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Rezensionen

Camera Obscura

Camera Obscura

Look to the East, look to the West

Look to the East, look to the West

Camera Obscura starteten Ende der Neunziger als so etwas wie die kleine Schwester der befreundeten Belle & Sebastian. Beide Bands gelten als wichtige Vertreter des Twee-Pop, also des »hübschen« Indie-Pop. Spätestens mit dem dritten Album »Let’s get out of this Country« entwickelten Camera Obscura ihr komplett eigenständiges Profil. Zwischen 2001 und 2013 brachten sie fünf Longplayer raus. – Doch auf dem Gipfel des Erfolgs verstarb 2015 Keyboarderin Carey Lander an Knochenkrebs. Ihr Einfluss war so immens, dass es lange unklar war, ob ihr Tod auch das Ende der Band bedeutete. »Look to the East, look to the West« ist nun das erste Lebenszeichen nach vielen Jahren Pause. Donna Maciocia wurde als zusätzliches Bandmitglied angeheuert und unterstützt auch das Songwriting. Das neue Werk kommt anders als die restliche Diskografie ganz ohne Streicher- und Bläser-Arrangements aus. Konsequent wird aber der auf dem letzten Album vor der Auszeit eingeschlagene Weg in Richtung Country fortgesetzt. Und die unvergleichliche Tracyanne Campbell singt noch so schwelgerisch und herzzerreißend wie eh und je. Mit Songs wie »Denon« wird auch mal wieder der Motown-Sound gefeiert. Ebenso spielend schütteln Camera Obscura Pop-Kracher wie »Big Love« aus dem Ärmel. Überaus rührend ist die minimalistische Ballade »Sugar Almond«, eine Liebeserklärung an die schmerzlich vermisste Freundin und Bandkollegin Lander. Kay Engelhardt

Jessica Pratt

Jessica Pratt

Here in the Pitch

Here in the Pitch

Jessica Pratts Stimme ist sicher zu speziell für die ganz großen Bühnen. Aber dorthin will sie vermutlich sowieso nicht, ist also in der Nische gut aufgehoben. Zumal sie für verquere, experimentell verträumte Arrangements mit Folk- und Jazzelementen steht. Das instrumentale Setting war auf ihren bisherigen drei Alben stets ähnlich, ihr einzigartiger Gesang wurde meist nur von einer zart gezupften Akustikgitarre begleitet. Ihr neues Werk »Here in the Pitch« bricht mit dieser Routine. Zwar bleibt die Stimmung auf der Platte sonderbar mystisch – aber weniger minimalistisch als bisher. Auf ihrem vierten Album entdeckt die Kalifornierin bisher unbekannte Welten: Flöten, Pauken und Glockenspiele sind nur drei Beispiele aus der musikalischen Spielzeugkiste, die Pratt weit aufgeklappt in Gary’s Electric Studio in Brooklyn aufgestellt hat. Wundersam verträumte Melodien plätschern daher und schmiegen sich um die Stimme der Songwriterin. Herausragende Höhepunkte bietet das Album nicht, das Gesamtkonzept wirkt aber stimmig. Auf Hooks, Refrains und Ohrwürmer verzichtet Jessica Pratt komplett. Die braucht sie auch gar nicht, denn »Here in the Pitch« klingt so schön verwunschen, dass man auf der Suche nach dem nächsten Tagtraum immer wieder darin eintauchen will. Und das geht vor kleinen Bühnen sowieso viel besser. Julia Seegers

