anzeige
anzeige

Rezensionen

Art School Girlfriend

Art School Girlfriend

Soft Landing

Soft Landing

»Everything looks perfect from such great heights« – ein wahrer Satz von Postal Service, der auch ganz wunderbar zusammenfasst, worum es in Polly Mackeys neuem Album geht. Unter dem Namen Art School Girlfriend veröffentlicht die Britin mit »Soft Landing« ihr zweites Album. Im Leadtrack »Close to the Clouds« blickt die Mitt-Dreißigerin auf ihre Teenager-Jahre zurück. Aus der Entfernung der Jahre fällt die Retrospektive versöhnlich aus: »Growing up to look back / Not the best, believe that / I would never change a thing«. Die Jahre sind – Klischee hin oder her – geprägt von emotionaler Unsicherheit, Ablehnung und dem Gefühl, nicht verstanden zu werden. Aber auch diesen emotionalen Turbulenzen steht die Musikerin heute mit sanftem Verständnis gegenüber – und findet tröstende Worte für ihr jüngeres Ich: »Didn’t know the hardest plan / Has given me the softest land«. Wenn Polly Mackey mit »Soft Landing« auch musikalisch ihren Teenager-Jahren Tribut zollt, dann hat sie diese wohl mit Bands wie The The oder den Psychedelic Furs verbracht. Auf jeden Fall ist das aktuelle Album noch elektronischer geworden. Die Drums bekommen jetzt etwas mehr House, nachdem sie sich beim Debüt »Is It Light Where You Are« noch unter dem Synthie-Teppich versteckten. Die Melodie trägt nun vor allem der leicht düstere Gesang. In den elf Songs stecken die Nostalgie, die Wehmut, aber auch die Zärtlichkeit jener, die mit genügend Abstand zurückblicken. Kerstin Petermann

Anohni and The Johnsons

Anohni and The Johnsons

My Back Was A Bridge For You To Cross

My Back Was A Bridge For You To Cross

Auf ihrem neuen Album kehrt Anohni in gleich mehrfacher Hinsicht zurück ins Reich der Vergangenheit: Die Grundidee von »My Back Was A Bridge For You To Cross« erwuchs einer Begegnung mit der damaligen Bürgerrechtlerin Marsha P. Johnson auf der Pride-Parade 1992 in New York. Johnson war zum damaligen Zeitpunkt bereits eine Ikone der Queer-Bewegung. Wenige Tage später wurde sie tot im Hudson River geborgen. Bis heute ist Johnson für Anohni ein enorm wichtiger Bezugspunkt: Davon zeugt auch das neue Album, das ganz im Zeichen des Lebens und Wirkens der Trans-Aktivistin steht und für das Anohni gar das Anhängsel »and The Johnsons« reaktiviert hat, das sie vor über zehn Jahren (damals noch als Antony) ad acta gelegt hatte. Aus diesem Rückbezug auf die Vergangenheit erwächst ein Sound, der eine gänzlich neue Galaxie im Anohni-Kosmos aufschlägt: Denn nach den atonalen, apokalyptisch anmutenden Experimenten auf »Hopelessness« aus dem Jahr 2016 orientiert sich die Künstlerin dieses Mal am warmen Motown-Sound der frühen siebziger Jahre – ein neben der überzeugenden musikalischen Darbietung auch ideengeschichtlich schlauer Schachzug, da der Queer-Aktivismus der späten Sechziger in den US-Metropolen stets eng verquickt war mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die wiederum assoziiert war mit dem Soul und Funk jener Zeit. Doch retro oder antiquiert klingt auf dem neuen Longplayer dennoch nichts: Stattdessen weisen Songs wie der Opener »It Must Change«, »Can’t« oder »It’s My Fault« aller Schwermut und Melancholie zum Trotz letztlich hoffnungsvoll in die Zukunft. Luca Glenzer

