventionen zu brechen. Die Idee, statt einer düsteren Prognose eine Zeitreise in den natürlichen Reichtum zu unternehmen, ist erfrischend. Eine Erinnerung an unsere Verantwortung für die Welt von morgen. Sarah Nägele

Corsage

Corsage

H/LUX/F/D/A 2022, R: Marie Kreutzer, D: Vicky Krieps, Florian Teichtmeister, Manuel Rubey, 112 min

Wien, 1877: Kaiserin Elisabeth ist müde. Der Alltag zu Hofe langweilt sie nur noch. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, ihr Haar zu flechten und die Krone zu repräsentieren. Dabei würde sie lieber reisen und lieben. Doch die Ehe zu Franz Joseph ist erkaltet. Das kaiserliche Paar verbindet nur noch die jüngste Tochter Valerie, die sich allerdings immer mehr von ihrer Mutter entfremdet. Elisabeth wird zunehmend impulsiver und bricht bei jeder Gelegenheit aus dem goldenen Käfig aus. Der ständige Blick der Öffentlichkeit auf ihr Leben und das Korsett der Monarchie drohen ihr die Luft abzuschneiden. Marie Kreutzers (»Der Boden unter den Füßen«) verspieltes Porträt der Kaiserin in ihrem 40. Lebensjahr hat nichts vom Kitsch vergangener »Sissi«-Filme. Ihr Blick auf die ausgehende österreichische Monarchie ist melancholisch geprägt. Die kunstvoll fotografierten herrschaftlichen Kulissen tragen Patina. Ihre Elisabeth – virtuos verkörpert von Vicky Krieps (»Der seidene Faden«) – ist eine moderne Frau, eigenwillig und widerspenstig. Ihre Inszenierung kunstvoll und modern und mit einem Augenzwinkern. Wie schon bei Sofia Coppolas »Marie Antoinette« verlangt die Monotonie zu Hofe jedoch einiges an Geduld vom aufgeschlossenen Publikum. Während Coppola Antoinette jedoch zeitgemäß als Rokoko-Popstar inszenierte, ist Kreutzers Elisabeth eine greifbare Figur mit Bedürfnissen. Lars Tunçay

Jurassic World – Ein neues Zeitalter

Jurassic World – Ein neues Zeitalter

USA 2022, R: Colin Trevorrow, D: Chris Pratt, Bryce Dallas Howard, Sam Neill, 146 min

Das Treffen der Helden von »Jurassic World« mit den vorzeitlichen Figuren des 90er-Hits »Jurassic Park« ist ein großer Spaß. Wenn dann noch Dinosaurier-Action hinzukommt, ist der Kassenhit fertig. Schon wenn Cowboys im Schnee besonders große Rinder einfangen, ist das in 3D ein tolles Spektakel, denn gejagt werden zahme Saurier, die hier im Norden Amerikas weiden. Nebenan im Sägewerk müssen erst Riesen-Dinos geweckt werden, bevor die Arbeit weitergehen kann. Seit den Ereignissen des letzten Films »Jurassic World: Das gefallene Königreich« (2018) im Dino-Reservat Isla Nublar tummeln sich die Urzeit-Riesen frei auf dem Festland, neben und zwischen den Menschen. Dinosaurier-Experte Owen Grady (Chris Pratt), und seine große Liebe Claire Dearing (Bryce Dallas Howard) leben friedlich in einer Blockhütte, soweit es der rebellische Teenager Maisie Lockwood (Isabella Sermon) erlaubt. Maisie ist allerdings ebenso im Visier übler Gestalten wie das süße Dino-Baby vom Velociraptor Blue. Nach der Entführung beider Kinder beginnt eine Jagd rund um die Welt, die zum mysteriösen und mächtigen Biotech-Unternehmen namens Biosyn führt. Auf Madagaskar wird der erste Rettungsversuch zu einem Katz-und-Maus-Spiel mit tödlichen Sauriern: Die Schurken sorgen mit einer Kombination aus hochmoderner militärischer Laser-Kennung und animalischem Jagdinstinkt der Vorzeit für lange Verfolgungsjagden. Nach dem gelungenen Action-Mittelteil wird die gesamte Belegschaft zum Labor von Biosyn in ein Dolomiten-Tal geflogen. Dort kommt es im letzten Drittel endlich zum Treffen mit den Alt-Stars Laura Dern, Sam Neill und Jeff Goldblum aus Steven Spielbergs »Jurassic Park«, die in einer Parallelhandlung eingesammelt wurden. Jede der vielen Filmminuten von Regisseur Colin Trevorrow liefert tolle Popcorn-Unterhaltung. Bei all dieser digitalen Kreativität liegt der Clou von »Jurassic World: Ein neues Zeitalter« allerdings im generations-übergreifenden Treffen der Hauptfiguren. GÜNTER JEKUBZIK

