anzeige
anzeige

Rezensionen

Alma und Oskar

Alma und Oskar

A/CH/D/CZ 2022, R: Dieter Berner, D: Emily Cox, Valentin Postlmayr, Táňa Pauhofová, 88 min

Anfang 1911 absolviert Alma Mahler zusammen mit ihrem Mann Gustav eine Tournee durch die USA. Die 31-Jährige unterstützt den gefeierten Komponisten und Dirigenten auf vielfältige Weise, hat aber auch selbst musikalische Ambitionen, die der zwanzig Jahre ältere Gatte kaum fördert. Als herauskommt, dass Alma eine Affäre mit dem aufstrebenden Architekten Walter Gropius hat, kommt es zum Streit. Vier Monate später stirbt Gustav Mahler an einer Herzerkrankung – und seine lebenslustige Witwe wird bald zur gefragtesten Junggesellin auf dem Heiratsmarkt der Wiener Oberschicht. Alma entflammt jedoch für den Künstler Oskar Kokoschka, noch als der die Totenmaske für ihren verstorbenen Mann anfertigt – der Anfang einer problematischen Beziehung, die von Kokoschkas Obsession für Alma und deren Freigeistigkeit und Unwillen, sich emotional an jemanden zu binden, geprägt ist. Sieben Jahre nach »Egon Schiele: Tod und Mädchen« hat sich Dieter Berner in diesem Biopic erneut Persönlichkeiten der Wiener Moderne angenommen. In knappen neunzig Minuten fasst der österreichische Regisseur die wesentlichen Punkte aus den Leben Almas und Oskars zusammen, die von Emily Cox und Valentin Postlmayr durchaus gelungen verkörpert werden. Wirklich nahe kommt man den Figuren dabei allerdings nicht, was zwar auch an deren Charakteren liegen mag, unterm Strich aber einfach das Filmerlebnis schmälert. Peter Hoch

The Art Of Love

The Art Of Love

GB/CH 2022, R: Philippe Weibel, D: Alexandra Gilbreath, Oliver Walker, Kenneth Collard, 107 min

»Du hast eine Menge Platten, aber hörst sie dir nie an. Du hast über eine Million Instagram-Follower, aber bekommst nie Besuch. Du kommst nach Hause und schaust dir Eiskunstlauf an«, wird Adam Kowinski von seiner Nachbarin Claire charakterisiert. Adam ist das Gesicht des Londoner Sextoy-Herstellers Art of Love, reich an öffentlicher Aufmerksamkeit und arm an zwischenmenschlichen Beziehungen. Er hält Firmengründer Hector für seinen einzigen Freund, der sieht in ihm aber lediglich das Zugpferd seiner Firma und ist allzeit bereit, ihn für den größtmöglichen Profit zu verkaufen. Den verspricht Hector sich von seinem aktuellen Projekt: einer Puppe, die mithilfe neuester Hardware und künstlicher Intelligenz echte menschliche Kameradschaft simulieren kann. Frei von Unannehmlichkeiten wie eigenen Bedürfnissen und Meinungen, versteht sich. Die U-Bahn-Angestellte Eva Parker, selbst gerade in einer Ehekrise gefangen und Verfasserin hochpoetischer Sextoy-Reviews, soll die Puppe Empathie lehren, während Adam das physische Können des Androiden trainiert. So treffen die beiden aufeinander und, vorhersehbarerweise, entwickelt sich trotz ihrer Differenzen eine aufrichtige Freundschaft. Gilbreath und Walker porträtieren menschliche Verletzlichkeit und darüber triumphierenden Mut so überzeugend, dass unbefriedigend ausgeführte Handlungsstränge kaum ins Gewicht fallen. Trotz der etwas klobigen Symbolik ist »The Art of Love« eine herzerwärmende Erzählung über Einsamkeit und Gegenmittel. Laura Gerlach

Chevalier Noir

Chevalier Noir

F/IRN/D/I 2022, R: Emad Aleebrahim Dehkordi, D: Iman Sayad Borhani, Payar Allahyari, Masoumeh Beygi, 102 min