Anika

Anika

Eat Liquid

Eat Liquid

Zarte Synthies leuchten aus der Ferne und bremsen die geräuschvollen, rhythmischen Winde. Gitarrenmelodien dimensionieren das stille Dunkel. Dazu raunt, haucht, singt Anika in ihrem markant warmen Timbre. Ihre auratische Stimme führt in den Klangkosmos ein. Sie leitet durch die meditativen Repetitive und die transzendenten Tonschlieren ihrer Musik. Die Synthies schwirren, brodeln, wabern ins Außerweltliche. Mehr Psychedelisches im Alltag nimmt sich die britische Künstlerin zum Anspruch und zitiert mit dem Song »Climb on Board (Planetary Part V)« unmittelbar aus Timothy Learys »The Psychedelic Experience« von 1964. Leary war Psychologe und Guru, er brachte die Grenzen zwischen Droge und Medikament zum Schwimmen. So verfasste er im und durch den Rausch seinen Leitfaden über Erfahrungen religiöser, ritueller, mystischer Bewusstseinszustände durch psychedelische Drogen. Dass sich der Reiz des Rauschs, die Kontemplation, der Eskapismus auch in der Musik finden lassen, ist Anika bekannt: Sie suggeriert eine klangvolle Schwebe mit den nahen Melodiefunken und der dunklen, brodelnden Weite, die beschwingt. Mit ihren durchdringenden Traumsequenzen aus Tönen kreiert sie eine Gegenwelt auf Zeit. Die aktuelle Platte »Eat Liquid« komponierte die Musikerin, Produzentin und Journalistin Anika (Annika Henderson) für einen Liveauftritt im Zeiss-Großplanetarium in Berlin im Februar 2023. Die Live-LP ist nur eine von vielen schätzenswerten Veröffentlichungen der Wahlberlinerin, die unter anderem mit Beak und Exploded View, aber auch mit Sqürl ( Jim Jarmusch und Carter Logan) arbeitete. Und jetzt geschmeidig zurück in den Alltag? Claudia Helmert

Christoph Schenker

Christoph Schenker

Moviestar

Moviestar

»Es wäre toll, solche Alben alle zwei Jahre zu machen«, hatte Christoph Schenker nach dem Release seines Debütalbums »Cellosophy« (2012, Timezone) gesagt. Nun sind mehr als zehn Jahre vergangen, und die Zeit wurde gut genutzt. Dem Leipziger Cellisten ist mit »Moviestar« eine Fortsetzung zum Vorgängeralbum gelungen, die dieselbe Rezeptur nutzt, dabei aber die Menge der Zutaten reduziert und sich etwas mehr Leichtigkeit traut. Zu hören ist Schenkers Cello in zahllosen übereinandergelagerten Spuren, angereichert mit Klavier, Synthesizer, Schlagzeug, Drumcomputing, und – selten – Gesang. Die elf Stücke tragen Schenkers Handschrift, scheinen aber den Soundtracks zu unterschiedlichen Filmen zu entstammen. »Mahler Flies to the Moon« passt zu einem Märchen, die Beat-lastigen »Winters Ende« und »3000 Chords« bauen sich zu einem spannenden Showdown auf. »Sie + Er« mit seinem überladenen Arrangement nimmt einen mit in die Achtziger und sich selbst dabei zum Glück nicht allzu ernst. »Vöglein« macht das Kopfkino etwas konkreter: Hier ist es die bezaubernde Stimme Franziska Hudls, die dem Album einen Ruhepunkt gibt. Sie verleiht dem Kinderlied »Wenn ich ein Vöglein wär« eine neue Melodie und einen erweiterten Text – und erzählt dabei eine Geschichte von Nähe und Ferne und einem Flug durch Raum und Zeit. Ruprecht Langer

