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Rezensionen

Krystian Zimerman

Krystian Zimerman

Beethoven: Klavierkonzerte

Beethoven: Klavierkonzerte

Er ist einer der ganz Großen, und er hat sich mit Studioaufnahmen rar gemacht. Dass der polnische Pianist Krystian Zimerman kaum CDs veröffentlicht, ist seinem Anspruch geschuldet – nicht nur, weil er in Sachen Stilistik kaum etwas dem Zufall überlässt. Selbst bei der Instrumentenwahl kennt er keine Kompromisse und spielt ausschließlich an seinen eigenen Flügeln der Marke Steinway. So horcht die Musikwelt auf, wenn sich der Pole 32 Jahre nach der unglücklichen Ersteinspielung aller Beethoven-Konzerte – der Dirigent Leonard Bernstein verstarb mitten in der Produktion – nun noch einmal dieser Zentralwerke des Repertoires annimmt; diesmal mit Simon Rattle und dem London Symphony Orchestra. Die Kombination darf man kongenial nennen: Zimermans artikuliertes Spiel, das den Konzerten außergewöhnliche Lesbarkeit verleiht, vereint sich mit Rattles lyrischem Dirigat, das den Pianisten auf Händen trägt und dennoch darauf achtet, dass jede Linie im Orchester hörbar wird. Sicher: An Einspielungen dieser Werke mangelt es keineswegs. Aber diese CD-Box bekommt einen Ehrenplatz im Regal. Hagen Kunze

Runge & Ammon

Runge & Ammon

Revolutionary Icons

Revolutionary Icons

25 Jahre ist es her, dass der Cellist Eckart Runge und der Pianist Jacques Ammon als Duo erstmals gemeinsame Wege bestritten. Nun gibt es derartige Duos wie Sand am Meer, aber Runge & Ammon wandeln seit nunmehr einem Vierteljahrhundert derart konsequent zwischen allen stilistischen Stühlen, dass ihre Grenzgänge inmitten von Klassik, Pop und Jazz mittlerweile legendär sind. Keine Frage, dass sie zum Jubiläum etwas Besonderes parat halten: »Revolutionary Icons«, ein Albumkonzept voller energiegeladener Musik des Systemsprengers Beethoven, gepaart mit Klängen von Ikonen der Popkultur. Was zunächst anstrengend wirkt – das Ohr muss sich an derartige Sprünge erst gewöhnen –, offenbart bald seinen ganzen Reiz. Etwa, wenn ausgehend von Beethovens vierter Cellosonate, einem zwar kontrapunktisch strengen, aber dennoch formal bahnbrechendem Werk, der wegweisende Song von Amy Winehouse »Back to Black« in einem betörend sinnlichen Arrangement folgt. Hier wird deutlich: Revolutionäre Musik ist keine Frage von U oder E. Entscheidend ist einzig der Mut, mit dem man ausgetretene Pfade verlässt. Hagen Kunze

Pokey LaFarge

Pokey LaFarge

In The Blossom Of Their Shade

In The Blossom Of Their Shade

Im März 2020 löste Pokey LaFarge seine Wohnung in Los Angeles auf. Er lagerte seinen gesamten Besitz ein und freute sich auf eine ausgedehnte Tour zu seinem umwerfenden Album »Rock Bottom Rhapsody«. Die Pandemie hatte etwas dagegen. Plötzlich saß er in Austin/Texas fest, wo sein Auftritt abgesagt wurde. LaFarge machte das Beste daraus und nahm kurzerhand das vorliegende Album auf. Wie gehabt rettet er die amerikanischen Fünfziger und Sechziger in die Gegenwart. Ähnlich wie bei Jonathan Richman und Richard Hawley verschwimmen auch bei ihm die Grenzen zwischen Retro und zeitlosem Crooner-Pop. LaFarge nutzt seine Version von modernem Swing und Blues, um die kleinen und großen Fragen des Lebens zu stellen. Sehnsucht, Hängepartien in der Liebe und Fernweh sind die wichtigsten Themen dieser Platte. Selbige bespricht LaFarge mit ausgeprägter Nonchalance und gelegentlicher Kratzigkeit in der Stimme. »In The Blossom Of Their Shade« klingt schwer nach verrauchter Kleinstadt-Bar, in der man zufällig strandet und plötzlich dem Maestro an den Lippen hängt. Arbeitstitel war übrigens »Siesta Love«, was auch bestens gepasst hätte. Kay Engelhardt