In vielen Szenen dieses Films herrscht Dunkelheit – nicht nur lichttechnisch, sondern auch thematisch. Denn das iranisch-deutsch-französisch produzierte Drama »Chevalier Noir« (»Schwarzer Ritter«) handelt vor allem von Drogen, Gewalt und Tod. Im Mittelpunkt agieren zwei gegensätzliche Brüder: Der aufbrausende Iman will mit verbotenen Substanzen das große Geld scheffeln, sein jüngerer, loyaler Bruder Payar steht dem Vater zur Seite, der nach dem Tod seiner Frau und Mutter der beiden Söhne gebrochen ist – und vor allem mit dem abtrünnigen Iman im Konflikt steht. Als der ältere Spross tiefer in eine Spirale aus Drogenhandel und Gewalt gerät, geht es nicht nur um Autonomie, sondern um Leben und Tod – für alle. Das Publikum sieht einen Iran, wie ihn das autoritäre Regime sicher nicht sehen will: Rauschende Partys, liberale Exilanten, sanfte Systemkritik und versagende alte Männer. Regisseur Emad Aleebrahim Dehkordi webt die thematischen Fäden aus Kriminalität, Familienzwist und -bande sowie Selbstermächtigung so geschickt ineinander – ähnlich dem teuren Teppich, den Iman als Pfand zu einem Deal mitbringt. Dazu eindringliche stille Momente, die mit den emotionalen Ausbrüchen Imans ein passendes Gefühlsmosaik abgeben. Dehkordis erster Langfilm sollte nicht sein letzter sein und reiht sich ein in eine neue Generation prestigeträchtiger iranischer Film-Exporte. Markus Gärtner

L’immensità – Meine fantastische Mutter

L’immensità – Meine fantastische Mutter

I/F 2022, R: Emanuele Crialese, D: Penélope Cruz, Vincenzo Amato, Luana Giuliani, 97 min

Clara und ihre Kinder sind eine eigeschworene Gemeinschaft. Mit Fantasie und Liebe macht die Mutter den Alltag ein wenig bunter. Wenn der Vater im Haus ist, herrschen Ordnung und Tristesse. Für Teenager Adri ist das Heranwachsen im Rom der Siebziger eine verwirrende Zeit. Während seine Eltern zunehmend streiten, verliebt er sich in ein Mädchen aus dem Arbeiterviertel und gibt sich als Andreas aus – dabei steht in seinem Pass Adriana. Clara versucht unterdessen hilflos, den Optimismus aufrechtzuerhalten, und kaschiert die blauen Flecken mit Make-up. Adri verliert sich immer mehr in Tagträumen, die Regisseur und Autor Emanuele Crialese in wunderbar arrangierten Tanzsequenzen inszeniert. Die kunstvoll gestalteten Bilder von Gergely Pohárnok sind in warme Farben getaucht, die Kostüme und die Bildgestaltung geben ein traumgleiches Gefühl der siebziger Jahre wieder, die für Clara eher Albtraum sind, gefangen in einer lieblosen Ehe. Penélope Cruz spielt sie einnehmend und das Auge der Kamera inszeniert sie bittersüß als Darstellerin in ihrem eigenen Leben. Eine Entdeckung ist Hauptdarstellerin Luana Giuliani, die die Zerrissenheit von Adri überzeugend verkörpert. Leider verliert sich »L’Immensità« im letzten Akt in der Form, ohne die vielen Problemfelder zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. Schade, denn die Suche nach geschlechtlicher Identität vor dem Hintergrund einer zerbrechenden Familie schildert der Film in einnehmenden Bildern, die bleiben. Lars Tunçay

Mit Liebe und Entschlossenheit

Mit Liebe und Entschlossenheit

F 2022, R: Claire Denis, D: Juliette Binoche, Vincent Lindon, Grégoire Colin, 116 min

Für Sara und Jean ist es ein zweiter Frühling, dabei ist es bereits Winter, als sie vom Urlaub nach Paris zurückkehren, das Licht des azurblauen Ozeans und ihre Liebe zueinander im Kopf. Als sie sich kennenlernten, war Jean verheiratet und Sara in einer Beziehung mit François. Heute, einige Jahre später, sind sie ein Paar, doch als François wieder auftaucht, wirft es beider Leben durcheinander. Zunächst ist es der leidenschaftliche Fußballtrainer Jean, der sich wieder mit dem alten Geschäftspartner und Freund trifft und beschließt, eine Agentur für Spielervermittlungen mit ihm zu eröffnen. Doch als sich auch Sara und François wieder begegnen, ist da diese Leidenschaft, die nie erlosch. Die französische Autorenfilmerin Claire Denis (»Beau travail«) inszeniert hier ein schmerzhaft dichtes Beziehungsdrama. Die Dreiecksgeschichte verfällt nicht den üblichen Klischees, die Dialoge sind ehrlich, die Anziehung spürbar, die Hilflosigkeit, mit der Sara in alte Muster zurückfällt, ist aufrichtig. Zu verdanken hat Denis’ Film dies zu großen Teilen der schauspielerischen Leistung seiner beiden Hauptdarsteller: Juliette Binoche und Vincent Lindon machen sich die Intimität der Kamera zunutze und überzeugen durch ein exzellentes Zusammenspiel – auch ein Verdienst der meisterhaften Schauspielführung. Bei der Berlinale im vergangenen Jahr gab es dafür den Silbernen Bären für die beste Regie. Lars Tunçay