Elise Caluwaerts und Marianna Shirinyan

Elise Caluwaerts und Marianna Shirinyan

Alma – Meine Seele – Sämtliche Lieder von Alma Mahler

Alma – Meine Seele – Sämtliche Lieder von Alma Mahler

Alma Mahler komponierte etwas mehr als einhundert Lieder, Instrumentalstücke und den Beginn einer Oper. Bis auf die vorliegenden Lieder gingen jedoch alle ihre Kompositionen während des Zweiten Weltkriegs verloren. Ihre Lieder sind ein bemerkenswerter Teil des spätromantischen Liedrepertoires, werden bisher jedoch nur selten aufgeführt. Das vorliegende Album präsentiert erstmals alle 17 Stücke, die sie größtenteils als Jugendliche komponierte, also bevor sie Mahler hieß (nämlich Schindler). In ihnen wird ein Potenzial sichtbar, das die 1879 Geborene nicht ausgelebt hat, da die Niederlegung ihrer kompositorischen Ambitionen Bedingung für die Eheschließung mit ihrem Mann Gustav war. Die eigenwilligen Lieder sind stimmungsvoll, impulsiv, mehrdeutig, voll religiöser und erotischer Gefühle. Gustav Mahler gab fünf von Almas Liedern 1910 heraus. Im Rahmen einer schweren Ehekrise wandelte sich sein Blick auf die Jugendkompositionen seiner Ehefrau. Marianna Shirinyan begleitet die Sopranistin Elise Caluwaerts auf einem Steinway aus dem Jahr 1899, mit samtig-dunklem Timbre. Eine hörenswerte Interpretation dieses Repertoires, das direkt in die Zeit des Jugendstils mit seiner floralen Ornamentik führt und die dekadent-laszive Stimmung jener Zeit aufleben lässt. Anja Kleinmichel

Max Müller

Max Müller

Was weiß ich

Was weiß ich

Wem sich Grönemeyers »Das ist los« dieser Tage etwas zu manifestartig in den Weg stellt, der oder die kann sich bei Max Müllers jüngster Erscheinung »Was weiß ich« wohlig in Unbestimmtheit hüllen. Seit dem letzten Soloalbum des multibegabten Berliner Underground-Künstlers Max Müller (Mutter, Honkas, Campingsex) sind 14 Jahre vergangen. Mit »Was weiß ich« erschien Mitte Mai auf Fidel Bastro nun Max Müllers viertes Album, das in seinem Umfang und Inhalt von außerordentlicher Akribie und Experimentierfreude der musikalischen Einfälle zeugt. Raffinierte, teils zufällig und teils konsequent gesetzte Details im Songwriting und in der Produktion deuten auf unzählige Stunden im Heimstudio hin. Aus der Zerrissenheit und Melancholie, die sich durch das Werk ziehen, brechen tanzbare Momente, Autotune-Ironie, aber auch zarte Töne hervor. So ist es eine passende Überraschung, dass neben dem gesanglichen Gastauftritt von Partnerin Louise Lotzing auch Frank Spilkers Gitarre zu hören ist. 32 Lieder, die kaum unterschiedlicher sein könnten und sich doch in einem wichtigen Punkt gleichen: Denn in seiner Knappheit nimmt sich jeder Song die Freiheit, auf Originalitätsanspruch und Erwartungsdruck zu pfeifen. Fiona Lehmann

Die Benjamins

Die Benjamins

Die Benjamins

Die Benjamins

Die Benjamins – einen unscheinbareren Bandnamen hätte man sich kaum ausdenken können. Aber wo man nun mittelmäßigen Schulhof-Pop von ein paar pubertierenden Benjamins mit Akustikgitarren erwarten könnte, haben wir es tatsächlich mit einer der ungewöhnlichsten deutschsprachigen Supergroups der letzten Jahre zu tun: Trotz Plural im Namen gibt es bei den Benjamins genau eine Benjamin, Annette Benjamin nämlich – ehemalige Sängerin der legendären Punkband Hans-A-Plast, die in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern mit Hits wie »Lederhosentyp« oder »Rock’n’Roll Freitag« für Aufsehen sorgte. Dazu gesellen sich Max Gruber alias Drangsal, der das ganze Projekt angestoßen hat, Die-Nerven-Bassist Julian Knoth, Beatsteaks-Schlagzeuger Thomas Götz und Art-Pop-Sängerin Charlotte Brandi (früher Me and My Drummer). Klingt also erst mal äußerst vielversprechend. Nun ist die bloße Summe an illustren Mitgliedern in einem Projekt natürlich noch kein Garant für gute Songs oder einen interessanten Sound. Und so ist auch die selbstbetitelte Debüt-EP dieser »Avengers der deutschen Musik« – wie das Musikmagazin Diffus diese intergenerationale Gruppe recht treffend bezeichnete – eher durchwachsen. In den besten Momenten, etwa bei »Aus Liebe« oder »Drehen und Wenden« hat das Ganze in Sachen Energie und Originalität durchaus Hans-A-Plast’sche Qualitäten, ohne dabei verstaubt zu wirken. Eine Annette Benjamin in Höchstform, treibende Gitarren, interessante Choralpassagen – das sind durchaus spannende Ansätze, nur so recht aufgehen will das Ganze nicht. Der Sound ist dann doch oft etwas zu glattgebügelt, das Songwriting ein wenig zu verkopft und irgendwie schien allen Beteiligten nicht so ganz klar zu sein, wo man mit all dem musikalischen Potenzial eigentlich hinwill. Aber vielleicht sind Punk und das Konzept »Supergroup« auch einfach eine schwierige Kombination. Yannic Köhler