Maria Schüritz & Band

Maria Schüritz & Band

Durch die Nacht

Durch die Nacht

Maria Schüritz hat noch mal tief durchgeatmet, bevor sie sich – gut versorgt mit reichlich Sauerstoff – »Durch die Nacht« groovt. Die Leipziger Songpoetin schließt mit dieser Platte an das 2022 veröffentlichte Schwesternalbum »Der Lack ist ab« an. Ganz in Liedermacherinnen-Manier erzählt Schüritz clever getextete Geschichten. Den Rahmen dafür bietet der Abend einer umtriebigen Großstädterin. Am Anfang steht die urbane Wanderlust (»Kein Laminat«). Die Protagonistin stürzt sich in die Nacht und lässt sich von ihrer Schöpferin durch die Stadt singen. Der urbane Abend ist politisch, persönlich und greift aktuelle Themen wie Verschwörungstheorien, Klimawandel und den Zusammenhalt von Gesellschaften auf. Den aktuellen Zustand der europäischen Idee skandiert das Rio-Reiser-Cover »Zauberland« mit kleinen Textanpassungen. Schüritz schaut zurück auf die Jugend in der DDR (»Was war das nur für ein Land«) und lässt sich auf ihrem neuen Album vor allem von unterschiedlichen Musik- und Kunststilen inspirieren. Die Stücke sind Fusionen aus Funk und Soul, mal klassisch rockig, mal fließen World-Music oder Trip-Hop-Elemente ein. Schüritz’ charakteristischer, kraftvoller Gesang stellt die Texte dabei in den Mittelpunkt und bringt uns alle sicher durch die Nacht, ganz ohne außer Atem zu kommen. Julia Seegers

Future & Metro Boomin

Future & Metro Boomin

We don’t trust you

We don’t trust you

Es ist eine der am meisten erwarteten Hip-Hop-Veröffentlichungen des Jahres: Metro und Future. Der Titel ist eine Anspielung auf das berühmte Producer-Tag: »If young Metro don’t trust you, we gon’ shoot you«, eingesprochen von – genau – Rapper Future. Die beiden Ikonen sind spätestens seit ihrer Zusammenarbeit auf Futures legendärem Album »DS 2« eines der Dream-Teams des Genres. Metro Boomin, seines Zeichens Produzent, beherrscht sie immer noch, die gespenstischen Synthies, die Gänsehaut-Streicher. Auch wenn alles eine Spur zu sauber durchproduziert klingt: Er kann es sich erlauben, der Hitmaker, der unvergessene Beats geschustert hat, man denke nur an Drakes und Futures »Jumpman« oder Migos’ »Bad and Boujee«. Dabei beweist er wieder sein Gespür für Samples: 70s-Funk auf dem Opener »We don’t trust you«, Miami-Bass auf »Like That«, 60s-Soul auf »Everyday Hustle« mit Rick Ross, der hier zur Bestform aufläuft. Die Feature-Gäste – darunter Kendrick Lamar und Travis Scott – vermitteln den Eindruck, den beiden Koryphäen durch starke Parts ihren Respekt zollen zu wollen. Future und Metro können auch mal eben The Weeknd für ein paar Adlibs holen (die zweifelsohne hypnotisieren). Die zentrale Frage bleibt wohl, ob Future nach all den Jahren noch den verletzten, Codein-getränkten, roughen Trap-Sound machen kann, den er (auch mithilfe von Metros Produktionen) erfunden hat, ohne aus der Zeit gefallen oder wegen seiner zahlreichen Chart-Hits unglaubwürdig zu klingen. Die Antwort liegt auch in Metros nachdenklichen Beats, wenn Future auf »Runnin Outta Time« rappt: »Sometimes even rich niggas get lost / I’m experiencin’ more paranoia.« Der Schmerz ist da, frei nach Notorius B.I.G.: »more money, more problems«. Wem die beiden nicht vertrauen, der nehme sich in Acht. Jan Müller

Schubsen

Schubsen

Das Öffnen der Visiere

Das Öffnen der Visiere

Wenn nichts mehr geht, hilft nur noch Offenheit – manchmal auch brutale Offenheit. Deshalb klappen Schubsen auf ihrem vierten Album die Visiere hoch und sagen, dass sie keine Antworten mehr haben auf die Fragen, die die Welt uns stellt. Die Nürnberger, mittlerweile vom Quartett zum Duo geschrumpft, vertonen die Sprachlosigkeit, die AfD-Wahlprognosen, überbordende Selbstpräsentation und übermächtige Filterblasen bei ihnen hinterlassen. Zwar ist »Das Öffnen der Visiere« ein in Post-Punk gepacktes Fragezeichen, aber es erzählt an keiner Stelle von Resignation oder gar Kapitulation. Vielmehr pressen Friedo und Krupski ihre Fragen in Form von Beobachtungen und Feststellungen in 11 Songs und 35 Minuten. Heraus kommt ein überaus dringliches Album, das mit unnachgiebig-mitreißendem Schlagzeug und fast schon swingenden Gitarren leichter und poppiger ist als die Vorgänger. Der Fokus liegt aber noch mehr auf Krupskis Stakkato-Gesang und den fast schon auf Parolen reduzierten Ansagen. Sätze wie »Ich wünschte, ich hätte Ängste« oder »Muss ich denn immer alles sein / Ich muss mal gar nichts sein« stehen da und beantworten so viel, wie sie offen lassen. Und dieses Offene ist gut, denn es lässt Raum für die eigenen Antworten und den eigenen Weg. Kerstin Petermann