Diensthund

Diensthund

Horizont aus Draht

Horizont aus Draht

Knapp elf Minuten braucht der Diensthund, um einmal die volle Distanz zu rennen. Weniger poetisch ausgedrückt: »Horizont aus Draht« ist sehr kurz, dafür gibts voll in die Fresse. Wer hier aber klassischen Connewitzer Knüppelgrölpunk erwartet, ist schief gewickelt, denn der Sound der Leipziger Band ist deutlich näher an The Slits und den Talking Heads als an Schleimkeim (wobei die aus Stotternheim sind). Keiner der Songs überschreitet die drei Minuten, die meisten pendeln sich bei um die anderthalb ein, dennoch hat man hörbar Wert auf einen seriös gemischten Klang gelegt: Die Drums sind knackig und präsent, die Vocals an Stellen, an denen es sich lohnt, gut zu verstehen, Gitarre und Bass grenzen sich schneidend klar voneinander ab, anstatt genretypisch zu vermatschen. Die Aggression vermittelt sich hier nicht per durchgetretenem Zerrpedal, sondern durch die irren, punkuntypischen Schlenker, welche die Gitarre spielt, außerdem natürlich durch die im Stil der späten Siebziger herausgebellten Texte (»Der Opa bei der Wehrmacht / der Job was mit Kultur«, »Das Bratenthermometer auf 88 Grad«). Meistens schnell, manchmal schleppend, immer hellwach und mit einer klaren Haltung in Stil und Inhalten beweisen Diensthund mit »Horizont aus Draht«: Man kann eben Faschos aufs Gesicht steigen und trotzdem Ästhet sein. Kay Schier

Martin Steuber

Martin Steuber

And I play Guitar

And I play Guitar

Der Leipziger Gitarrist Martin Steuber präsentiert hier eine spannende Mischung zeitgenössischer Positionen für sein Instrument. Allesamt reflektieren diese Werke traditionelle Spielweisen des Zupfinstrumentes und versuchen andererseits, neue Klangfacetten der Gitarre auszuloten. Mit Berios »Sequenza XI« von 1987/88 und »Tellur« von Tristan Murail aus dem Jahr 1977 – zwei Klassikern der Avantgarde-Gitarrenliteratur – hat Steuber alle Möglichkeiten, seine Kompetenz bei der Realisierung aufwendigster komplexer Partituren zu demonstrieren und seine Virtuosität unter Beweis zu stellen. Sein gutes Timing und ein feines Gespür für die Gestaltung von Übergängen sind bemerkenswert. Stefan Beyers »Clair de lune« entstand 2021 auf Anregung des Interpreten. Während ein Zuspiel mit Sinustönen sich mit den akustischen Klängen der Gitarre vermischt, erinnert diese, hier mit dem Bogen gestrichen, kaum noch an sich selbst. Im Gegensatz zu Debussys gleichnamigem zartschwebendem Klavieropus entsteht hier eine abenteuerliche Klangwelt zwischen teils schneidend aggressiver Schärfe und überraschender Statik. Einen Ausflug in hochkomplexe Mikrotonalität gibt es mit Michael Quells »Momentaufnahmen/Caprichos – Reflexionen zu Goya … und darüber hinaus …«. Inmitten dieser aufgeregten Exzesse zeitgenössischer Kleinteiligkeit laden dann Gregor Forbes »Diffuse Planes« von 2021 regelrecht zum kontemplativen Zuhören ein. Er arbeitet mit besonderer Stimmung des Instrumentes und erzeugt Klangräume mit homogenen, repetitiven Strukturen aufgebrochener Akkorde. Ein abwechslungsreicher Parcours mit einigen Überraschungen. Anja Kleinmichel

Dirty Dishes / Frau Lehmann

Dirty Dishes / Frau Lehmann

Gewäsch

Gewäsch

Na, Bock auf einen Deep-Dive in Esoterikgewässer? Wie ein roter Faden schlängelt sich das Thema »Naturheilquelle« flussaufwärts durch die EP »Gewäsch« von Dirty Dishes aka Jan Müller und Rasmus Engler sowie dem Leipziger Quartett Frau Lehmann. Gleich der Titel sagt ganz charmant: Es geht nicht einfach nur um Wasser, sondern auch um nicht ernst zu nehmendes Gesabbel. In sechs (kurzen) Stücken, insgesamt kaum 15 Minuten, verhandeln sie Wasserfilter, rechtsdrehendes Urwasser und den Naturheilkundler Johann Christian Senckenberg – also alles, was das Esoteriker-Herz höher schlagen lässt. Sie sagen dabei sehr bestimmt »Urwasser – Nein!«, tun dies aber auch so charmant-freundlich, dass kein mahnender Zeigefinger befürchtet werden muss. Mit der Dirty-Dishes-typischen Freude an musikalischen Dada-Collagen experimentiert das Projekt um Jan Müller und Rasmus Engler auch auf »Gewäsch«. Sie basteln Stücke aus Rezitationen und Sprechgesang, untermalt von Hall und Verzerrungen. Ein absolutes Match ist das mit dem Pop-Faktor, den Frau Lehmann mitbringen. Immer mit dabei sind auch die smarten Wortspiele, die schon im Titel der EP aufblitzen. Da ist noch der Tintenfisch, der mit Löschpapier vielleicht ruhig zu stellen ist. Oder die Überlegung, sich mal flussaufwärts gegen den Strom treiben zu lassen. Ein Schelm, wer nur Dada dabei denkt. Diese Form der kritischen Diskussion ist doch eine sehr adäquate Alternative zum Rumgetrolle im Internet. Kerstin Petermann