Jenny Lewis

Jenny Lewis

Joy’All

Joy’All

Jenny Lewis hat ihre bisherige Lebenszeit ausnehmend gut genutzt. Als Kind und Teenager arbeitete sie als Schauspielerin und hatte Gastauftritte in Serien wie »Baywatch« und »Roseanne«. In ihren frühen Zwanzigern war sie Mitbegründerin der Band Rilo Kiley, in der sie unter anderem sang. 2006 folgte sie der Einladung von Conor Oberst und nahm ihr erstes Solo-Album auf. »Joy’All« ist nun bereits ihre Soloplatte Nummer fünf. Der Großteil der Songs entstand während eines einwöchigen virtuellen Songwriting-Workshops, den kein Geringerer als Beck während des Corona-Lockdowns leitete. Die Challenge war es, jeden Tag einen Song nach den Vorgaben von Beck zu schreiben. Eine lautete etwa: »Schreibe einen Song, der nur aus Klischees besteht.« Entstanden ist dabei ein Album, das vor Retro-Charme nur so überquillt. Lewis hat nicht nur jede Menge Motown und Siebziger-Jahre-Country-Pop inhaliert, sondern besitzt auch ein feines Gespür für relaxte Melancholie. Selten haben bisweilen ziemlich düstere Songs so viel Spaß gemacht. Kay Engelhardt

King Krule

King Krule

Space Heavy

Space Heavy

Es war im Jahr 2013, da betrat über Nacht ein schüchterner Rotschopf die große Musikbühne, der in etwa so aussah wie Ron Weasley in seinem ersten Jahr in Hogwarts und zugleich so klang wie Tom Waits im Spätherbst seiner langen Karriere. Ja, schon irgendwie paradox, aber genau so war es! Vier Alben hat King Krule aka Archy Marshall – um den geht es hier nämlich! – bis »Man Alive« aus dem Jahr 2020 veröffentlicht. Nun – ziemlich genau 10 Jahre nach seinem Debüt – steht mit »Space Heavy« Album Nummer fünf in den Startlöchern. Und noch immer gleicht seine Musik einem düster funkelnden, wahlweise von Nina Simone oder Edwyn Collins höchstpersönlich geschliffenen Diamanten und klingt dabei zugleich so weise, als hätte er schon zehnmal zu Fuß die Welt durchquert und dabei fünf philosophische Habilitationen verfasst. Wie man es auch nennen mag – Dark-Jazz, Depressed-Wave, Death-Pop –, seine Musik vereint Abgründig- und Lässigkeit auf eine Weise, die einen regelmäßig staunen lässt. Unterstützt wird er dabei von einer Band, die wahrscheinlich weiß, wie gut sie ist, es aber nicht als nötig erachtet, das in jeder Albumsequenz zwanghaft unter Beweis stellen zu müssen. Wahrscheinlich ist es das, was eine Band so gut macht. Bringt der Bandleader dann noch in regelmäßigen Abständen so astreine Songs wie »Flimsier«, »Seaforth« oder den Titeltrack mit in den gemeinsamen Proberaum, verwundert es auch nicht, dass »Space Heavy« wie bereits seine Vorgänger über Wochen mit einer erstaunlichen Hartnäckigkeit nicht mehr vom rotierenden Plattenteller verschwinden möchte. Libia Caballero