Die Purpursegel

Die Purpursegel

F/I/D/RUS 2022, R: Pietro Marcello, D: Raphaël Thiéry, Juliette Jouan, Louis Garrel, 100 min

Das Land ist verwüstet. Vorbei an Leichen und Gräbern wandert Raphaël durch die Normandie den weiten Weg nach Hause. Seine Frau Marie wartet dort nicht mehr. Sie ist gestorben wie so viele in Frankreich in den vergangenen Jahren des Weltkriegs (der später zum Ersten wurde). Doch Raphaël hat eine Tochter, die liebevoll von Adeline umsorgt wird. Die kleine Juliette wächst heran, während der talentierte Handwerker nur mühsam Arbeit findet. Aus dem kleinen Mädchen wird eine hübsche Frau, die sich in den Piloten Jean verliebt. Doch die Abenteuerlust treibt diesen hinaus in die Welt und Juliette ist allein mit den Vorurteilen und Ressentiments der Dorfbewohner. Wie schon bei seiner starken Jack-London-Adaption »Martin Eden« mischt der Italiener Pietro Marcello seine Erzählung auch hier mit dokumentarischen Aufnahmen der Zeit. Nachkoloriert und eingefasst in die Leinwand sind die Übergänge zum gedrehten Filmmaterial fließend. Durch die Körnung, die zeitgemäße Bildgestaltung und nicht zuletzt durch die kantigen, zerfurchten Gesichter der Darsteller und Darstellerinnen entsteht ein einzigartiges Gefühl für die Zeit. Die Geschichte, angelehnt an den Roman »Das Purpursegel« des russischen Autors Alexander Grin, mag einfach erzählt sein, die Schauspieler füllen sie mit Wärme in einer kalten Zeit. Ein Gesamtkunstwerk, untermalt von der mitreißenden Musik des Oscar-Preisträgers Gabriel Yared (»Der englische Patient«), gefasst in die kunstvollen Bilder von Marco Graziaplena. Lars Tunçay

Rodeo

Rodeo

F 2022, R: Lola Quivoron, D: Julie Ledru, Yanis Lafki, Antonia Buresi, 106 min

Verbissen sind die Gesichtszüge von Julia. Im Alltag muss sie sich stets behaupten. Sei es in der Wohngemeinschaft in einer Sozialbausiedlung am Rande der Großstadt oder wenn sie den Respekt der anderen Motorradfreaks sucht, die abseits der Autobahn ihre Tricks aufführen. Julia reagiert aggressiv auf die feindliche Welt um sie herum und macht ihre eigenen Regeln. Nur wenn sie auf dem Motorrad sitzt und der Wind durch ihre Locken fährt, leuchtet sie auf. Um an Geld zu kommen, stiehlt sie Dirt Bikes von ahnungslosen Verkäufern und erarbeitet sich so den Respekt einer Motorradgang, deren Anführer Domino im Knast sitzt. Als Julia jedoch immer mehr ihre Deckung fallen lässt und beginnt, sich für dessen Frau Ophélie und deren kleinen Sohn einzusetzen, wird sie verletzt. Mit unbändiger Energie startet Lola Quivoron ihren Film. Die Handkamera ist dicht bei Julia und begleitet sie durch ihre Welt, die immer auf der Kippe steht. Diese Energie kommt vor allem von Hauptdarstellerin Julie Ledru, die wie die meisten Darstellerinnen in Quivorons kraftvollem Regiedebüt zum ersten Mal vor der Kamera stand. Lange studierte die Regisseurin die Biker-Szene, bis sie auf Julia traf, die einzige Frau in dieser von Männern dominierten Welt. Ihre Geschichte floss maßgeblich in das Drehbuch, so dass sie auch einen Teil ihrer selbst auf der Leinwand verkörpert. Das verleiht dem faszinierenden Drama, das seine Premiere in der Sektion Un Certain Regard in Cannes feierte, zusätzliche Authentizität. Lars Tunçay

Unser Fluss ... Unser Himmel

Unser Fluss ... Unser Himmel

F/GB/D/CUW/IRQ/VAE/KAT 2021, R: Maysoon Pachachi, D: Darina Al Joundi, Zainab Joda, Basim Hajar, 117 min