Kreidler

Kreidler

Twists (A Visitor Arrives)

Twists (A Visitor Arrives)

Manchmal ist ein Mythos nur schwer zu eliminieren. So im Falle Düsseldorfs, das nicht nur (wenigstens inoffizielle) Bundeshauptstadt der Schönen und Reichen ist, sondern seit den frühen siebziger Jahren auch als mythisches Epizentrum elektronischer Klangkunst gilt. Genährt haben den Mythos einst Pioniere wie Kraftwerk, La Düsseldorf und Neu!. Seit den frühen Neunzigern schließt daran das Düsseldorfer Trio Kreidler an, das jüngst mit »Twists (A Visitor Arrives)« sein sechzehntes Album veröffentlicht hat. Im Vergleich zu seinem Vorgänger »Spells and Daubs« richtet es dabei wieder einen stärkeren Fokus auf akustische Elemente. Überaus groovig steigt die Band mit den beiden ersten Tracks »Polaris« und »Tanger Telex« ein. Letzteres bereichert Timucin Dündar mit spärlichen Saxofon-Melodien, der in dem Track die aktuelle Besetzung um die beiden Gründungsmitglieder Thomas Klein und Andreas Rehse sowie Alexander Paulick ergänzt und damit einer von vier Gastmusikern auf der Platte ist. Ähnlich rhythmisch, aber weniger düster geht es hingegen in »Loisaida Sisters« zu, das mit Gastvocals von Khan of Finland aufwartet und mitsamt nervösen Sequenzer-Spuren und vertrackten Rhythmen Erinnerungen an New-Wave-Bands wie Heaven 17 oder Depeche Mode erweckt. In »Hopscotch« unterstreicht Kreidler hingegen einmal mehr die geniale, von den Kraut-Ahnen adaptierte Fähigkeit, mittels stoischer Wiederholung eines einzigen musikalischen Themas sukzessive trance-artige Gemütszustände herbeizuführen. Der Mythos Düsseldorf lebt. Luca Glenzer

Elfyn

Elfyn

Anam Cara

Anam Cara

Ein starkes A-cappella-Stück: Mit »Endings Beginnings« eröffnet die Leipziger Musikerin und Sängerin Theresa Elflein aka Elfyn ihr Debütalbum. Der klangvolle Name »Anam Cara« birgt einen Seelenfreund – zumindest, wenn man sich bemüht, die keltische bzw. irische Redensart zu übersetzen. Dass Musik verbindet, ist längst bekannt. Elfyn meint aber, sie singe Oden an die Freundschaft – mit dem Mittel elektronischer Klangflüsse. Ihre Synthesizer-Melodien plätschern bisweilen, sie wallen, sprudeln und erfrischen ungebremst. Insbesondere »Own it« ist ein taffer Ohrwurm, der den warmen, kraftvollen Klang von Elfyns Stimme offenbart – und der Track nimmt einen an die Hand, um die Zeile »your good Intentions are the end of me« gleich mitzusingen. Hier und da vermag sich der tanzbare Sound mit Retro-Charme zu verbinden. Und in diesen Momenten fällt es auch nicht schwer zu glauben, dass die Künstlerin während der Produktion ein paar Madonna-Stücke gehört hat. Auf diese Pop-Wucht folgt das hinreißende George-Harrison-Cover »Isn’t it a Pity«. Synthies und Gesang winden sich verträumt ineinander und gehen eine zauberhafte Symbiose ein. Dass die Platte auf das verbindende und stärkende Element der Freundschaft setzt, wird von dem Hidden Track zum Ausklang des vielseitigen und sehr hörenswerten Debüts einmal mehr untermauert: »Das Buch der Liebe ist voller Musik« ist eine der Zeilen, mit denen das schwelgerische Album ausklingt. Claudia Helmert