PJ Harvey

PJ Harvey

I Inside The Old Year Dying

I Inside The Old Year Dying

Im Laufe der vergangenen 30 Jahre hat PJ Harvey es wie kaum eine andere zeitgenössische Künstlerin vermocht, ein eigenes musikalisches Universum zu kreieren. Angefangen von Alternative-Rock-Alben wie »To Bring You My Love« und »Stories From The City, Stories From The Sea« bis hin zu den opulent und detailreich arrangierten Art-Pop-Alben »Let England Shake« und »The Hope Six Demolition Project« hat sie sich ein breites Spektrum an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten angeeignet. Zuletzt wurde Harvey immer politischer, drehte für ihr letztes Album gar die Dokumentation »A Dog Called Money«, bei der sie sich auf einer Reise durch Afghanistan und den Kosovo begleiten ließ und die dortige Armut und gesellschaftlichen Umstände geißelte. Nach einer länger anhaltenden künstlerischen Schaffenskrise ist ihr neues Album »I Inside The Old Year Dying« nun wieder intimer geraten, knüpft musikalisch aber weitgehend dort an, wo sie zuletzt aufgehört hatte: So hätten Tracks wie »Autumn Term«, »Lonesome Tonight« oder der Titeltrack auch auf einem der beiden vorangegangenen Alben enthalten sein können. Kunstvoll verwebt Harvey dabei folkige Melodien mit jazziger Rhythmik, europäische mit orientalischer Harmonik und trägt damit implizit zu einer Entgrenzung von Begriffen und üblichen Termini bei: Art-Rock? Chamber-Pop? Post-Jazz? Harvey ist all das natürlich egal, und solange sie weiter solch hochklassige Alben produziert, hat man zugegebenermaßen selbst als Musikjournalist keinen Anlass, diesen Umstand zu kritisieren. Luca Glenzer

Dolphins

Dolphins

TBH

TBH

Wie die aufblitzenden Lichtreflexionen der Sonne auf einer weiten Wasseroberfläche funkeln, wärmen die Gitarrenmelodien von Dolphins. Groovy Drums tauchen ihr Klangbild in Lässigkeit. Gedämpft, gedoppelt und mit stets unbeschwerten Retrovibes umschmeichelt der Gesang den ersten Track: »Never Ever Run«. Die Synthies schlagen Wellen und berauschen im Takt des Songs »$oft Core«. Taktvoll prickeln die eingängig gehauchten Silben. Mit der anklingenden »Champagne Overdose« fispeln die Gesänge angenehm, die Bässe massieren und nonchalant sprudeln die Klänge vor sich hin. Der folgende Song »Don’t Blame It On Me (Or Thierry Henry)« ist ein Strudel der Melodien, der in Tiefen aus derben Gitarrentönen mitreißt. Mit »Future Dreams« und »Doin It« düsen die Klänge in einen warmfarbenen Horizont fort, sicher wird dort getanzt. »TBH« taufen Dolphins ihre aktuelle EP, die sich wie Urlaub anhört. Das Leipziger Duo ist eine dieser Bands, die ihre Geschichte mit den Worten »von der WG-Küche in die Welt« erzählen wollen. Bis dahin wirken sie als Kondensat des lokalen Musikuntergrunds, sind Teil des Sextetts Flying Moon in Space, Planets Are On it/Double Job, der Live-Besetzung von Warm Graves und der Geheimtipp, der immer gut ankommt. Mit sieben Songs schichten Dolphins nun hitzige, charmant-verstrickte Klangtexturen durchdacht über- und nebeneinander. Keine Nuance der 26 Minuten dauernden Musik ist austauschbar – »TBH« ist, um ehrlich zu sein, eine wirklich coole Platte. Claudia Helmert