Michael Barenboim & Natalia Pegarkova-Barenboim

Michael Barenboim & Natalia Pegarkova-Barenboim

Lieder ohne Worte

Lieder ohne Worte

Felix Mendelssohn Bartholdy holte 1836 den Violinvirtuosen und Komponisten Ferdinand David als Konzertmeister ans Gewandhaus zu Leipzig. David wurde als enger Freund auch Widmungsträger von Mendelssohns bekanntem Violinkonzert. Von Ferdinand Davids Kompositionen hat sein Posaunenkonzert die Zeiten überdauert, die meisten anderen seiner Werke aber sind in Vergessenheit geraten. Kaum bekannt sind auch seine Bearbeitungen der »Lieder ohne Worte« von Mendelssohn. Es scheint recht naheliegend, diese Klavierstücke – bestehend aus Melodie plus Begleitung – auf ein Soloinstrument mit Klavierbegleitung zu übertragen. Für Pianisten verlieren die beliebten Stücke dadurch natürlich etwas an Reiz, denn obgleich diese zum Teil sehr schlicht gehalten sind, gehört die überzeugende Gestaltung einer singenden Melodielinie zu den delikatesten Herausforderungen am Klavier. Der solistischen Aufgabe des »Singens mit den Händen« (wie Mendelssohns Schwester Fanny es formulierte) hat sich auf der vorliegenden Aufnahme der Geiger Michael Barenboim angenommen. Die schmucklosen, einfachen Melodien nimmt er im Allgemeinen schlicht, ab und an aber wird ein Portamento eingefügt, dreht ein Schweller Pirouetten. Gestaltungsmittel, über die ein Pianist so nicht verfügt. Begleitet wird der Geiger mit dem wandlungsfähigen Ton von der Pianistin Natalia Pegarkova-Barenboim, seiner Frau. Im Ergebnis hört man ein stimmiges, selbstverständliches Ineinandergreifen der Parts. Eine Aufnahme, die durch die gegebene klare, kaum interagierende Rollenverteilung ein wenig ermüdet, aber durch die intime Schlichtheit der Interpretation überzeugt. Anja Kleinmichel

Bärchen und die Milchbubis

Bärchen und die Milchbubis

Die Rückkehr des Bumm!

Die Rückkehr des Bumm!

»Bumm« kannst du nicht ignorieren. Oder wer kann schon bei Sätzen wie »Ich bin alt und ich darf alles – rauchen und saufen, alles – sogar Happy Bonbons, Happy Bonbons, Happy Bonbons« weghören? Vor allem wenn man zur Melodie mitpfeifen kann. Und von solchen Sätzen gibt es einige auf »Die Rückkehr des Bumm!«, als da wären: »Nur die Natur macht alles richtig, sie wuchert alles zu« oder »Ich brauch keine Pille, keine davor und keine danach«. Es geht um Selbstbestimmung über den eigenen Körper, darum, dass man sich manchmal hilflos fühlt. Um patriarchale Anwandlungen und Normverschiebungen nach rechts. 14 Mal heben Annette Simons und ihre drei Bandkollegen sanft den musikalischen Mittelfinger zum Mitschnipsen. So melden sich Bärchen und die Milchbubis nach 43 (!) Jahren jetzt mit ihrem zweiten Studioalbum zurück. Nach »Dann macht es Bumm« nun also »Die Rückkehr des Bumm!«. In den vergangenen Jahren hat sich das Hannoveraner Quartett immer mal wieder mit seinem Pop-Punk zur gesellschaftlichen Lage zu Wort gemeldet: Zwei EPs, Samplerbeiträge und eine Compilation des bisherigen Werks machen deutlich, dass die deutsche Musikszene nicht auf den bissig-fröhlichen Humor dieser Band verzichten kann. Er ist nicht nur Salz in der Wunde, sondern auch Salz in der Suppe der gesellschaftlichen Diskussion. Mit der AfD in Umfragen als zweitstärkste Kraft oder ernstgemeintem Vorschlag für ein Gender-Verbot ist es 2024 aber auch mal wieder Zeit für einen richtigen Bumm. Kerstin Petermann

H.i.T.