Stasikomödie

Stasikomödie

D 2022, R: Leander Haußmann, D: David Kross, Antonia Bill, Deleila Piasko, 116 min

In der Gegenwart kann Ludger Fuchs endlich in seine alte Stasi-Akte schauen. Neben Unterlagen über den früheren Widerstandskämpfer befindet sich darin auch ein zerrissener Liebesbrief. Seine Frau wird hellhörig, denn sie ist sich sicher, dass die beiden zu der Zeit schon zusammen waren. Ludger erinnert sich an die achtziger Jahre zurück, seine Zeit in der Berliner Kulturszene, die undurchschaubare Natalie und seine geheime Laufbahn als Spitzel der Stasi. Im deutschen Film gibt es Werke über die DDR wie Sand am Meer. Zumeist sind das ernste Dramen oder spannende Thriller. Vielleicht ist es da schon ein Statement, dass Regisseur Leander Haußmann genau das Gegenteil gemacht hat. Die »Stasikomödie« ist nicht nur der dritte und letzte Teil seiner DDR-Trilogie, sondern auch alles andere als konventionell. Das liegt an der Tonalität des Films, denn der wird seinem Namen allemal gerecht. Haußmann gelingt es, die Emotionen, Handlungen und Konflikte seiner Figuren nachvollziehbar und oft sympathisch zu inszenieren. Das ist bemerkenswert, weil Albernheit, überdrehte Figuren und unkonventionelle Ideen hier immer wieder an einen Humor erinnern, den Monty Python geprägt hat und den man zuletzt herausragend in »Jojo Rabbit« erleben konnte. Dem jungen Ludger (David Kross) und seiner Zerrissenheit zwischen Systemtreue und freiem, kreativen Leben schaut man deshalb genauso gerne zu, wie dem grotesk, überdrehten Henry Hübchen als Stasi-Offizier. Wenn diese überdrehte Albernheit funktioniert, ist das die große Stärke des Films, doch wo bei wichtigen Figuren der Balanceakt zwischen komischen Handlungen und plausiblen Figurenmotivationen gelingt, sind einige Nebenfiguren eine Karikatur ihrer selbst. Diese forcierten Witze braucht es deshalb ebenso wenig wie die Rahmenhandlung der Gegenwart. Ihr ist geschuldet, dass der Film rund 20 Minuten braucht, um in Fahrt zu kommen. Sie sorgt zwar für Versöhnung und Pathos, aber das Wichtigste ist hier eh der Humor und das Vorführen der Stasi. KAI REMEN

A E I O U – Das Alphabet der Liebe

A E I O U – Das Alphabet der Liebe

D 2022, R: Nicolette Krebitz, D: Sophie Rois, Udo Kier, Milan Herms, 105 min

Anna ist eine erfolgreiche Schauspielerin, die auf eine lange und beeindruckende Karriere zurückblicken kann. Trotzdem erklärt sie sich einverstanden, Adrian, einem ins soziale Abseits geratenen jungen Mann, der bei einer Pflegefamilie aufwächst, Sprechunterricht zu erteilen. Dadurch und durch Adrians Mitwirken in einem Schultheaterstück erhofft man sich, dass sich auch seine schulischen Leistungen verbessern. Als Anna erkennt, dass Adrian ihr vor einigen Tagen die Handtasche gestohlen hat, ist sie gleichermaßen aufgewühlt und fasziniert von dieser Tatsache, lässt sich aber auf das Lehrerin-Schüler-Verhältnis ein, das sich bald in eine andere Richtung entwickelt. Die Filme der Schauspielerin Nicolette Krebitz (»Wild«, »Das Herz ist ein dunkler Wald«) lassen sich meist nicht in gängigen Filmkonventionen fassen und sprechen deswegen in erster Linie ein experimentierfreudiges und aufgeschlossenes Publikum an. Das ist auch bei »A E I O U« nicht anders, dessen Handlung immer wieder neue, überraschende Haken schlägt und ganz auf die grandiose Sophie Rois in der Hauptrolle zugeschnitten ist. Die originelle Geschichte kann einige inszenatorische Durchhänger auffangen. Dem Newcomer Milan Herms (als Adrian) und Nebendarsteller Udo Kier bietet der Film, der seine Premiere im Wettbewerb der Berlinale feierte, darüber hinaus Gelegenheit, in dankbaren und authentisch gezeichneten Rollen ihr Schauspieltalent zur Geltung zu bringen. Frank Brenner