Nadja Zwiener/Johannes Lang

Nadja Zwiener/Johannes Lang

1723

1723

Die Jahreszahl als Motto der CD verheißt eine klangliche Zeitreise. In das Jahr 1723 fällt Bachs Amtsantritt als Thomaskantor. Aber auch beide Instrumente, die hier erklingen, wurden in diesem Jahr gebaut. Unter den Händen der renommierten Barockviolinistin Nadja Zwiener erstrahlt die obertonreiche italienische Violine von David Tecchler und Bach selbst weihte noch im Herbst 1723 die Orgel in der Kreuzkirche in Störmthal bei Leipzig ein, die hier von Thomasorganist Johannes Lang gespielt wird. Die Kombination mit Orgel bringt hier eine andere, eine besondere, warme Farbsättigung in ein Repertoire, bei dem die Wahl des Tasteninstrumentes heute zumeist auf das Cembalo fällt. Der Heimat der Instrumente nachgehend, erklingen neben Bach und Pisendel aus Mitteldeutschland die Italiener Corelli und Bertali, Barockkomponisten aus Bachs Vorgänger-Generation. Die hier eingespielten Bach-Sonaten BWV 1021 und 1023 sind im Gegensatz zu den weitaus bekannteren Sonaten für Violine und Cembalo BWV 1014–1019 lediglich mit beziffertem Generalbass unterlegt. Auch Bibers Violinsonaten von 1681 stehen zu Unrecht im Schatten seiner ungleich bekannteren Rosenkranzsonaten. Mit ihrem facettenreichen Spiel lässt Nadja Zwiener die Überraschungen und unverhofften Wendungen dieser im sogenannten Stylus Phantasticus komponierten Musik ebenso lebendig werden, wie sie die Abwechslung kontemplativer Situationen und virtuoser Erregung auskostet. In strahlender Größe und sattem Volumen präsentiert sich die ansonsten kammermusikalisch agierende Orgel im festlichen Präludium und der Fuge aus der Triosonate BWV 545/529. Hier ist im Mittelsatz, dem Largo in einem Arrangement von Johannes Lang für Violine und Orgel, ein interpretatorisch außergewöhnlicher Moment erreicht. Unter Einsatz des Tremulanten entsteht ein Vibrato in der Orgel, das von der Violine aufgegriffen wird. Eine klangliche Entscheidung der Interpreten, die unerwartet fragil und emotional wirkt und noch einen Schritt hervortritt (...) Anja Kleinmichel

Wollenberg/Müller/Hanke

Wollenberg/Müller/Hanke

Versunken

Versunken

Leipzigs Urgestein Jens-Paul Wollenberg (auf dem kreuzer-Cover 11/2022) deklamiert hier rauschhaft seine lebensphilosophischen Dichtungen von Einsamkeit, Liebe, Ungewissheit und Sehnsucht über trocken verstimmten Barpianoklängen von Josef Müller. Ab und an pfeift farbenreich Thomas Hankes Mundharmonika vorbei. Es ist förmlich zu spüren, wie wohl sich Wollenberg in seinem ureigenen melodramatischen Stil mit hohem Amplitudenausschlag fühlt. Zwischen Intimität und Enthemmtheit der Lieder wähnt sich der Hörer zu Gast im Wohnzimmer der Musiker, gebannt von der Atmosphäre ihres unmittelbaren Stils. Und es scheinen in diesem Raum auch andere Leute zu sein, die am Ende der CD plötzlich anfangen mitzusingen. Die Mischung aus befreiten Gedanken, Klängen und Wortwitzen präsentiert sich in teils fantastischen Songformaten. Das ganze Projekt atmet Freiheit, ist räudig und fein zugleich. Anja Kleinmichel

Anamorphosis

Anamorphosis

Anamorphosis

Anamorphosis

Streamingdienste verändern nicht nur die Art, wie wir Musik hören, sondern auch die Musik selbst. Im ständigen Kampf um Streams werden Lieder gekürzt und Refrains an den Start vorgezogen. Nicht so bei Anamorphosis: Mit seinem gleichnamigen Debütalbum liefert das Instrumental-Sextett um den Saxofonisten und Klarinettisten Johannes Moritz die erfrischende Antithese. Langsam und melancholisch beginnt »Birds Eye View«, das erste Stück auf dem Album. Das Cello klagt und schafft weite Landschaften fiktiver Länder, bevor das Vibrafon rhythmisch zu fragen beginnt. Mit dem Einsetzen des Ensemble-Rests blendet das Stück auf: Es folgen explorative und rhythmische Geschichten, die nicht linear angesiedelt sind. Das Ergebnis ist ein Wechselbad der Emotion, das einen in einem Moment noch grooven, im nächsten schon die Welt erkunden lässt. Dem Konzept bleibt das Ensemble über das Album hinweg treu, die Musik ist häufig nachdenklich und mystisch, mal schneller und doch nie übereilt. Nicht jedes Stück funktioniert gleich gut, doch lässt die nicht einfach zu spielende Musik am Können der Musiker und Musikerinnen keinen Zweifel. In dem Album würden außermusikalische Themen, vor allem Perspektivwechsel, eine starke Rolle spielen, meint Johannes Moritz. Ob man diese Themen raushört, das obliegt dem Publikum. Einen Versuch oder Konzertbesuch wäre es wert. Jonas Strehl