Endless Wellness

Endless Wellness

Was für ein Glück

Was für ein Glück

»Ich möchte kein Eisbär sein, ich möchte eine Zukunft« – auf alle Fälle ein heißer Kandidat für die beste Songzeile des Jahres. Mit ein paar Worten einfach mal Klimakrise und die zugehörigen Zukunftsängste auf den Punkt gebracht, und im gleichen Atemzug auch noch fix mit der Elterngeneration abgerechnet (die damals zum NDW-Hit von Grauzone ja noch reichlich unbekümmert mitsingen konnte). Anyway. Die Zeile oben stammt jedenfalls aus dem Song »Danke für Alles« der österreichischen Indie-Newcomer Endless Wellness. Die haben gerade ihr Debütalbum »Was für ein Glück« vorgelegt, und das ist tatsächlich ein kleiner, unerwarteter Glücksfall für die deutschsprachige Poplandschaft. Zu einer recht ungestümen Schrammel-Fuzz-Punk-Indie-Folk-Pop-Mische singen Endless Wellness darauf über die eigenen (mal desolaten, mal hoffnungsvollen) Zustände sowie das große Ganze dahinter; über kaputte Nasenscheidewände und Geralt von Riva, über Potenzstörungen, goldene Genitalien oder darüber, keine Kinder mehr kriegen zu wollen. Ehrlich und verletzlich, ohne kitschig zu werden, witzig und selbstironisch, ohne gleich in der Ironie-Hölle zu stranden. Musikalisch präsentiert sich das Quartett aus Wien stellenweise noch etwas unausgegoren, aber darüber lässt sich dank charmanter Kaputtheit und lyrischem Esprit gerne hinweghören. Yannic Köhler

Real Estate

Real Estate

Daniel

Daniel

Fünfzehn Jahre flirrende Gitarrenlinien, sonnengetränkter Gesang und subtiles Rocken. Dass man schon als junger Mensch in seinen Zwanzigern großer Fan von Nostalgie sein kann, haben Sänger Martin Courtney und seine Mitstreiter bereits mit ihren ersten Platten hinlänglich bewiesen. Diese Attitüde haben sie glücklicherweise durch die Jahre gerettet. Ihr neues Album »Daniel« ist passenderweise eine gelungene Zusammenfassung ihrer Karriere. Der Opener »Somebody new« schmeckt wunderbar nach den folkigen amerikanischen Sechzigern und Siebzigern und wird zusätzlich mit Streichern verfeinert, die sich im Frühwerk der Band nicht finden. »Water Underground« groovt und kickt, was das Zeug hält. Für Real-Estate-Verhältnisse wohlgemerkt. »Airdrop« referiert auf ihr Faible für die Achtziger, dem die Musiker insbesondere auf ihren letzten beiden Alben frönten. Produzent Daniel Tashian aus Nashville, der sonst auch Mainstream-Country wie Kacey Musgraves herausputzt, hat seinen Teil dazu beigetragen, dass »Daniel« luftig, organisch und smooth daherkommt und auf leisen Pfoten unser Herz erobert. Ihr Meisterwerk »Atlas« von 2014 werden Real Estate in diesem Leben wohl nicht mehr toppen, »Daniel« ist allerdings ganz dicht dran. Kay Engelhardt

Take 3

Take 3

Werke von Francis Poulenc, Béla Bartók, Paul Schoenfield

Werke von Francis Poulenc, Béla Bartók, Paul Schoenfield

Patricia Kopatchinskaja beweist hier neben ihrem atemberaubend lebendigen Geigenspiel wieder ihren Sinn für lebendige, zeitgemäße Programmzusammenstellungen mit intelligenter Dramaturgie. Thema ihrer neuen Aufnahme ist das »Zu dritt zu spielen«. Dafür hat sie Trios von Francis Poulenc, Béla Bartók und dem amerikanischen Komponisten Paul Schoenfield (geb.1947) kombiniert. Das verbindende Element dieser Komponisten ist die Synthese verschiedener Stile. Ist es in Bartóks »Kontrasten« seine Vorliebe für traditionelle Musik, die er in ein universelleres, vom Jazz beeinflusstes Werk verwandelte, so ist es bei Poulenc die bunte Welt des Paris der Goldenen Zwanziger. Jeder der Sätze von Schoenfields Trio basiert auf einer osteuropäischen chassidischen Melodie. Die Werke erklingen dabei nicht immer am Stück. So werden die Teilchen der Bühnenmusik »L’invitation au château« von Poulenc wie kleine zerbrechliche Miniaturen intermezzohaft eingestreut. Ihre scheinbar hingehauchte nostalgische, etwas irreguläre Eleganz ist ein Pol der Aufnahme. Der andere manifestiert sich im letzten Stück, einem Klezmer-Tanz von Șerban Nichifor. Gespielt in überbordender energetischer Verausgabung und Klangfülle werden hier Grenzen einer Studioaufnahme gesprengt und das »Außen«, die Welt, hereingelassen. Hochartifizielle Interpretationen von Kopatchinskaja gemeinsam mit dem Klarinettisten und Improvisator Reto Bieri und Polina Leschenko am Klavier. Anja Kleinmichel