Belle

Belle

J 2021, R: Mamoru Hosoda, 122 min

Ihre Mutter ertrank in einem Fluss, als sie ein anderes Kind rettete, seitdem kann Suzu nicht mehr singen. Damals war sie sechs, inzwischen ist sie siebzehn, konnte das Trauma aber nie verarbeiten. Die Gelegenheit, sich aus ihrer Melancholie in eine andere Realität zu flüchten, bietet sich, als Suzu von einer virtuellen Welt namens U erfährt. Mit dem Foto der Schulschönheit Luka baut sich das unscheinbare Mädchen einen Avatar und schafft sich in U ihre Traum-Identität. Hier findet sie ihre Stimme wieder und steigt unter dem Nickname Belle schnell zur gefeierten Sängerin auf. Doch in der scheinbar kontrollierbaren Welt treibt ein »Biest« sein Unwesen. »Die Schöne und das Biest« als Animé-Update: Mit viel Gespür für die Generation seiner Heldin verquickt Regisseur Mamoru Hosoda (»Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft«) die märchenhafte Romantik der Geschichte, die Realität der Teenager und die Texturen der digitalen Welt (inklusive Chat-Bubbles und Hashtags) zu einem berührenden Coming-of-Age-Trip. Virtueller Eskapismus und Influencer-Kult werden nicht verdammt, stattdessen wird ihnen eine Message entgegengesetzt: Finde dich und sei du selbst, dann wird am Ende alles gut. Im Gegensatz zu den meisten US-Produktionen mit ähnlicher Botschaft nimmt sich Hosoda viel Zeit und Raum, um dieses innere Werden inmitten überbordender Bilderbögen wirklich zu erzählen – und zitiert dabei sogar den Disney-Klassiker »Beauty and the Beast«. Karin Jirsak

Der schlimmste Mensch der Welt

Der schlimmste Mensch der Welt

N/F/DK/S 2021, R: Joachim Trier, D: Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum, 128 min

Ihre Mutter war mit 30 schon verheiratet, ihre Oma bereits zweifache Mutter und ihre Ur-Ur-Ur-Ur-Großmutter bereits gestorben. Julie ist Ende zwanzig und hat keine Ahnung, was sie will. Sie hat Medizin studiert, bis sie feststellte, dass sie doch lieber Fotografin sein will. Sie fängt eine Beziehung an, nur um sich neu zu verlieben. Als sie in der intellektuellen Künstlerszene Oslos den gefeierten Underground-Comickünstler Aksel kennenlernt, verliebt sie sich sofort. Die beiden scheinen sich zu ergänzen, führen lange Gespräche bis tief in die Nacht. Als Julie auf Eivind trifft, setzt es in ihr einen Gedanken frei, der die Nähe zu Aksel zerstört. Die scheinbar unendliche Vielzahl der Möglichkeiten unserer Zeit offenbart eine trügerische Freiheit, die sich zum Gegenteil wendet. Das Versprechen, alles sein zu können, steht der Entscheidung im Weg. Joachim Trier (»Reprise«) analysiert diese Krankheit einer Generation in seinen Filmen mit genauem Blick. Seine sorgfältig ausgearbeitete Geschichte in zwölf Kapiteln, Pro- und Epilog spiegelt die menschlichen Verhaltensweisen mit all ihren Fehlern und Widersprüchen. Sein Film trifft einen universellen Nerv, zu Recht regnete es daher Lob und Preise weltweit. Zu sehr großen Teilen ist das auch seiner Hauptdarstellerin Renate Reinsve zu verdanken, die in Cannes vollkommen verdient als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Lars Tunçay

Glück auf einer Skala von 1 bis 10

Glück auf einer Skala von 1 bis 10

F/CH 2022, R: Alexandre Jollien, Bernard Campan, D: Alexandre Jollien, Bernard Campan, Tiphaine Daviot, 92 min

Bestattungsunternehmer Louis ist ein Meister seines stillen Fachs. Unaufdringlich kümmert er sich um die Wünsche vorausplanender Menschen und trauernder Hinterbliebener. Nach einem Hausbesuch gerät er eines Tages in den Gegenverkehr und drängt Transportdreiradfahrer Igor von der Straße eine Böschung hinunter. Glücklicherweise ist der körperbehinderte Mann nur leicht verletzt und nachdem Louis im Krankenhaus noch einmal pflichtschuldig nach ihm gesehen hat, trennen sich ihre Wege. Vorerst, denn Igor – sympathisch, belesen, stets freundlich und höflich, aber aufgrund seiner Behinderung vom sozialen Leben oft ausgeschlossen – hat sich in den Kopf gesetzt, den spröden Bestatter als Freund zu gewinnen. Der Mix aus Road- und Buddymovie fügt dem überstrapazierten Genre »französischer Wohlfühlfilm« nicht von ungefähr einen der gelungensten Einträge der letzten Jahre hinzu: Regisseur und Louis-Darsteller Bernard Campan und Schauspieldebütant Alexandre Jollien, der zu den profiliertesten Philosophen Frankreichs zählt und mit zerebraler Kinderlähmung geboren wurde, sind seit Jahren befreundet und haben sich ihre Rollen selbst auf den Leib geschrieben. Zwar recht vorhersehbar, aber mit gut dosiertem Humor und jeder Menge Respekt und Liebe für ihre Figuren nehmen sie das Publikum mit auf die Reise zweier Menschen, die sich erst gemeinsam dazu aufschwingen, im echten Leben anzukommen. Peter Hoch