Eigentlich war die Geschichte immer ganz einfach. Ein Trupp amerikanischer Soldaten betritt ein feindliches Land, namentlich den Irak und schmiedet im Feuer von Scharfschützen und Bombenhagel Verbindungen fürs Leben. »Green Zone« hat so funktioniert, »Jarhead« und am erfolgreichsten Katherine Bigelows »The Hurt Locker«. Viel weniger beachtet blieb dabei die Perspektive der irakischen Bevölkerung. In Hollywood-Filmen besteht sie in der Regel aus vermummten Figuren, die alles tun, um Amerikaner zu töten. Kein Wunder also, dass die irakisch-britische Regisseurin Maysoon Pachachi diesem Bild etwas entgegensetzen wollte. Ihr Film »Unser Fluss … unser Himmel« erzählt von einer Nachbarschaft in Bagdad zur Zeit der amerikanischen Invasion. Über knapp zwei Stunden reiht er alltägliche Szenen aneinander, die sich vor dem Hintergrund einer zerstörten Stadt abspielen. Man sieht zerschossene Autos, Blut an den Wänden, Leichen, die aus Flüssen gezogen werden, und man hört die Bomben, laute Explosionen und das Geheul von Sirenen. Dazwischen Mädchen, die zur Schule gehen. Erwachsene, die ihre Berufe verfolgen. All das könnte sich zu einem packenden Film vermengen. Nur leider geht die Mischung nie ganz auf. Zwar überzeugen einzelne Einstellungen, doch viele Szenen bleiben blass. Als gelänge es dem Film nicht, seine Mitte zu finden, trudelt er voran. Erzählt mal hiervon, mal davon, um dann abrupt auf dem titelgebenden Fluss zu enden. Josef Braun

20.000 Arten von Bienen

20.000 Arten von Bienen

E 2023, R: Estibaliz Urresola Solaguren, D: Sofía Otero, Patricia López Arnaiz, Ane Gabarain, 125 min

Die Eltern versuchen es vor den Kindern zu verbergen, aber auch die ahnen bereits, dass es eine Veränderung geben wird. Als ihre Mutter Ane mit ihnen in ihre baskische Heimat reist, ist der Vater nicht dabei. Cocó fühlt sich von Anfang an fehl am Platz. Das liegt auch daran, dass alle sie Aitor nennen – ihr Geburtsname als Junge –, der sich für die Achtjährige fremd anfühlt. Die Mutter hat wenig Verständnis dafür. Nur ihrer einfühlsamen Großtante, der Bienenzüchterin, kann sie ihr Geheimnis anvertrauen. Behutsam und feinfühlig schildert die im Baskenland geborene Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren diesen Sommer durch die Augen eines Kindes. Der Zwist mit der eigenen Mutter, die damit ringt, aus dem Schatten ihres Bildhauer-Vaters herauszutreten, und sich künstlerisch verwirklichen will, überlagern die Tage. Niemand hat wirklich ein Auge für die Identitätssuche von Cocó. Als es zum Familiendrama kommt, ist es vielleicht zu spät. Inmitten der Emotionen und der turbulenten Vorbereitungen für das große Tauffest entwickelt Regisseurin Solaguren ein fragiles Konstrukt einer Familie und hinterfragt geschickt Geschlechterrollen. Die kleine Hauptdarstellerin Sofía Otero erhielt für ihr herausragendes Schauspieldebüt den Silbernen Bären der diesjährigen Berlinale, wo der Film auch mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Lars Tunçay

Das Rätsel

Das Rätsel

F/B 2019, R: Régis Roinsard, D: Lambert Wilson, Olga Kurylenko, Riccardo Scamarcio, 105 min

In Büchern schmökern ist schön, der dahinter stehende Literaturbetrieb eher nicht so – das zeigt Régis Roinsards Thriller »Das Rätsel«. Dessen französischer Originaltitel »Les Traducteurs« (»Die Übersetzer«) übrigens passender ist. Nun, der letzte Teil der »Dädalus«-Trilogie kommt bald raus. Um den Hype zum Welt-Erfolg zu optimieren und zu schützen, sollen neun Übersetzer der erfolgreichsten Ländermärkte dem Meisterwerk zeitgleich in einer Art unterirdischem Bunker die jeweilige Sprache einhauchen und dabei auf Kontakt zur Außenwelt verzichten. Angetrieben und getriezt werden sie vom sadistisch-schmierigen Verleger Éric Angstrom persönlich. Lambert Wilson spielt diesmal quasi seinen »Merowinger« aus »Matrix« im Verlagswesen. Als plötzlich ein Erpresser droht, den prognostizierten Mega-Bestseller vorab im Web zu leaken, steht fest: Der Täter muss einer der Übersetzer sein. Es folgen Verdächtigungen, Tote – und einige Details, die alles im neuen Licht erscheinen lassen. Natürlich erinnert das Setting auch an den jüngsten Whodunit-Knaller »Knives Out« – hier fehlt es jedoch an Weltstars en masse und auch an der dramaturgischen Detailverliebtheit. Dennoch punktet »Das Rätsel« zumindest in der zweiten Hälfte mit jeder Menge Plot-Twists sowie überraschenden Flashbacks. Das lohnt den Kinobesuch – es sei denn, man hat ein wirklich gutes Buch zu Hause. Markus Gärtner