Idles

Idles

Tangk

Tangk

Schluss mit dem reinen gutturalen Spoken-Word-Style! Auf der neuen Platte beweist uns Joe Talbot, dass er fleißig beim Gesangsunterricht war und dass er – wie man bereits in »Crawler« vorab hören konnte – den einst eher aggressiven Idles-Sound auch schön soulig machen kann. Aufgrund dieser Behauptung aber zu glauben, dass das fünfte Album der Band aus Bristol lediglich aus samtigen Songs bestehen würde, wäre schmerzhaft falsch. Vielmehr ist es ein Kompromiss zwischen energetischem Post-Punk, elektronischem Alternative-Rock und Klavierballaden mit einem Hiphop-Zwinkern. Zu dieser Symbiose hat sicherlich die Tatsache beigetragen, dass Kenny Beats (Denzel Curry, Vince Staples, Benee), Nigel Godrich (Radiohead, The Smile, Beck) und der Idles-Gitarrist Mark Bowen das Album gemeinsam produzierten. Und darum fehlt es »Tangk« wahrscheinlich auch etwas an der Kohäsion, die in den vorherigen Platten maßgebend war. Dafür sind auf dem Album eine Menge Loops, Effekte, Keys und sogar Blasinstrumente zu hören, die überraschen. Ebenfalls anders an dem Album ist sein Narrativ, das primär von Liebe und eben nicht von Wut handelt, auch wenn der Sänger nicht vergisst, wiederholt »fuck the King« zu sagen. In der Tat benutzt Talbot hier das Wort »love« 29 Mal und lotet das Gefühl durch Themen wie Dankbarkeit, Sex, Herzschmerz, Vaterschaft und das Besingen eines fliehenden Pferdes im Ballettröckchen aus. »Look at him go!«, schreit er – und die Gitarren legen los. Libia Caballero Bastidas

Earth

Earth

Earth 2.23: Special Lower Frequenz Mix

Earth 2.23: Special Lower Frequenz Mix

1993 legten Earth ihr Album »Earth 2: Special Lower Frequency Version« vor, einen Geniestreich schwermetallener Entschleunigung nach der Formel Halfspeed-Slayer go La Monte Young – breitenwirksam wahrgenommen im Grunge-Overkill der damaligen Zeit. Drei Dekaden später springen nun zur Tribut-Wiederveröffentlichung ausgesuchte Klangkünstler in den walzenden Soundlavastrom, der noch immer oder gar umso besser als dystopische Dunkeldrone-Drohung des Zeitgeists passt, und präsentieren »Special Lower Frequency Mix«-Versionen. Justin K. Broadrick, dessen Referenzbogen von Napalm Death bis Godflesh und von dort zu Dub oder Techno geht, marschiert dabei straff und unbarmherzig, während Robert Hampson, bekannt von Loop und Main, und das Built-to-Spill-Mitglied Brett Netson den Magma-Marathon gehen, voll zu erfahren nur im Digitalformat. Auf dem der Kühlkriech-Beitrag von Kevin Richard Martin sogar reduziert bleibt, der allerdings als The Bug mit dem Wortflammenwerfer Flowdan eine einschlagende Death-Dancehall-Version einwirft, die allein schon die Anschaffung als Vinyl lohnt. Zwecks Rewind! Alexander Pehlemann