Lingui

Lingui

TSA/B/D/F 2021, R: Mahamat-Saleh Haroun, D: Achouackh Abakar, Rihane Khalil Alio, Youssouf Djaoro, 88 min

Mit »Lingui« kehrt Regisseur Mahamat-Saleh Haroun wieder ins Land seiner Geburt, den Tschad, zurück. Die erste Einstellung zeigt die Protagonistin Amina, eine Frau mittleren Alters, im Staub ihres Hinterhofs, wo sie LKW-Reifen aufschlitzt und mit großer Kraftanstrengung Metall aus dem Gummi zieht, um anschließend Feuerkörbe daraus zu weben. Eine harte Arbeit, doch Amina bleibt keine andere Wahl. Von ihrer Familie verstoßen, muss sie für sich und ihre Tochter Maria sorgen. Dann wiederholt sich die Geschichte: Wie einst Amina wird Maria schwanger und weiß gleich, dass sie kein Kind bekommen möchte. Das Problem: Schwangerschaftsabbrüche sind im Tschad illegal und aus religiöser Sicht eine Schande. Keine leichte Situation für Mutter und Tochter. Zunehmend verzweifelt suchen sie nach Ärzten, reden mit Heilerinnen, sammeln Geld und müssen dabei jederzeit befürchten, verhaftet zu werden. Aufnahme für Aufnahme rennen sie von einem Ort zum anderen, verirren sich in den engen Gassen ihrer Gegend, zwischen Lehmwänden und knatternden Motorrädern. Ihr Viertel ist genauso ein Labyrinth für sie wie die patriarchale Gesellschaft, die sie herumstößt. Realistisch muten die Bilder in »Lingui« an. Umweltgeräusche dringen in sie ein, herumstreunende Tiere queren sie. Immer wieder nähert sich Haroun seinen beiden Protagonistinnen auch mit Großaufnahmen. Vor allem zum Ende hin wird sein Film zu einem überzeugenden Dokument weiblicher Solidarität. Josef Braun

Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel

Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel

F/J/D/B/I/KPU 2021, R: Arthur Harari, D: Yûya Endô, Kanji Tsuda, Yûya Matsuura, 173 min

Als der junge Soldat Hiro Onoda mit seiner Einheit auf der philippinischen Insel Lubang landet, begleitet ihn eine streng geheime Order: Sie sollen die Insel halten, koste es, was es wolle. Doch es ist das Jahr 1945 und der Krieg für die Japaner so gut wie verloren, der Angriff der Amerikaner verheerend. Onodas Einheit wird vernichtet. Japan kapituliert. Doch davon bekommen der Soldat und die verbliebenen Männer nichts mit. Immer tiefer ziehen sie sich zurück in den Dschungel. Hunger und Angst treiben sie allmählich in den Wahnsinn. Basierend auf den Aufzeichnungen des letzten Soldaten des Krieges und seiner 10.000 Nächte im Dschungel inszenierte der Franzose Arthur Harari ein dichtes Drama, das den Konflikt zwischen fanatischer Pflichterfüllung und der menschlichen Natur schildert. Gedreht mit japanischen Darstellern im Dschungel von Kambodscha werden die drei Jahrzehnte fühlbar mit einer fast dreistündigen Laufzeit. Rückblenden schildern die Guerilla-Ausbildung des jungen Soldaten und die Unterweisung in seine Sondermission mit dem Ziel, um jeden Preis am Leben zu bleiben. Trotz der ruhigen Erzählweise offenbart »Onoda« keine Längen. Vielmehr verdichtet sich der Plot, die schwüle Hitze der Tropen kondensiert förmlich auf der Leinwand. Ausgezeichnet mit dem César für das Beste Originaldrehbuch läutete »Onoda« im vergangenen Jahr die Nebensektion Un Certain Regard in Cannes ein. Nach der langen Abstinenz des Kinos eine wahrhaft vortreffliche Wahl. Lars Tunçay

Sundown – Geheimnisse in Acapulco

Sundown – Geheimnisse in Acapulco

S/F/MEX 2021, R: Michel Franco, D: Tim Roth, Charlotte Gainsbourg, Iazua Larios, 83 min