H.i.T.

Die Band

Die Band

H.i.T. ist die Punkband, von der mein 13-jähriges Ich gehofft hätte später einmal Teil zu sein. Zum einen, weil H.i.T. wahnsinnig gut klingen – Kommentare zum Musikvideo ihrer ersten Singleauskopplung vergleichen sie mit den Bad Brains: brachiale Drums, ningelnde Saiten, zielorientierter Gesang. Zum anderen, weil sie schnörkellos die Eckpfeiler eines erfüllten Lebens vermitteln: gute Leute, Skaten, Beton zum Skaten, Graffiti und Spätis, an denen man mit guten Leuten hängt. Und natürlich, weil sie auf diese besondere Art cool sind, auf die nur Leute cool sind, die gerade einen Riesenspaß haben und denen dabei egal ist, ob sie cool sind. Punk war lange nicht mehr so schlau, ohne verkopft zu sein, so schön, ohne performativ zu sein. Weil mir sowohl das Talent als auch die Kreativität fehlten, eine Band wie H.i.T. ins Leben zu rufen, bin ich froh, dass Puneh aka Makrele, Tightill und Max zur Jacobsmühlen (unter anderen – mir ist zur Zeit der Entstehung dieses Textes noch nicht ganz klar, wer genau in welcher Form Teil der Band ist) der deutschen Musiklandschaft dieses Geschenk machen und Anfang April eine sechs Titel umfassende EP auf Soulforce Records veröffentlichen. Einer dieser Titel ist »Kiosk«. Darin heißt es: »Nenn es Späti, Cornern, Kiosk oder Eck / Wir sind halt da draußen, seitdem ich mich selber kenn / Damals ’ne bunte Tüte und kein Haar am Sack« und ein bisschen so fühlt die kommende EP sich an. Wie eine bunte Tüte an der Ecke teilen und mit Bier nachspülen. Das sollte überhaupt viel öfter getan werden, denn, so H.i.T. weiter: »Dafür ist man nie zu alt, nur zu neoliberal«. Laura Gerlach

Nichtseattle

Nichtseattle

Haus

Haus

Verwunderung, bisweilen unverständliches Kopfschütteln rief Katharina Kollmann alias Nichtseattle vor zwei Jahren allerorts hervor, als sie ihr zweites Album »Kommunistenlibido« veröffentlichte. Was sie sich denn dabei gedacht habe, dieses Tabuwort – K O M M U N I S M U S – gut 30 Jahre nach der sogenannten Friedlichen Revolution zu bemühen, noch dazu als Ostdeutsche. Dabei wollte die 1985 Geborene selbstredend keine Sympathien für Stasi und Mauer bekunden, sondern lediglich ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit und weniger Ellbogenmentalität Ausdruck verleihen. Daran knüpft auch das neue Album »Haus« an, das entgegen der naheliegenden Interpretation keinesfalls einen Rückzug ins Private propagiert – im Gegenteil. Bereits im fantastischen Opener »Beluga« singt Kollmann gegen hippieske Häuslichkeit an, die sich mit Quinoa, Bio-Beluga-Linsen und Yoga im Gepäck Harmonie und Weltfrieden herbeihalluziniert. Am Ende singt sie dann zusammen mit dem von ihr geleiteten Kaufhallenchor »Ich tret auf unsere Marktanteile / Schieß die weg und fahr ne Weile / Nachts durch meine Zuhausestadt / Die keine Ahnung von Liebe hat«, was einem auch beim 25. Hörgang noch eiskalte Schauer über den Rücken jagt. Auch der Rest des Albums überzeugt durchgehend mit chansoneskem Indie-Pop im Slowcore-Tempo, wenngleich kein zweiter Übersong wie »Beluga« dabei ist. Wäre aber zugegebenermaßen auch etwas zu viel verlangt. Luca Glenzer