Nostalgia

Nostalgia

I 2023, R: Mario Martone, D: Pierfrancesco Favino, Francesco Di Leva, Tommaso Ragno, 118 min

Heimat – der Ort, wo man herkommt, oder der, wo man Wurzeln geschlagen hat? Für Felice ist die Rückkehr nach Neapel verbunden mit einer Vielzahl an Erinnerungen. Wie ein warmer Regen der Nostalgie gehen sie auf ihn nieder, als er nach vierzig Jahren zum ersten Mal durch die Straßen seiner Kindheit im Viertel Rione Sanità streift. Er sucht seine Mutter auf, der er bisher nur hin und wieder in einem Brief von seinem Leben in Kairo erzählt hat. Warum er fortging, hat sie nie begriffen. Auch Mario Martones Film, der auf dem gleichnamigen Roman von Ermanno Rea basiert, macht lange ein Geheimnis daraus. In langen Einstellungen zur Musik von Tangerine Dream erkundet Felice die Stadt und seine Erinnerungen an die Zeit, als er sie mit seinem Freund Oreste unsicher machte. Der örtliche Priester Don Luigi gibt den Kindern eine Perspektive, die sie vorher nicht hatten. Er holt die Heranwachsenden von den Straßen der Armut und entreißt sie den Fängen des »Malommo«, des bösen Mannes, der das Viertel regiert. Regisseur Martone lässt sich viel Zeit, diese Straßen zu erkunden. In den naturalistisch-kunstvollen Bildern von Paolo Carnera (»Suburra«) lernen wir jeden Winkel der Stadt kennen und bekommen ein Gefühl für das Leben der Menschen dort. Felice, ausdrucksstark verkörpert von Pierfrancesco Favino (»Il Traditore«), wird vom wortkargen Rückkehrer zu einer wohlgeformten Figur mit Vergangenheit und dem Drang nach Versöhnung. Oder ist es doch nur Nostalgie, die ihn antreibt? Lars Tunçay

Die Rumba-Therapie

Die Rumba-Therapie

F 2021, R: Franck Dubosc, D: Franck Dubosc, Louna Espinosa, Jean-Pierre Darroussin, 93 min

Der 50-jährige Tony, den Hauptdarsteller, Regisseur und Autor Frank Dubosc hier verkörpert, ist alles andere als ein Hotshot. Der knurrige Busfahrer verbringt seine Abende am liebsten allein auf dem Sofa, trinkt Bier und träumt von Amerika. Bis ihm sein Lebensstil einen Herzinfarkt einbringt. Als er die Augen öffnet, muss er feststellen, dass im Krankenhaus niemand auf ihn wartet. Also macht er sich daran, seine alte Liebe aufzusuchen – und ihre erwachsene Tochter Maria, die als Tanzlehrerin arbeitet. So setzt sich der unsportliche Tony in den Kopf, tanzend ihr Herz zu gewinnen. Nur: Erfahren, dass er ihr Vater ist, darf sie natürlich nicht. Einen ganzen Blumenstrauß an Klischees bringt »Die Rumba-Therapie« mit in den Kinosaal, nur um sie dann Stück für Stück zu zerlegen. Die Welt vor der Tür ist eben ganz anders, als Tony sie sich zurechtgelegt hat, und auch unser Bild von dem grantigen Eremiten wird im Laufe der 100 kurzweiligen Minuten kräftig durchgewirbelt. Dass es Dubosc hier vor allem darum geht, zu unterhalten, ist von Anfang an deutlich. Im Vorbeitanzen werden aber auch soziale Probleme angespielt und auf den menschlichen Faktor heruntergebrochen. Frank Dubosc (»Liebe bringt alles ins Rollen«) liefert mit »Die Rumba-Therapie« eine grundsolide zweite Regiearbeit, der Marie-Philomène Nga als schnoddrige Nachbarin und Knautschgesicht Jean-Pierre Darroussin in den Nebenrollen Feuer verleihen. Lars Tunçay

Memory Of Water

Memory Of Water

FIN/D/EST/NOR 2022, R: Saara Saarela, D: Saga Sarkola, Mimosa Willamo, Lauri Tilkanen, 101 min