Alehlokapi

Alehlokapi

Cheerful Pessimist

Cheerful Pessimist

Synthesizertöne blitzen durch die Stille und werfen ein warmes Licht auf die Stimme von Alehlokapi. »Bodyless« raunt der Gesang und erscheint dabei noch fragil aus der suggerierten Ferne. Der einsetzende Beat zoomt hinein in den nunmehr pulsierenden Track. Nun rotieren die Synthies wie Scheinwerfer und stärken den Sound zur Tanzbarkeit. Die Klangräume verdichten sich zu einem schönen Club, auf dessen Bühne der facettenreiche, durchdringende Gesang Alehlokapis strahlt. Diesig wölben sich dazu tragende Basslinien mit dem anklingenden Song »Let me« und dem frickeligen Pulsieren von »This Ain’t Real«. Die besungene, ambivalente Stärke einer toxischen Beziehung nuanciert die Sängerin mit »Cherry Me Up« treffend. Der sich anschließende Titeltrack trifft die Töne der Gegenwart. Griffig und schön umhüllt der Track die Verlorenheit mit Coolness, bleibt tanzbar und kraftvoll. In repetitiven Lyrics und sorgenvoller Langsamkeit räkelt sich der letzte Song »Why Would I« und wiegt die Hörerschaft in verhallende, rührende Höhen. Mit ihrer zweiten EP formt die Sängerin, Songwriterin und Produzentin aus Leipzig Großstadtpop: Schnelllebig – auch angesichts der Länge der Tracks –, aber nicht weniger bemerkenswert vereinen die sechs Songs eine Genre-Vielfalt, die mit jazzigen Rhythmen und Soul-Momenten verzückt. Alehlokapi öffnet musikalische Räume zum Grübeln und Tanzen, gerne auch simultan. Claudia Helmert

Chalk

Chalk

Conditions

Conditions

Wer oder was ist denn bitte Chalk? Wer sich traut, das Wort Kalkstein auszusprechen, liegt gar nicht so verkehrt. Denn bekannt ist das Sedimentgestein als Rohstoff für die Bauindustrie und genau so klingt die Debüt-EP der Elektro-Post-Punk-Band aus Belfast, die Anfang Mai erschien. Wer also auf Industrial-Noise steht, der oder die schreit nach Chalk! Wer die getaktete Symbiose von schweren Beats und Gitarreneffekten umarmt, der oder die ist bei Chalk zu Haus! Wer zu den NIN, Model/Actriz oder Enola Gay nickt, der oder die wird bei Chalk eine neue Referenz finden! Denn die Band baut in »Conditions« eine morbide, von Spannung aufgeladene Klangatmosphäre auf, über der die zittrige Stimme von Ross Cullen obskure, symbolbehaftete Texte über Ängste, Gedächtnisverlust und die verlorene Vergangenheit spricht. Für die minimalistische und doch raue Klangwirkung der EP sind Ross Cullen (Vocals, Gitarre, Bass, Synth), Luke Niblock (Gitarre) und Benedict Goddard (Schlagzeug) zuständig. Kennengelernt haben sich die Musiker in der Filmakademie und schrieben gemeinsam während des Lockdowns die fünf Songs von »Conditions«. Endlich ernten wir die guten Früchte der Pandemie. Und sie sind explosiv. Libia Caballero

MC Yallah

MC Yallah

Yallah Beibe

Yallah Beibe

Seit zehn Jahren kickt Nyege Nyege, ein Musik-Kollektiv mit Festival und Label in Kempala/Uganda, den elektronischen Sound Ostafrikas in die Wahrnehmung, mit ansteigendem Erfolg und zunehmender internationaler Vernetzung. Von der profitiert auch Yallah Mbidde Gaudencia, die als MC Yallah ihr zweites Album mit nachdrücklich artikulierter Worthärte auf dem noch stärker gen Clubkontext orientierten Sublabel Hakuna Kulala vorlegt und außer auf Englisch auch in den Sprachen Luganda, Luo und Kiswahili ihren Ausdruck findet. Verantwortlich für die bassbrachial drückenden Klangkonstrukte, auf denen sie ihre wütende Poesie abfeuert, sind drei Produzenten, die allesamt schon solo auf Hakuna Kulala veröffentlichten: der Franko-Berliner Debmaster, der bereits ihr letztes Album stützte, der ebenfalls in Berlin lebende Japaner Scotch Rolex, bekannt auch von Waq Waq Kingdom, und nicht zuletzt Chrisman aus dem Kongo. Alexander Pehlemann