Acapulco, einst bevorzugter Urlaubsort der Reichen und Schönen, ist im Zuge der mexikanischen Drogenkriege stark heruntergekommen. Wer heutzutage hier Ferien machen möchte, tut das besser in streng bewachten Luxus-Resorts fernab der eigentlichen Stadt. So wie Neil und seine Schwester Alice aus London, die ganz offensichtlich nicht aufs Geld achten müssen. Als ihre Mutter überraschend stirbt, behauptet Neil, seinen Reisepass verloren zu haben, um nicht mit zurück nach England fliegen zu müssen. Stattdessen setzt er sich alleine an den Strand, bestellt eimerweise Bier und freundet sich mit einer jungen Kioskbetreiberin an. Ist das nur eine Midlife-Crisis oder etwas viel Beunruhigenderes? Bei Regisseur Michel Franco bleibt das lange und absichtlich in der Schwebe, denn »Sundown« brät erst einmal antriebslos in der Sonne wie ein müder Tourist. Dann zieht das Tempo plötzlich an, verschiebt die Handlung Richtung Thriller, nur um wenig später in ein ganz anderes Genre zu münden. Bevor man sich ein richtiges Bild dieses mehrdeutigen Films machen kann, ist er auch schon wieder vorbei. Was bleibt, sind Szenen und Eindrücke, die wie nachbelichtete Fotografien vor dem inneren Auge flirren. Es entsteht der Verdacht, dass hier nicht nur ein bestimmter Lebenslauf illustriert werden soll, sondern das Leben insgesamt. Das kann schön, schockierend und kurz sein. Markus Hockenbrink

Wie im echten Leben

Wie im echten Leben

F 2020, R: Emmanuel Carrère, D: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa Carne, 106 min

Eine Frau stellt sich beim Arbeitsamt als arbeitssuchende Hausfrau ohne Berufserfahrung vor. Kürzlich von ihrem Mann getrennt, sei sie in die französische Normandie gezogen, um dort alles hinter sich zu lassen. Sie nimmt eine Stelle als Reinigungskraft an. Bei Marianne Winckler handelt es sich jedoch keineswegs um eine bedürftige Frau, sondern um eine bekannte Schriftstellerin, die ein Buch über prekäre Arbeit verfassen will. Sie beginnt auf einer Fähre zu putzen, die Arbeitsbedingungen sind höllisch, zwischen den Reinigungskräften besteht jedoch ein starker Zusammenhalt. Immer wieder bezieht sich der Film auf das Dilemma, in dem sich Winckler befindet: Die Lebensrealität der Menschen um sie herum festzuhalten, die »Unsichtbaren« sichtbar zu machen, während sie jederzeit in ihr Pariser Leben zurückkehren kann. Gleichzeitig droht ihr durch das Schreiben die Gefahr, das Vertrauen all jener zu verletzen, deren Leben sie in ihrem Buch enthüllen wird. Abgesehen von der Oscar-Preisträgerin Juliette Binoche stehen ausschließlich nicht-professionelle Schauspielerinnen vor der Kamera, die zuvor selbst als Reinigungskräfte arbeiteten – die Kluft der Klassenunterschiede setzt sich in der Realität fort. Die gelungene Film-Adaptation des Schriftstellers und Regisseurs Emmanuel Carrère (»Yoga«) stützt sich auf den Erfahrungsbericht der Journalistin Florence Aubenas (»Quai de Ouistreham«). Michelle Schreiber

Doctor Strange in the Multiverse of Madness

Doctor Strange in the Multiverse of Madness

USA 2022, R: Sam Raimi, D: Benedict Cumberbatch, Rachel McAdams, Elizabeth Olsen, 126 min