Wir befinden uns in der Zukunft. Die Welt ist trist. Nach einem radioaktiven Vorfall sind große Teile Skandinaviens unbewohnbar geworden, das Wasser ungenießbar. In der Folge sind die Tiere ausgestorben und die Menschen müssen sich das wenige Wasser aufteilen, das noch existiert. Man ist misstrauisch und lebt unter der harten Regentschaft eines gesichtslosen Militärs. Das Publikum kennt Ähnliches aus dem letzten »Mad Max«-Film. Doch während George Miller für seine dystopischen Visionen Millionen ausgeben kann, dürfte das Budget der finnischen Regisseurin Saara Saarela deutlich kleiner ausgefallen sein. Das tut »Memory of Water« jedoch keinen Abbruch. Die Sets, durch die sich seine Heldin Noria bewegt, sind mit großer Sorgfalt und viel Einfallsreichtum gestaltet. Dazu kommen ein beeindruckender Auftritt von Hauptdarstellerin Saga Sarkola und der Soundtrack vom frisch gekürten Oscar-Gewinner Volker Bertelmann (»Im Westen nichts Neues«), der die düstere Atmosphäre des Films kongenial unterstreicht. »Memory of Water« ist europäisches Science-Fiction-Kino auf allerhöchstem Niveau. Aber nicht nur etwas für Genrefans. Denn bei allen futuristischen Elementen bleibt der Film stets dicht an seinen Figuren. Und stellt Fragen, die in Zeiten des Klimawandels drängender denn je sind: Wie gehen wir mit unseren Ressourcen um? Und wie gehen wir miteinander um, wenn sie knapp werden? Josef Braun

How To Blow Up A Pipeline

How To Blow Up A Pipeline

USA 2023, R: Daniel Goldhaber, D: Daniel Goldhaber, Ariela Barer, Jordan Sjol, 104 min

Theo und Xochitl sind im verschmutzten Long Beach, Kalifornien, im Schatten einer Ölraffinerie aufgewachsen. Als junge Frau spürt Theo die Folgen der anhaltenden Vergiftung körperlich: Die Diagnose lautet Krebs im Endstadium. Als Xochitls Mutter im Zuge einer Hitzewelle stirbt, wird beiden klar, dass Umweltschutz und Aufklärungsarbeit an ihre Grenzen stoßen. Sie wollen weiter gehen. Mit einer Gruppe militanter Umweltaktivistinnen und -aktivisten versammeln sie sich im Westen Texas’, um einen Sabotageakt durchzuführen: die Sprengung einer Öl-Pipeline. Wo verläuft die Grenze zwischen zivilem Widerstand und Terrorismus? Die Protagonistinnen und Protagonisten reflektieren ihr Selbstbild in der Nacht vor der Aktion. Während sich einige Gruppenmitglieder als Game-Changer und Revolutionäre sehen, spricht Theo eine unangenehme Wahrheit aus: »Sie werden uns Terroristen nennen. Weil wir Terrorismus betreiben.« Die Handlung ist extrem und hat potenziell verheerende Folgen. Und doch sehen sich die Mitglieder in ihrer Lage zum Handeln gezwungen. Die Hintergrundgeschichten der Figuren verwebt Daniel Goldhaber in seinem Öko-Thriller, der auf dem gleichnamigen Buch von Andreas Malm basiert, geschickt mit der Ausführung des Plans. Paranoide Filmmusik und wackelige Kameraführung begleiten den Sabotageakt, der an manchen Stellen fast wie eine Anleitung wirkt. Die Folgen der Aktion bleiben allerdings ein blinder Fleck in diesem hochaktuellen Film. SARAH NÄGELE

Fucking Bornholm

Fucking Bornholm

PL 2022, R: Anny Kazejak, D: Agnieszka Grochowska, Maciej Stuhr, Grzegorz Damiecki, 99 min

Maja und Hubert kennen sich schon ewig, Dawid und seine deutlich jüngere Freundin Nina einander erst seit wenigen Tagen. Die beiden Paare machen gemeinsam Urlaub auf der dänischen Ostseeinsel Bornholm. Mit an Bord: ihre drei Söhne. Maja ist schon zu Beginn der Reise frustriert über das ewig gleiche Urlaubsziel, die Gleichgültigkeit ihres Gatten, der sich lieber um die mitgebrachten Mountainbikes als um seine Frau kümmert, und unzählige andere Kleinigkeiten. Als es dann auch noch bei einer gemeinsamen Übernachtung der Kinder im Zelt zu einem Vorfall kommt, geraten die Ferien endgültig aus dem Ruder. Dabei ist der wahre Auslöser des Konflikts irgendwann egal und es geht eigentlich um den unerfüllten Wunsch der Erwachsenen, aus dem gesellschaftlichen Korsett auszubrechen. Unter dem sonnigen Himmel Dänemarks gelingt der polnischen Regisseurin Anny Kazejak eine beißende Beziehungskomödie. Die idyllischen Urlaubsbilder von Strand und Meer stehen dabei im Kontrast zur zunehmend eskalierenden emotionalen Wetterlage. Die schauspielerischen Leistungen überzeugen, die Dialoge sitzen – kein Wunder, basiert »Fucking Bornholm« doch auf einem fünfteiligen Hörspielpodcast von Kazejak und Filip Kasperaszek. Seine Premiere feierte ihr Film im Wettbewerb beim International-Film-Festival in Karlovy Vary im vergangenen Sommer. Ein großer böser Spaß, der an die Filme von Ruben Östlund (»Triangle of Sadness«) erinnert, deren Male-Gaze aber eine weibliche Perspektive entgegensetzt. Lars Tunçay