TTT-Turbo

TTT-Turbo

Space Bummers

Space Bummers

Bloß gut, dass TTT-Turbo auf den Punk gekommen ist! Auch die nunmehr zweite Veröffentlichung »Space Bummers« des Leipziger Musikers Jannes Elkner reizt mit dem Charme des Selbermachens – ganz wie es sich für eine waschechte Punk-Produktion gehört. Bemerkenswert, wie der 18-Jährige vor keiner Herausforderung zurückschreckt, die es für seine Wunschmusik benötigt: »Written & Recorded by Jannes Elkner, Album Artwork by Jannes Elkner, Mixed and Mastered: very bad«, kann man auf Bandcamp nachlesen. Ja, vielleicht tönt es ein bisschen dumpf, aber bei wohlwollendem Hinhören kommt der mulmige Klang doch Sound gewordenem Zigarettenrauch nahe, der sonst in den wohligen Clubs und Bars steht, die uns so herrlich fühlen lassen, dass es noch einen musikalischen Untergrund gibt – so übrigens auch TTT-Turbo: Der Musiker verstrickt stimmungsvoll in seine Klangpfade, in die man gerne auf den wummernden, pulsierenden Rhythmus des ersten Tracks »My Sword (Army of Darkness)« folgt. Bei aller Jugendlichkeit umhüllt die Musik das Gefühl von Retroavantgarde, insbesondere dann, wenn sich die Tanzimpulse des Rockabillys mit den bisweilen wirren Lyrics verschränken. Obendrein schrammelt, surrt und flirrt die Gitarre, die sich für den Track »Planet 666« besonders quirlig gibt. Synthesizermelodien spulen sich in die Songs, bis das Finale »Hey Spud!« uns ganz und gar einsaugt. Elkner gibt sich keiner Vision von »härter und schneller« hin, wie es das Genre manchmal so mit sich bringt – stattdessen überzeugt er mit spürbarer Freude am Musikmachen und lässt auch sein Interesse für allerhand Genres anklingen. Auch die zweite Veröffentlichung von TTT-Turbo ist hörens- und schätzenswert! Claudia Helmert

Ja, Panik

Ja, Panik

Don’t play with the rich Kids

Don’t play with the rich Kids

Die Welt stand Kopf, als plötzlich und völlig unerwartet am 1. Januar 2021 die neue Single »Apocalypse or Revolution«der wienerischsten Band Berlins – Ja, Panik – über die Timeline flimmerte. Und siehe da: Für einen kurzen Moment dachte man, nun wird alles wieder gut. Heute wissen wir zwar, dass es anders kam. Und dennoch wäre gegenwärtig alles wohl noch trister, wenn Ja, Panik weiter im Off-Modus geblieben wäre. Denn danach sah es zwischenzeitlich tatsächlich aus: 2014 erschien das vorerst letzte Album »Libertatia«, 2016 folgte zum 10-jährigen Bandjubiläum mit »Futur II« ein Buch, in dem Sänger und Kopf Andreas Spechtl zwischen den Zeilen bereits das Ende der Band zu verkünden schien. Damals hatte er sich mit seinem Soloprojekt schon längst vom Konzept der Rockband abgewandt. Und auch »Die Gruppe«, das Comeback-Album vor drei Jahren, war allen großen Momenten zum Trotz noch deutlich von Spechtls Vorliebe für elektronische Experimente geprägt. Davon ist auf »Don’t play with the rich Kids«, dem neuen, mittlerweile siebten Album der Band, nichts mehr zu spüren: Schon im ersten Song »Lost« werden einem die Gitarren in einer Derbheit um die Ohren geknallt, wie man es zuletzt auf dem 2007er-Album »The Taste and the Money« erlebt hat. Ja, Panik sind wütend, und wer die Band kennt, den wird das im Angesicht des gesellschaftlichen Status quo nicht überraschen. Was sie dabei aber maßgeblich vom Gros der allzeitwütenden Rockbands unterscheidet, ist die breite Klaviatur an Emotionen, die das Quintett nach wie vor im Schlaf beherrscht. Immer wieder offenbart Spechtl dabei Verletzlichkeit und seelische Abgründe: »Immer wieder glaube ich: / I found myself / Und dann bin ich’s wieder nicht«, heißt es in der Vorabsingle »Kung Fu Fighter«. Doch auch Trost findet man, (...) sucht, wie etwa im epochalen Abschlusssong »Ushuaia«: »Wenn ich nicht schlafen kann, singst du mich in den Schlaf.« Nach Schlafen ist einem nach dem abschließenden psychedelischen Gitarreninferno Luca Glenzer