Khruangbin

Khruangbin

A La Sala

A La Sala

Knapp vier Jahre ist es her, dass diese texanische und allseits geschätzte Band ihr letztes reguläres Album veröffentlichte. Ihr Markenzeichen sind überwiegend instrumentale Tracks, bei denen keine Stoppuhr benutzt wird. In der Zwischenzeit lag das Trio, das sich einst als Kirchenband kennenlernte, keineswegs auf der faulen Haut. Zur Überbrückung der Wartezeit schenkte es uns ein spannendes Afrobeat-Album in Kooperation mit Vieux Farka Touré sowie eine weitere EP mit dem talentierten Soul-Crooner Leon Bridges. »A La Sala« markiert nun die Rückkehr zum Khruangbin-Sound der ersten Stunde. Ihren vierten Longplayer hat die Band sehr minimalistisch mit ihrem langjährigen Toningenieur Steve Christensen aufgenommen. Bezeichnend für das Frühwerk von Khruangbin ist die luftige Entspanntheit, gepaart mit groovigem Funk – eine Prise Thai-Funk sowie ganz viel souliger Funk der amerikanischen Siebziger, um genau zu sein. Ein Sound, dem wir stundenlang lauschen können. Hier und da zwitschern ein paar Vögel. Auch Grillen dürfen gelegentlich zirpen. Ansonsten ist »A La Sala« die meditative Essenz dieser Band. Da die ohnehin Everybody’s Darling ist, wird ihr wohl niemand diesen schönen Ausflug zu ihren Wurzeln verübeln. Fans der ersten Stunde dürfte die Platte sogar in rege Verzückung versetzen. Kay Engelhardt

Hjirok

Hjirok

Hjirok

Hjirok

Sie taumeln in Widersprüchen: Hjirok sind Hani Mojtahedy, eine kurdische Sängerin und Künstlerin, und Andi Toma, ein deutscher Musikproduzent und Gründungsmitglied der Formation Mouse on Mars. Im Duo schaffen die beiden Klangwelten, in denen sich traditionelle Erzählungen in verschiedenen Sprachen, wilde Melodien und tänzerische Rhythmen um experimentelle elektronische Klänge winden. Die Ornamente in der Musik gehen wesentlich von der Setar aus, einem persischen Saiteninstrument, das sich mit einer Laute vergleichen lässt. Die Trommeln pulsieren ganz warm, wölben sich manchmal über Mojtahedys Stimme. Das überrumpelt hier und da etwas, denn der starke, bisweilen ungestüme, raunende, betörende Gesang reizt besonders. Die Kraft in Mojtahedys Stimme kommt nicht von ungefähr, so berichtet Toma über ihre Stimme im gewaltsamen Regime: »Hani singt für Gleichberechtigung und es gibt Leute, die Angst davor haben – vor ihrer Weiblichkeit, ihrer Stärke.« Kaleidoskopisch formieren, überlagern sich die Höreindrücke des Albums »Hjirok«. So faszinieren die Songs durchgehend. Man verfällt der Musik rasch, wippt und wiegt sich hin und her und vergisst in dem wohligen Trancezustand, dass die Zeit nur so verfliegt. Claudia Helmert

Ike Yard

Ike Yard

1982

1982

Die späten siebziger und frühen achtziger Jahre waren eine Orgie der Freisetzung elektronischer Geräusche, vornehmlich Geräten japanischer Hersteller wie Korg, Yamaha oder Roland entlockt. Die funktionalere Linie verbindet dabei (Mutant-) Disco und Post-Punk-Dances mit heutiger Club-Kultur, während eine anti-utilitäre Linie, die zum reinen Noise neigt, über Industrial hinweg verweist. Die 1979 gegründete New Yorker Band Ike Yard baute sich zwischen diesen beiden Linien einen eigenen Weg. Rhythmisch zu hektisch, um Dancefloor-Boogie zu erzwingen, in den quer geschichteten Sounds extrem kühl, der Gesang in Fetzen stolpernd, weder ganz Befehlston (DAF) noch Verzweiflungs-Rockabilly (Suicide). Das interessierte zwar Zeitgeist-Labels wie Factory Records, aber damals sonst noch nicht genug, weswegen 1982 auch vorerst Schluss war, bis die zur Kult-Referenz gewordene Band 2007 wieder auftauchte. Dark Entries veröffentlicht nun Material, das zur zweiten LP hätte werden können und auch heute noch als faszinierende Freiform schillernder Dunkelheit aufscheint. Alexander Pehlemann