Als eines Tages mitten in New York ein Monster auftaucht und die junge America verfolgt, beschließt Doctor Strange (Benedict Cumberbatch), das Mädchen fortan zu beschützen. Das ist auch nötig, denn America verfügt über die Kraft, zwischen den unzähligen Universen umherzureisen. Wer verfolgt sie und wer möchte die Möglichkeiten des Multiversums für sich nutzen? Mit »Doctor Strange in the Multiverse of Madness« wird das »Marvel Cinematic Universe« zum Plural. Wo bisher immer nur ein Universum bedroht war, sind es jetzt alle. Das eröffnet zwar unbegrenzte Möglichkeiten, bringt aber auch klare Schwächen mit sich. Wenn es unendlich viele Versionen von Doctor Strange gibt und unendlich viele Rettungsversuche, dann wirken die Handlungen der Figuren konsequenzlos. Das, was den Comicverfilmungen so oft vorgeworfen wird, kann man hier besonders deutlich sehen. Eine wirkliche Fallhöhe fehlt und so ist die Geschichte und die Tiefe der Figuren nur genau das, was man auch erwartet. Das wirkt kalkuliert, denn Fans der Reihe wird das nicht abschrecken und auf neue Zuschauerinnen und Zuschauer wird eh nicht gesetzt, muss man doch die vorherigen Filme und vor allem die Disney+ Serie »WandaVision« gesehen haben, um hier mitzukommen. Dem gegenüber stehen jedoch immer wieder Höhepunkte in der Inszenierung. Sam Raimi verantwortet nicht nur die Spider-Man-Filme mit Tobey Maguire, er ist vor allem als Regisseur der Horrorreihe »Tanz der Teufel« bekannt. Gemeinsam mit der Musik von Danny Elfman heben seine Jumpscares, gekippten Kameraeinstellungen und düsteren Elemente den Streifen von vielen anderen Marvelfilmen ab. Es ist schade und bezeichnend, dass diese Momente aber nur ein Teil zwischen den ansonsten klassischen Superheldenmotiven, viel Fanservice und banalen Dialogen sind. So unterhält die Fortsetzung von »Doctor Strange« über kurzweilige zwei Stunden, wichtig oder gar vielschichtig und wirklich wahnsinnig ist die Geschichte aber nicht. KAI REMEN

Blutsauger

Blutsauger

D 2022, R: Julian Radlmaier, D: Aleksandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Alexander Herbst, 128 min

Marx am Ostseestrand: Allein die Verbindung von Thema und Setting lässt eine Spur der Eigenwilligkeit ausmachen, die den neuen Film von Julian Radlmaier (»Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes«) durchzieht. »Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit« – aus dieser Metapher, dem »Kapital« entnommen, entspinnt sich Radlmaiers marxistisch-marxkritisches Schelmenstück: Rund um das Ostsee-Anwesen der Fabrikbesitzerin Flambow-Jansen (hinreißend flamboyant: Lilith Stangenberg) dreht ein Haufen exzentrischer Gestalten im Jahre 1928 einen Vampirfilm. Beteiligt sind neben Flambow-Jansen selbst auch ein sowjetischer Baron sowie Madames »persönlicher Assistent« Jacob. Die Dreharbeiten interferieren mit amourösen Absichten, auch mehren sich die Zeichen, dass auf dem Anwesen echte Vampire ihr Unwesen treiben … Den irren Mehrfachspagat zwischen ernsthaftem Marx-Close-Reading und sommerlicher Vampirkomödie entfaltet Radlmaier ganz entspannt im Zwischenreich der Groteske. Das macht besonders viel Spaß, wenn es in manchen Szenen so hemmungslos ins Alberne gleitet, dass es an den frühen Helge Schneider grenzt. Von der Coca-Cola-Dose am Dinnertisch bis zum Schneckenschleim am Sakko-Ärmel – hier thront jedes (anachronistische) Detail am rechten Platz, und eine frivole Moral gibt es auch: Kapitalismus kostet Leben, aber wir lieben ihn trotzdem, denn er ist sexy und alternativlos. Karin Jirsak

Das Licht, aus dem die Träume sind

Das Licht, aus dem die Träume sind

F/USA/IND 2021, R: Pan Nalin, D: Bhavin Rabari, Bhavesh Shrimali, Richa Meena, 110 min

Als sein Vater die Familie ins »Galaxy« ausführt, ist es um Samay geschehen: Der Neunjährige erlebt zum ersten Mal die Magie des Kinos. Fortan nutzt er jede freie Gelegenheit, um sich in dem Saal herumzutreiben. Er belügt seine Eltern, schwänzt die Schule und schleicht sich heimlich in die Reihen – bis er unsanft vor die Tür gesetzt wird. Doch die Kochkünste seiner Mutter öffnen Samay das Tor ins Paradies, denn der Filmvorführer Fazal lässt ihn für den Preis einer täglichen Mahlzeit bei der Arbeit zusehen. Bald werden aus Samay und Fazal Freunde. Der Junge lernt, wie die Magie des Kinos entsteht. Die Faszination für den Film überträgt er nicht nur auf seine Mitschüler. Auch den Kinogänger weiß Regisseur Pan Nalin (»Samsara«) zu begeistern. Das Spiel mit Farben, Licht und Schatten auf der einen und die Leidenschaft für Film auf der anderen Seite, ist der hierzulande etwas schwülstig betitelte »Das Licht, aus dem die Träume sind« eine pure Liebeserklärung an das Kino und an Legenden wie Hitchcock, Buñuel und Méliès. Die märchenhafte Erzählung wiederum ist fest verwurzelt im Kino Bollywoods, dem Nalin gleichermaßen Tribut zollt. In der gradlinig erzählten Geschichte findet sich aber auch Kritik am Kastensystem und an patriarchalischen Strukturen. So steckt Samays Begeisterung für die Magie des Kinos Erwachsene ebenso wie Kinder mühelos an. Lars Tunçay