Sleater-Kinney

Sleater-Kinney

Little Rope

Little Rope

Darf man es Feminismus nennen, wenn eine Amazone sich dem Kampf mit den eigenen Dämonen stellt? Wenn Xena sich die Wunden leckt, um dann wieder aufzustehen? Wenn Sleater-Kinney sich mit Trauer und Verletzlichkeit auseinandersetzen und daraus Kraft schöpfen? Ja, natürlich kann man das Feminismus nennen. Aber spielt das eigentlich eine Rolle? »Little Rope« ist das elfte Studioalbum der Riot-Grrrl-Band, die mittlerweile als Duo – Carrie Brownstein und Corin Tucker – auftritt. Auch wenn so ein Aufschrei 2024 immer noch angebracht wäre: Es wäre doch nostalgischer Quatsch zu sagen, das Album habe noch viel mit »Girls to the Front« und »I wanna be your Joey Ramone« zu tun. »Little Rope« steht vielmehr unter dem Eindruck des Unfalltodes von Carrie Brownsteins Mutter und Stiefvater. Ihre zehn Songs, die sie zusammen mit Corin Tucker neu arrangiert und aufgenommen hat, zeigen eine ungeahnte, aber verständliche Verletzlichkeit. »Lie gently with me / All Clocks have stopped«, singt Tucker ziemlich zart in »Say it like you mean it«. Hart ist nur der Rhythmus des Schlagzeugs. »Hunt you down« offenbart die schon angesprochenen Dämonen und die Angst davor: »The Thing you fear the most will hunt you down«, singt Tucker in hymnisch-kraftvollem Pop-Setting. Es wandelt sich aber die anfängliche Verletzlichkeit zu Angst und von Angst zu Entschlossenheit und von Entschlossenheit zu Kraft. Aus Trauer wird Power. Und am Ende geht es nicht mehr »nur« um persönlichen Verlust, sondern um alles, gegen oder für das man kämpfen muss. Wie dieser Kampf ausgeht, wird im letzten Song »Untidy Creature« deutlich: »You built a Cage, but your Measurement’s wrong / Cause I’ll find a Way and I’ll pick your Lock«. Die Amazone schlägt die Dämonen in die Flucht. Xena steht auf. Und Sleater-Kinney protestieren weiter. Kerstin Petermann

Andreas Dorau

Andreas Dorau

Im Gebüsch

Im Gebüsch

Alle werden alt. Nur wir nicht. Andreas Dorau zum Beispiel wird dieser Tage sechzig. Wobei, warte mal, waren wir nicht kürzlich erst im Knust zu Hamburg bei der Anti-Gala anlässlich seines 50. Geburtstages? Wenn der Mann seitdem zehn Jahre älter geworden ist, dann sind wir ja … minus sieben … zwei im Sinn … auf jeden Fall immer noch jung! Scheinbar ewig jung ist das Stimmchen von Andreas Dorau, das ihn auch auf seinem neuen Album, dem 13., klingen lässt wie damals, als er vom Jupiter kommend die Erde betrat. Nun also »Im Gebüsch« mit 13 Songs, denen man rein gar nichts vorwerfen kann: Das ist grandiose Popmusik, hittig, ohne echte Hits zu liefern, was sie in unseren erlauchten Kreisen natürlich noch angesehener macht. Als da wären: »Die Konstante«, »Das ist nur Musik«, »Das Glück«, »Die Welt ist ein seltsamer Planet«, »Storchengesang«, »Was nimmst du mit«, »Rainy Days in Moscow«, »Ich bin nicht ich«, sprich: 8 von 13, was für eine Quote. Die größtenteils elektronische Musik ist phänomenal. Beats, Synthies, alles. Dazu Zeilen wie »Klapp, klapp, klapp, ein Klapperton / Monoton ist auch ein Ton« oder »Hamster Rudi darf nicht sterben / Der soll ja später alles erben«. Konzert gibt’s erst mal nur eins, am 19. Januar, Doraus Geburtstag, im Knust in Hamburg. Da fahren wir aber nicht extra hin. Aus dem Alter sind wir raus. Benjamin Heine

Jaakko Eino Kalevi

Jaakko Eino Kalevi

Chaos Magic

Chaos Magic

Die deutsche Sprache offenbart uns eine einfache Wahrheit, die in der Kunst immer wieder Bestätigung findet: Die spinnen, die Finnen! Seien es die Filme von Aki Kaurismäki (»Leningrad Cowboys«), der Humppa-Pop von Eläkeläiset oder die Spiele von Remedy (»Alan Wake 2« – siehe S. 41) – die Finnen haben ein Faible für das Abseitige. So auch Jaakko Eino Kalevi Savolainen, der die Welt seit seinem Debüt »Dragon Quest« von 2007 mit Synth-Pop bereichert. Halb Crooner, halb Tüftler erschien er auf der Bildfläche unserer Stadt erstmals 2015 mit seinem selbstbetitelten Album und einem denkwürdigen Auftritt in der Nato. Seitdem hat er die Welt bereist, lebte zeitweise in Berlin, bevor er nach Griechenland zog. Dort nahm er auch sein aktuelles Album »Chaos Magic« auf und dem ersten Eindruck nach ist alles beim Alten: Auch das siebte Album watet knietief durch die elektronischen Achtziger, ist sich dabei für keine Referenz zu schade und reißt alle Kitschgrenzen nieder. Aber am Saxofon ist hier Jimi Tenor zu hören, der mit »Take Me Baby« Mitte der Neunziger selbst zur Rave-Legende in Berliner Clubs wurde. Zu zwei Tracks steuert Alma Jodorowsky Stimme und Synths bei, die Enkelin des Regie-Exzentrikers Alejandro Jodorowsky (»Montagna Sacra«). Darüber hinaus sind John Moods und Faux Real zu hören und Yu-Ching Huang singt auf Mandarin zu einer Georgio-Moroder-Disco-Hymne. Das ist alles wunderbar weird und verdammt catchy. Lars Tunçay