MDR-Chor

MDR-Chor

Motetten

Motetten

Für den Leipziger Rundfunkchor sind Bruckners klanggewaltige Motetten Pflichtprogramm. Wer dieses Ensemble dirigiert, muss sie im Schlaf beherrschen. Was der junge Chorleiter Philipp Ahmann selbstverständlich kann, wie er auf dieser CD beweist. Spannender als das Standardrepertoire aber ist die Kür, die der Dirigent zum Spätromantiker hinzusetzt: Motetten von Michael Haydn, dem jüngeren Bruder des berühmten Joseph. Von dem gibt es noch viel zu entdecken. Und auch die auf den ersten Blick ungewohnte Kombination hat zweifellos ihren Reiz. Denn beide tiefreligiöse Komponisten, zwischen denen fast ein Jahrhundert liegt, sahen sich als kirchenmusikalische Praktiker. So wird deutlich, warum Bruckner überhaupt so komponierte, wie er es tat: weil er die österreichische sakrale Tradition, die eher bei Michael als bei Joseph Haydn zu finden ist, mit der Muttermilch aufsog. Von der Leistungsfähigkeit des Chores zu schwärmen, hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Dennoch setzt Ahmann eigene Akzente: Der MDR-Chor klingt unter seinen Händen noch eine Spur wärmer als in früheren Jahren. Hagen Kunze

Diamanda La Berge Dramm

Diamanda La Berge Dramm

Inside Out

Inside Out

Wer im Musikbusiness Erfolg haben will, muss überraschen. Die niederländische Geigerin Diamanda La Berge Dramm fällt gleich doppelt auf. Zum einen präsentiert sich die 29-Jährige, die vor zwei Jahren einen begehrten Förderpreis erhalten hat, auf ihrer Debüt-CD »Inside Out« beim Leipziger Label Genuin mit kahl rasiertem Kopf. Soll heißen: Für mich soll nur meine Musik sprechen. Zum anderen ist es die Scheibe selbst, die auffällt. Denn die Geigerin wagt nicht nur »einen Brückenschlag zwischen Barock und Moderne«, wie die Plattenfirma schreibt. Vielmehr verwebt La Berge Dramm mit Bach und Cage die Extreme des Repertoires. Da ist zunächst der musikalische Achttausender von Bachs d-Moll-Partita, in dem die Kombination aus Vitalität und Sicherheit regelrecht beeindruckt. Dann folgt die Chaconne in einer gewagten Fassung für Geige und zwei Stimmen, die das hochkomplexe Geflecht klar vor Augen führt. Das öffnet die Ohren: Faszinierend, wie in Cages »Cheap Imitation« die Klangwelt ausgeweitet wird, ehe in »The Wonderful Widow of 18 Springs« die Geige generell zum Schlaginstrument wird. Hagen Kunze

Rose City Band

Rose City Band

Earth Trip

Earth Trip

Rose City Band ist das musikalische Steckenpferd von Ripley Johnson. Ansonsten ist der Musiker aus Portland bei den Wooden Shjips und dem Moon Duo tätig. Beide Bands haben den modernen Psychedelic Rock entscheidend mitgeprägt. Johnson erklärt die Idee hinter der Rose City Band wie folgt: »Meinen Freunden habe ich immer angedroht, eine Country-Band zu gründen. Dann könnte ich mich zur Ruhe setzen und jeden Donnerstag zur Happy Hour im Pub spielen.« Zu unserem Glück ist er noch lange nicht im Ruhestand, hat aber freundlicherweise trotzdem seine Drohung wahr gemacht. »Earth Trip« ist bereits sein drittes Album unter dem Namen Rose City Band. Die ersten beiden klangen noch schwer nach den Wooden Shjips, auch wenn der Country-Bezug deutlich war. Das neue Werk ist, wenig verwunderlich, immer noch sehr psychedelisch durchtränkt. Dennoch kommt »Earth Trip« Johnsons Drohung am nächsten. Hier finden wir lupenreinen Country. Mit reichlich Pedal Steel und der einen oder anderen Träne im Knopfloch. »Earth Trip« ist eine extrem abgehangene und sehr zurückgelehnte Country-Platte. Zusammengehalten durch Johnsons entspannte Stimme und göttlich-ausgedehnte Gitarrensoli. Die Happy Hour kann kommen. Kay Engelhardt