Everything everywhere all at once

Everything everywhere all at once

USA 2022, R: Daniel Scheinert, Daniel Kwan, D: Michelle Yeoh, Ke Huy Quan, Jamie Lee Curtis, 140 min

Evelyn und Waymond Wang betreiben in den USA einen Waschsalon – und es läuft nicht rund für die Einwanderfamilie aus China. Es gibt Probleme mit dem Finanzamt, Evelyn kann den Lebensentwurf von Tochter Joy nur schwer akzeptieren und vor allem steht ihre Ehe auf der Kippe. Doch dann geschieht es: Vor einem Behördentermin spricht im Fahrstuhl ein völlig gewandelter Waymond zu ihr und macht ihr klar, dass er gerade eine andere Version ihres Mannes aus einer Paralleldimension sei und sie allein es in der Hand habe, das gesamte Multiversum zu retten. Das Duo Daniels, das 2016 schon bei seinem Debüt mit der Survival-Groteske »Swiss Army Man« für große Augen sorgte, hat hier eine cineastische Wundertüte erschaffen, die sogar Marvels Doctor Strange in seinem »Multiverse of Madness« vor Neid erblassen lassen dürfte. Voller Liebe zum Kino werfen die Regisseure so ziemlich jedes Genre in die Waagschale und zitieren sich dabei lust- und humorvoll und absurd einfallsreich durch die Filmgeschichte, von Science-Fiction über das Liebesdrama und die Animationskomödie bis hin zur Martial-Arts-Action. Allerdings vergessen sie bei alledem nie die emotional geerdete Basis, so dass ihr Werk unterm Strich eigentlich eine mit Michelle Yeoh, Ke Huy Quan und Stephanie Hsu famos besetzte, absolut einzigartige Familientragikomödie ist, die völlig kitschfrei berührt. Peter Hoch

Maixabel

Maixabel

E 2021, R: Icíar Bollaín, D: Blanca Portillo, Luis Tosar, María Cerezuela, 115 min

Im Jahr 2000 wird Juan María Jáuregui von Mitgliedern der ETA erschossen. Der Politiker hatte sich als Vermittler zwischen Spanien und den Separatisten des Baskenlandes versucht. Rund zehn Jahre später sind die Täter inhaftiert. Einer von ihnen wendet sich anonym an die Gefängnisverwaltung, denn er möchte Hinterbliebene seiner Opfer treffen und sich bei ihnen entschuldigen. Maixabel Lasa, die Witwe Jáureguis, erklärt sich einverstanden und tauscht sich tatsächlich im Gefängnis mit Luis Carrasco aus. Und schließlich willigt auch Ibon Etxezarreta einem Treffen ein, der Mann, der damals tatsächlich die tödliche Kugel auf Jáuregui abfeuerte. Ohne lange Vorerklärungen wirft uns Icíar Bollaín (»Yuli«) hier mitten hinein in das Geschehen, das über Jahrzehnte hinweg die spanische Historie bestimmte. Doch man muss nicht allzu detailliert in der Materie drinstecken, um in die Ereignisse und das Schicksal der Figuren hineinzufinden. Nachdem Bollaín zunächst den Anschlag und die Flucht der ETA-Mitglieder spannungsreich rekonstruiert hat, wird ihr Film zusehends zu einem ruhigen Charakterdrama. Mit äußerst präzisen und intelligenten Dialogen kommen beide Seiten angemessen zu Wort. Die durchweg mit herausragenden Darstellern und Darstellerinnen (drei von ihnen erhielten einen Goya, den spanischen Oscar) besetzten Rollen machen deutlich, dass Gewalt niemals eine Lösung sein kann und dass Reue und Vergebung viel mehr bewirken als Hass und Rache. Frank Brenner

Memoria

Memoria

KOL/THAI/GB/MEX/D 2021, R: Apichatpong Weerasethakul, D: Tilda Swinton, Elkin Díaz, Jeanne Balibar, 136 min