Ben Folds

Ben Folds

What Matters Most

What Matters Most

Der Pianist und Sänger Ben Folds war einst der Leader des Trios Ben Folds Five, welches mit seinem punkigen Chamber-Pop mühelos die Brücke zwischen Klassik und Pop schlug. Wohlgemerkt in einer Zeit, in der die Unterscheidung in U- und E-Musik noch bedeutungsvoll war. Dass der Musiker aus North Carolina auf zwei Flügeln gleichzeitig versiert spielen kann, stellte er sogar schon in Leipzig unter Beweis. Seit 2001 ist er als Solo-Künstler unterwegs und frönt immer noch dem bittersüßen Pop, wenn auch weitaus weniger punkig. Darüber hinaus arbeitete er gemeinsam mit Nick Hornby an einem Album, ist als Fotograf tätig und verdingt sich als Berater für mehrere Orchester. Kaum Zeit für Schönheitsschlaf also. »What Matters Most« ist das erste Solo-Album seit acht Jahren und klingt unverkennbar nach Ben Folds. Nach wie vor regieren bittersüße und schwelgerische Melodien. Wie gehabt drehen sich die Lyrics um menschliche Abgründe und die Schattenseiten des Liebens. Die Magie des Lebens kommt netterweise aber auch nicht zu kurz. Jedoch sind die zehn neuen Stücke nur stellenweise eine echte Offenbarung. Dafür sind sie jederzeit solide und ganz sicher keine Enttäuschung für Ben-Folds-Fans. Kay Engelhardt

Anthony Romaniuk

Anthony Romaniuk

Perpetuum

Perpetuum

Dieses als Gesamtkunstwerk angelegte Album hat Suchtpotenzial. Der australische Pianist, besser: Multi-Keyboarder Anthony Romaniuk spielt sich auf sechs Tasteninstrumenten vom Cembalo bis zum Synthesizer quer durch die Musikgeschichte. Alle Stücke verbindet eine durchgehend repetitive rhythmische Struktur, die in ihrer Kontinuität hypnotisch, magisch, tranceartig wirkt. Naturgemäß überzeugt das Konzept insbesondere bei Minimal-Music, so beim Eröffnungsstück »China Gates« von John Adams. Aber auch von Purcell bis Ligeti fasziniert Romaniuk durch sein grooviges, stilsicheres Spiel. Einzig Schubert, Schumann und Beethoven wirken in diesem Kontext fehl am Platz, da der für diese Musik unerlässliche individuelle Ausdruck dem Rhythmischen untergeordnet wird. Das Beste am Schluss: Die Toccata Arpeggiata von Kapsberger, bei der Romaniuk Synthesizer mit freier Improvisation auf dem Flügel kombiniert. Silke Peterson

Gregor Meyer, Walter Zoller

Gregor Meyer, Walter Zoller

Auferstehung. Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 2

Auferstehung. Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 2

Zum zweiten Mal nach 2011 lädt das Gewandhaus zum Mahler-Festival (11.–29.5.). Die Verbindung des Österreichers mit Leipzig mag Auswärtige zunächst erstaunt haben – inzwischen aber hat sich die Bach-Stadt auch als Mahler-Ort einen Namen gemacht. Schließlich entstand hier, wo der junge Komponist an der Oper wirkte, die erste Sinfonie, und die »Todtenfeier« als Vorstufe der »Auferstehungssinfonie« hat ebenfalls an der Pleiße ihre Wurzeln. Im Zuge der Pandemie erinnerten sich Gregor Meyer und Walter Zoller, Chordirektor und Korrepetitor am Gewandhaus, an Bruno Walters vierhändige Klavierfassung der Monumentalsinfonie und nahmen diese auf. Schon im Eingangssatz wird die Übertragung licht präsentiert. Doch erst die Erweiterung (Annika Steinbach, Henriette Gödde als Solistinnen sowie ein kleiner Chor und der Trompeter Emanuel Mütze) macht die Scheibe außergewöhnlich. Schöner Nebeneffekt: Aus dem therapeutischen Duett zweier durch Corona unterbeschäftigter Enthusiasten wurde eine Fassung, die Mahler dorthin bringt, wo er kaum zu erwarten ist – etwa in die Dorfscheune nach Linda bei Geithain. Hagen Kunze