King Gizzard & the Lizard Wizard

King Gizzard & the Lizard Wizard

Butterfly 3000

Butterfly 3000

Sie haben es schon wieder getan. Zugegeben, sie tun die ganze Zeit eigentlich nichts anderes, dennoch freut man sich über das nun erschienene achtzehnte Album von King Gizzard & the Lizzard Wizard, als wäre es erst das siebte: Seit 2010 kloppt die Band, Australiens zweites großes Geschenk an die Welt nach INXS, Platte um Platte in die Welt, scheut dabei weder Experimente mit Thrash Metal (»Infest The Rat’s Nest«) noch Mikrotonalität (»Flying Microtonal Banana« et al.) und hat dennoch über die Jahre einen ebenso individuellen wie (am Psychedelic-Rock-Maßstab gemessen) massentauglichen Sound entwickelt. Das heißt, dass sie auch auf »Butterfly 3000« wieder so klingen, wie sie eigentlich immer klingen, wenn sie nicht gerade Thrash Metal machen, nämlich so, als würden sich vier rauschebärtige Beatles und der Krautrock auf einer Blumenwiese die Hand reichen und dabei ein bisschen weggetreten, aber lebensbejahend wirken. Die Songs werden meist zackig von Bass und Schlagzeug angeschoben und klingen so, als könnten sie auf diese Art bis in die Unendlichkeit weitergrooven. Die E-Gitarre samt dazugehörigem Effektarsenal lassen sie diesmal größtenteils stecken, stattdessen dominieren helle Synthiesounds und poppige Melodien das Geschehen, wo sonst der Fuzz wütet. Gesanglich klingt Stu Mackenzie wieder mal sehr nach Kevin Parker von den australischen Psychedelic-Kollegen Tame Impala, der aber wiederum schon immer sehr nach John Lennon geklungen hat, womit wir wieder auf der Blumenwiese wären, wo alles cool und groovy ist. Während aber Tame Impala auf ihren letzten Alben zunehmend in Richtung Stadionpop und Cäsarenwahn abdriften, stellt man sich King Gizzard beim Hören von »Butterfly 3000« immer noch als einen Haufen Leute vor, die in Batikshirts mit ihren Instrumenten auf einem Perserteppich hocken und dabei eine gute Zeit haben. Wir befürchten, dass sich die Nummer irgendwann in drei Jahren, circa bei Album Nummer 25, musikalisch auserzählt haben wird, (...) Kay Schier

Herbert Blomstedt/Gewandhausorchester

Herbert Blomstedt/Gewandhausorchester

Brahms: Sinfonie Nr. 2

Brahms: Sinfonie Nr. 2

94 Jahre ist Herbert Blomstedt in diesen Tagen geworden. Ein Alter, angesichts dessen manche Rezensenten zu eigenartigen Vergleichen neigen. Aber Hand aufs Herz: Schon, weil der Autor dieser Zeilen nicht nur halb so alt, sondern auch nur halb so fit wie der drahtige Ehrendirigent des Gewandhausorchesters ist, verbieten sich derartige Bezüge. Und wer wirklich ehrlich ist, wird kaum Unterschiede erkennen zwischen dem heutigen Blomstedt und jenem, der vor 30 Jahren kurz vor dem gesetzlichen Rentenalter stand. Der Schwede, das Gewandhaus und Brahms – das ist eine kongeniale Verbindung. Für Pentatone hat Blomstedt nun die Zweite des Romantikers eingespielt. Wunderbar souverän, ohne eitlen Tand, den manche Kollegen etwa im Schlusssatz präsentieren. Stattdessen ordnet der Dirigent alles der Musik unter und weiß das Gewandhausorchester zu nutzen, denn der Klang baut auf der warm tönenden Bassgruppe auf. Eine Scheibe, bei deren Blindtest man sofort das Ensemble erkennt und auch schnell auf den richtigen Dirigenten tippt: So ausgewogen lässt wirklich nur Herbert Blomstedt musizieren. Hagen Kunze