Früh am Morgen wacht Jessica auf, weil sie ein Geräusch gehört hat. Ein dumpfes Scheppern, wie wenn eine Betonkugel in einen Blechschacht fällt, der von Wasser umgeben ist, so wird sie es später beschreiben. Denn was sie hört, lässt sie nicht wieder los. Plötzlich kann sie nicht mehr schlafen, irrt durch Bogotá, auf der Suche nach Antworten. 
Um herauszufinden, woher das Geräusch kommt, besucht sie ihre Schwester am Krankenbett, begegnet einem Sounddesigner, der den mysteriösen Klang am Computer für sie nachstellt, und einer Archäologin, die gerade dabei ist, menschliche Überreste zu untersuchen, welche beim Bau eines Tunnels entdeckt wurden. Mysteriös ist das, auch weil in den knappen Dialogen Hinweise darauf schlummern, dass Jessica sich ihre Begegnungen möglicherweise nur einbildet. Und so wird man als Zuschauer immer weiter hineingesogen in eine Traumwelt, irgendwo zwischen Wachen und Schlafen. Mithilfe eines aufwendigen Sounddesigns, einer guten Auswahl an Schauplätzen, mal in beeindruckender Architektur, dann in der kolumbianischen Natur, sowie relativ sparsamer Schnitte, macht der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul die Welt seiner Protagonistin sinnlich erlebbar. Tilda Swinton liefert eine eindringliche Performance, wie keine andere Schauspielerin kann sie abwesend und zugleich total präsent sein. Es braucht Geduld, sich auf diesen Film einzulassen, doch wer es tut, wird definitiv belohnt. Josef Braun

One of these days

One of these days

USA/D 2020, R: Bastian Günther, D: Carrie Preston, Joe Cole, Callie Hernandez, 121 min

Ein texanischer Autohändler hat sich eine ganz besondere Werbeaktion einfallen lassen, eine Art Gewinnspiel mit Durchhaltekomponente. Zwanzig Kandidaten legen Hand an einen blauen Pick-up-Truck, der Letzte, der loslässt, darf den Neuwagen mit nach Hause nehmen. Die Aktion dauert Tage und wird als Spektakel inszeniert; außer zu regelmäßigen Ess- und Pinkelpausen dürfen sich die Anwärter nicht von der Stelle rühren. Was als Reklamegag beginnt, bekommt durch Schlafentzug und Erschöpfung bald den Charakter einer öffentlich inszenierten Tortur. Horror-Autor Stephen King machte aus einem ganz ähnlichen Thema seinen Roman »Todesmarsch«, und auch Bastian Günthers Film streift das Genre mit geradezu soziologischer Neugier. Dabei wird schnell augenfällig, dass hier der Kapitalismus selbst auf der Anklagebank sitzt. Im Kampf um den exklusiven Hauptgewinn kommt es unter den tendenziell eher armen Kandidaten nämlich bald zu unschönen Szenen; um nicht zu den 19 Verlierern zu gehören, muss man erst an die eigenen Grenzen gehen und dann die der anderen übertreten. Besonders beklemmend ist »One Of These Days« auch deshalb, weil der Regisseur seinen Film weder als beißende Satire noch als sadistischen Spaß konzipiert hat. Seine warmen Farben und der behutsame Blick auf die hoffnungsvollen Hauptfiguren zeugen einerseits von großer Empathie, andererseits von erfrischender Distanz und Klarsichtigkeit. Markus Hockenbrink

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush

D 2022, R: Andreas Dresen, D: Meltem Kaptan, Alexander Scheer, Charly Hübner, 100 min

Murat Kurnaz – dieser Name ist im Gedächtnis der meisten Deutschen gespeichert. Jeder, der Anfang des neuen Jahrtausends die Nachrichten wahrgenommen hat, wird ihn schon mal gehört haben. Seine Autobiografie wurde in über zwölf Sprachen übersetzt und 2013 unter dem Titel »5 Jahre Leben« von Stefan Schaller verfilmt. Aber der Skandal, der sich hinter den Kulissen abgespielt hat, dürfte nur wenigen bekannt sein, wohl auch, weil es ein alles andere als gutes Licht auf die Regierung Schröder wirft. Vier Jahre lang saß Murat Kurnaz unschuldig und ohne Anklage in Guantanamo. Ein beispielloses Unrecht. Regisseur Andreas Dresen wurde auf die Geschichte aufmerksam gemacht, aber eine filmische Umsetzung erschien ihm unmöglich – bis er auf Rabiye traf. Der langwierige Kampf der Mutter und ihres Anwalts Bernhard Docke um Murats Leben bildet die Basis für das Drehbuch von Laila Stieler, mit der Dresen bereits »Gundermann« inszenierte. Daraus entstand ein bewegender, aufrüttelnder Film, durchzogen von Rabiyes eigenwilligem Humor, der sich mit Dresens humanistischer Erzählweise gut verträgt. Das nimmt der aufwühlenden Geschichte manchmal die Durchschlagskraft, macht den Film aber für ein breites Publikum zugänglich. Im Herzen steht das leidenschaftliche Spiel von Meltem Kaptan, die bei der Berlinale in diesem Jahr den Silbernen Bären als beste Hauptdarstellerin erhielt. Lars Tunçay