Zweilaster

Zweilaster

Scheiblettenkäse & Sehnsucht

Scheiblettenkäse & Sehnsucht

Zweilaster wachen verratzt auf und haben taube Backen, sie wissen nicht weiter und ihre Bettkante auch nicht, dennoch holen Zweilaster dich aus dem Bett. Zweilaster müssen konsequent pissen, Zweilaster sind Marie (Schlagzeug und Gesang) und Arno (Gitarre und Gesang) aus Stuttgart. Mit »Scheiblettenkäse & Sehnsucht« hat das Duo nun sein zweites Album veröffentlicht. Es erscheint über Tomatenplatten, das Label des Beatsteaks-Schlagzeugers Thomas Götz, und ist auch auf Vinyl erhältlich. Produziert hat es Julian Knoth, seines Zeichens Bassist bei Die Nerven. Durch sechzehn Titel trägt sich ein stringenter inhaltlicher Minimalismus. Bei Norma ist was im Angebot und wo hast du dir die roten Haare machen lassen? Zweilaster selber sagen: »Es geht um Pain und Joy – echte Kunsttherapie halt.« Die im DIY-Stil aufgenommenen Stücke liefern Lofi-Spaßpunk, aber erlauben auch Assoziationen zu Antifolk. Ein bereits gefallener Begriff, um die musikalischen Ergüsse von Zweilaster zu beschreiben, ist Flat Wave. In einer gerechten Welt wären Songs wie »Norma« und »Alte Leute« Hits, sagt Labelbetreiber Thomas Götz. Das sehe ich auch so. Es macht Spaß, Zweilaster beim Deprimiertsein zuzuhören. Mein neues Laster ist Zweilaster-Hören. Fiona Lehmann

Casper

Casper

Nur Liebe, immer

Nur Liebe, immer

Filmisch schwirren die Melodien vom »Intro« ins Heilsversprechen, mit dem Casper seine neue Platte schmückt: »Nur Liebe, immer«. Filmisch ist auch die Produktion der Platte, mit der der Musiker die Größe von Pop fühlt und füllt – ganz entgegen den ausschließlich kleinen Buchstaben, die er für Album- und Songtitel wählt. Die Platte folgt nicht wie die vorangegangene einem Konzept, gleicht dadurch mehr einem Episodenfilm als einem Drama. Zum Albumtitel erklärt der Künstler via Instagram, dass bedingungslose Liebe, Offenheit und Vergebung in unseren Zeiten die größte Provokation seien. Obgleich dieses Punkversprechen, das man hinter der Koketterie vermuten mag, nicht in der Musik anklingt, tut es das sehr wohl in der Umwertung von großen Themen wie Männlichkeit und Mental Health. Die satten Beats bewegen, die Synthies glühen und Gitarrenakzente flirren eindringlich für die Musik gewordene Zeitreise in das Leben des Künstlers im Song »Echt von unten/Zoé freestyle«. So ziert auch das Cover eine scheinbar spontane Aufnahme des in Deutschland geborenen und teilweise in den USA aufgewachsenen Musikers im Alter von elf Jahren. Casper zeigt sich selbstreferenziell und nahbar – so ist die Brücke zum Genre Straßenrap flink gebaut: »Ist es Rap oder Straßencosplay, das ihr spielt? Ist es echt oder bloß gerade auf Beats?«, hinterfragt er. Deutlich eingängiger beschwingt »Sommer«, für den er gemeinsam mit Cro die Worte »doch alles fine and dandy, denn die Mansion ist gebaut« sprudelt. Unverwechselbar seit eh und je klingt Caspers Stimme, die sich an die wohlproduzierten Melodien schmiegt. So zeitgeistert der Künstler durch den Track »Luft holen« und rappt »unsere Terminkalender werden zu Tetris«. Er zeigt sich schwelgerisch »verliebt in der Stadt, die es nicht gibt« und so vielseitig, wie das Leben eben so spielt. Claudia Helmert