Bis ans Ende der Nacht

Bis ans Ende der Nacht

D 2023, R: Christoph Hochhäusler, D: Timocin Ziegler, Thea Ehre, Michael Sideris, 120 min

Leni Malinowski saß wegen Drogenhandels im Gefängnis und ist nun mit Fußfessel frühzeitig entlassen worden. Sie soll dem Undercover-Polizisten Robert Demant dabei helfen, den Drogendealer Victor Arth dingfest zu machen, für den sie vor ihrer Inhaftierung gearbeitet hatte. Das Delikate an der Sache liegt in Leni selbst – denn die hieß damals noch Lenard und war ein Mann, der mit Robert eine Beziehung hatte. Dass Leni mittlerweile eine Transfrau ist, bereitet Robert einige Probleme, die zusehends die Undercover-Aktion zu gefährden drohen. Christoph Hochhäusler (»Die Lügen der Sieger«) hat für seinen fünften Kino-Langfilm eine sehr originelle und ungewöhnliche Ausgangskonstellation gewählt. Die Tatsache, dass seine Hauptfigur transsexuell ist, spielt fast schon eine untergeordnete Rolle, weil es dem Filmemacher in erster Linie um eine spannungsreiche Kriminalgeschichte geht. Dass aber die Transition Lenards zu Leni ihrem ehemaligen Liebhaber Probleme bereitet, verleiht der Thematik im Rahmen der Geschichte dann doch eine gewisse Dramatik. Die Österreicherin Thea Ehre, die hier ihre erste Kinohauptrolle spielt und auch im wirklichen Leben eine Transfrau ist, erobert mit ihrer ehrlichen und direkten Art schon in den ersten Szenen des Films die Herzen des Publikums. Völlig zu Recht wurde sie dafür auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären prämiert. Frank Brenner

The Whale

The Whale

USA 2022, R: Darren Aronofsky, D: Brendan Fraser, Sadie Sink, Ty Simpkins, 117 min

Er wirkt unbeholfen, als wüsste er selbst nicht so genau, wie es so weit kommen konnte. Aber Charlie hat sich dabei zugesehen, wie er versuchte, seine Trauer mit Essen zu stillen. Jetzt steckt er fest, in einem Appartement, das er nur noch mit einer Gehhilfe durchqueren kann. Dort sitzt er und wartet auf seinen Tod. Die Einzige, die ihn noch am Leben hält, ist seine Freundin Liz, die regelmäßig nach ihm schaut. Und eigentlich hat Charlie auch eine Tochter im Teenageralter, Ellie, nach der er die Hand ausstreckt. Dann ist da noch der Missionar Thomas, der unbeholfen in die Szenerie stolpert und sich in den Kopf gesetzt hat, Charlie zu helfen. Diese Anordnung von Personen zeugt davon, dass »The Whale« seinen Ursprung im Theater hat. Samuel D. Hunter adaptierte hier sein gefeiertes Bühnenstück unter der Regie von Darren Aronofsky (»Black Swan«). Im Mittelpunkt steht die überragende schauspielerische Präsenz von Brendan Fraser, über dessen Comeback schon viel geredet wurde. Seinen Oscar hat er ebenso verdient wie Adrien Morot, Judy Chin und Annemarie Bradley-Sherron, die für das Make-up verantwortlich zeichneten. Drehbuch und Inszenierung kommen da nicht ganz auf Augenhöhe, weil Hunter und Aronofsky ein um das andere Mal emotional zu dick auftragen. Das ändert aber nichts daran, dass Charlie sein Herz am rechten Fleck trägt und »The Whale« ein sehenswertes Plädoyer für Menschlichkeit ist. Lars Tunçay

Sparta

Sparta

AU/D/F 2022, R: Ulrich Seidl, D: Georg Friedrich, Florentina Elena Pop, Hans-Michael Rehberg, 99 min