Olga Pashchenko

Olga Pashchenko

Mozart: Klavierkonzerte Nr. 9 und 17

Mozart: Klavierkonzerte Nr. 9 und 17

Zugegeben: Eine Entdeckung für die Alte-Musik-Szene ist die Kombination dieser beiden Klavierkonzerte wirklich nicht. Schon vor einem Vierteljahrhundert nahm Andreas Staier mit Concerto Köln die Klavierkonzerte Nr. 9 und 17 auf. Damals eine Sensation, denn der Klang authentischer Instrumente hatte sich 1996 zwar schon in der Barockmusik eingebürgert, aber über dem klassischen Kernrepertoire lag noch immer der Staub der 1950er Jahre. Wie sehr sich die Musikwelt seitdem geändert hat, zeigt diese Platte der jungen Russin Olga Pashchenko. Denn sie vereint hier das Beste beider Welten: die Brillanz und bis zur Perfektion ausgefeilte Technik der russischen Klavierschule einerseits und die von Nikolaus Harnoncourt entwickelte »musikalische Klangrede«, die die historisierende Sicht auf frühere Musik an die Stelle spätromantischer Überemotionalität stellte. So ist es auch kein Wunder, dass kein modernes Sinfonieorchester spielt, sondern mit »Il Gardellino« aus Belgien ein Spezialensemble, das Pashchenkos akzent- und farbenreiches Hammerklavier-Spiel noch angenehm zu paraphrasierenweiß. Hagen Kunze

Kollege Hartmann

Kollege Hartmann

Modus Mindestlohn

Modus Mindestlohn

»Hätte Danger Dan mich nicht gefragt, ob ich mit ihm auf Tour komme / hätt’ ich aufgehört und wär nur Back-up-Rap bei Gosse«: Bei aller Antipathie für Danger Dan und sein zeigefingerwedelndes Konstantin-Wecker-Cosplay, das er mit seinem aktuellen Soloprojekt durchzieht – aber da hat er mal was richtig gemacht. Auf »Modus Mindestlohn« präsentiert sich Kollege Hartmann nämlich noch ein gutes Stück angriffslustiger, kompromissloser und auch musikalisch mutiger als besagter Gossenboss mit Zett (und als Danger Dan sowieso). Auf mal weggetreten-verwaschenen, mal aggressiv wummernden Trapbeats grüßt Hartmann aus dem Angestelltenprekariat, teilt aus gegen die Stechuhr, den Gerichtsvollzieher, die dysfunktionale Beziehung und immer wieder gegen sich selbst. Das ist Midlife-Crisis in Reimform, kippt durch seinen sprachlichen Witz (»Gieße meine Zimmerpflanzen, als würde ich an morgen glauben«) aber niemals in reines Gejammer. »Modus Mindestlohn« ist der perfekte Soundtrack, um gepflegt auf den gelben Brief zu urinieren. Kay Schier

Rodrigo Amarante

Rodrigo Amarante

Drama

Drama

»Laut zu sein ist leicht. Ich flüstere lieber.« So weit die Selbstauskunft von Amarante, der uns schon vor mehr als einem Jahrzehnt als Mitglied der Band Little Joy zu zahlreichen zurückgelehnten Stunden verhalf. Bei jenem Projekt griffen ihm noch Strokes-Drummer Fabrizio Moretti und Binki Shapiro unter die Arme. Damals wie heute sind Samba, Bossa Nova, Jazz und Indie-Pop wichtige Koordinaten in der Klangwelt des gebürtigen Brasilianers, der inzwischen Los Angeles als zweites Zuhause ansieht. Das Zusammenführen dieser Genres betreibt Amarante ohne jegliche Mühe und mit größter Selbstverständlichkeit. So als ob Rio de Janeiro und Los Angeles schon seit jeher musikalische Partnerstädte wären. Amarante kollaborierte passenderweise sowohl mit Gilberto Gil als auch mit Devendra Banhart. Sein zweites Solo-Album »Drama« erweist sich als weit weniger dramatisch, als der Titel vermuten lässt. Das Album ist geprägt von unglaublicher Sanftheit. Die elf Songs sind sehnsüchtig, verträumt und verspielt. Mit anderen Worten: Der ideale Soundtrack für den geruhsamen Teil des Sommers. Kay Engelhardt