Eigentlich wollte Ulrich Seidl die Geschichte der Brüder Richie und Ewald in einem Film erzählen. Aus »Böse Spiele« sind nun zwei Geschichten geworden, die ihren Ausgangspunkt im Heim haben, wo der demente Nazi-Vater vor sich hindämmert. Während wir allerdings in »Rimini« dem gescheiterten Schlagersänger Richie Bravo dabei zusahen, wie er in Italien von seiner Vergangenheit eingeholt wird, weicht der tragikomische Ton bei »Sparta« vollends der Seidlschen Tristesse. Wie Richie hat auch Ewald die Heimat verlassen und sucht in Rumänien sein Glück. Augenscheinlich hat er es in Aurica gefunden, doch während sie von der Heirat träumt, tobt Ewald lieber auf dem Bett mit ihren Cousins. Seine sexuelle Insuffizienz offenbart endgültig, dass Ewald seine wahren Gefühle unterdrückt. Er verlässt Aurica und reist in die rumänische Provinz. Dort findet er ein leerstehendes Schulhaus und bietet Judotraining für Kinder an. Während die Kids froh sind, aus dem oftmals von Gewalt und Alkohol geprägten Elternhäusern auszubrechen, nutzt Ewald die Intimität, um seiner Neigung nachzugehen, ohne ihr jedoch vollends nachzugeben. Der moralische Grat, auf dem Seidl hier wandelt, ist dünn. In der Folge gab es Vorwürfe im Spiegel, Kinder seien beim Dreh unangemessen behandelt worden, die der Regisseur und sein Team abwiesen. Auch abseits dessen ist »Sparta« ein ambivalenter Film, der Seidl-typisch dorthin geht, wo es weh tut, zumal Georg Friedrich den zwiespältigen Charakter schmerzhaft eindringlich verkörpert. Lars Tunçay

Die Linie

Die Linie

F/CH/B 2022, R: Ursula Meier, D: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, 103 min

Die Filme von Ursula Meier (»Winterdieb«) setzen sich immer wieder mit dysfunktionalen Familien auseinander. Auch das Verhältnis zwischen Margaret und ihrer alleinerziehenden Mutter Christina ist gestört. Das wird gleich zu Beginn in einer vierminütigen Eröffnungssequenz überdeutlich. In der erleben wir in Zeitlupe, wie die rasende Tochter die familiäre Wohnung zerlegt und schließlich ihre Mutter niederschlägt, bevor sie gewaltsam aus dem Haus geworfen wird. Die Mutter, eine selbstverliebte Pianistin, ist fortan auf einem Ohr taub, die Tochter ohne Wohnsitz. Sie wird dazu verurteilt, dem Elternhaus auf 100 Meter fernzubleiben. Immer wieder nähert sie sich jedoch, bis die jüngere Schwester Marion schließlich eine Linie um das Haus zieht, an der Margaret Tage und Nächte verbringt. Die kleine Marion hat am meisten unter den Spannungen zu leiden, während die mittlere Schwester Louise mit ihrer Schwangerschaft beschäftigt ist. Das Leiden der Mutter und ihre passive Aggressivität zersetzen das familiäre Gefüge. Das ist anstrengend gut gespielt von Valeria Bruni Tedeschi. Auch ohne zeitliche Rückgriffe begreift man die Dynamiken, die zu diesem Punkt geführt haben. Margarets Wunsch nach Nähe und der Impuls zur Flucht sorgen für die realistische Reibung in diesem Familienporträt. Regisseurin Ursula Meier sucht nach einem Mittelweg, aber ist der bei allem gegenseitig zugefügte Schmerz überhaupt möglich? Lars Tunçay

Die Gewerkschafterin

Die Gewerkschafterin

F/D 2022, R: Jean-Paul Salomé, D: Isabelle Huppert, Gregory Gadebois, Yvan Attal, 122 min

Maureen Kearney ist Personalrätin im französischen Industriekonzern Areva und tritt dort vehement für die Rechte der Beschäftigten ein. Immer wieder bekommt sie dabei Macht und Machenschaften einer überwiegend von Männern dominierten Geschäftswelt zu spüren. Ein Whistleblower steckt der Gewerkschafterin eines Tages, dass ihre auf Atomanlagen spezialisierte Firma insgeheim einen Deal mit China verhandelt, durch den viele ihre Arbeit verlieren würden. Als Maureen dagegen vorgeht, spitzt sich die Situation dramatisch zu: Sie wird, das zeigt die erste Filmszene, in ihrem Haus überfallen und brutal geschändet. Oder hat sie all das etwa nur inszeniert, um Aufmerksamkeit zu erregen, wie die Polizei ihr bald unterstellt? Die Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten aus dem Jahr 2012 und die Protagonistin Maureen Kearney gibt es tatsächlich. Gespielt wird sie von der brillanten Isabelle Huppert, an deren Leistung es wie gewohnt nichts zu beanstanden gibt. Anders verhält sich das beim Drehbuch von Regisseur Jean-Paul Salomé. Denn die tonangebenden Handlungsstränge um den Überfall und die damit einhergehenden Fragestellungen werden erst lang nach der Eingangsszene wieder aufgegriffen, weil das Publikum vorher einem behäbigen Wirtschaftsthriller beiwohnen muss. Dessen Fäden laufen weitestgehend ins Leere – hier wäre ein anderer Fokus nötig, und, wie so oft, weniger mehr gewesen. Peter Hoch