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Rezensionen

Veni Vidi Vici

Veni Vidi Vici

AT 2024, R: Daniel Hoesl, Julia Niemann, D: Laurence Rupp, Ursina Lardi, Olivia Goschler, 86 min

Es gibt eine Szene, in der sich der superreiche Amon Maynard seine Kindergeburtstagsschminke – eine edle weiße Raubkatze – vom Gesicht wischt, die Demaskierung endet in einer Fratze. Ein Sinnbild für den ganzen Film. Die Maynards sind fast eine Bilderbuchfamilie: jede Menge Ressourcen, Ansehen, Macht und Glück. Der Vater tollt herzallerliebst mit den beiden Multikulti-Adoptivtöchtern, knutscht stets frischverliebt seine ältere Frau und der älteste Spross Paula scheint aufgrund von Freizeitaktivitäten wie Polo und Co. auch ganz ausgeglichen. So hoch die Maynards jedoch auf der Bedürfnispyramide thronen, so tief stecken sie im moralischen Sumpf. Denn Papa hat neben immensen Investments und feindlichen Firmenübernahmen ein hasserfülltes Hobby: Er erschießt nebenbei Menschen. Dabei wird er sogar vom Justizminister gedeckt. Trotzdem kommen ihm ein seniler Jagdaufseher und ein abgehalfterter Journalist auf die Schliche. Aber was heißt das schon? Die österreichische Gesellschaftssatire streift durch die Fassaden und Abgründe einer machtbesoffenen Schicht, deren Vermögen – im doppelten Sinn – kaum Grenzen kennt und keinen anderen Gott, geschweige denn Mitmenschen, duldet. Eindringlich gespielt und mit einigen kuriosen Szenen sowie interessanten Soundeffekten ausgestattet, packt der bitterböse Streifen das Publikum an Hals und Herz. Einzig eine unglaubwürdige Wendung am Schluss wirft einen kleinen Schatten. MARKUS GÄRTNER

September 5

September 5

D 2024, R: Tim Fehlbaum, D: Peter Sarsgaard, John Magaro, Leonie Benesch, 95 min

Der 5. September 1972 war ein schwarzer Tag in der deutschen Geschichte. Als palästinensische Terroristen bei den Olympischen Spielen in München elf Mitglieder des israelischen Olympiateams ermordeten, schaute die ganze Welt zu. Ausgerechnet auf deutschem Boden geschah etwas Unvorstellbares. Mittendrin war damals das Team der Sportsparte des US-Senders ABC. Weil sie die technischen Möglichkeiten hatten, wurden sie zum Auge der Weltöffentlichkeit. Millionen hockten gebannt vor dem Fernseher und verfolgten die Bilder live. Der Schweizer Regisseur Tim Fehlbaum (»Hell«) schildert die Stunden im Schaltraum, wo die Bilder zusammenliefen. Den verlässt die Kamera nur durch die Aufnahmen und Berichte der Reporter. Ein cleverer Kniff, der die Spannung auf wenige Quadratmeter konzentriert. Getragen wird sie von einer Riege exzellenter Darsteller. Peter Sarsgaard (»Memory«) hat als TV-Chef Roone Arledge den Hut auf, John Magaro (»First Cow«) wächst als Aufnahmeleiter Geoffrey Mason über sich hinaus und Leonie Benesch (»Das Lehrerzimmer«) spielt als Übersetzerin eine entscheidende Rolle im kritischen Moment der Berichterstattung. Tim Fehlbaum inszeniert das hochspannend und mit sicherer Hand. Er wirft ebenso ein Licht auf das Versagen der deutschen Einsatzkräfte wie auf die mediale Sucht nach den besten Bildern im Angesicht einer Katastrophe. Kein Wunder, dass der Polit-Thriller nach amerikanischem Vorbild ins Rennen um den Golden Globe und den Oscar als bester Film des Jahres geht. LARS TUNÇAY

Die Saat des heiligen Feigenbaums

Die Saat des heiligen Feigenbaums

IRN/D/F 2024, R: Mohammad Rasoulof, D: Missagh Zareh, Soheila Golestani, Mahsa Rostami, 168 min

Viele Filmemacher aus dem Iran versuchen, die politische und gesellschaftliche Situation in der islamischen Republik zu beschreiben. Wie aber kann man den Glauben und das Vertrauen in den Staat mit einer kritischen Haltung transportieren und dem Westen die Augen öffnen für die wirkliche Realität der Menschen im Iran? Dem Autor und Regisseur Mohammad Rasoulof (»Doch das Böse gibt es nicht«, Goldener Bär 2020) gelingt das über eine unmittelbare, subjektive Perspektive. Dafür wird er auf Festivals weltweit gefeiert. In seinem neuen Film beschreibt er die Auswirkungen der entflammenden Studentenproteste nach dem Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini aus dem Blickwinkel einer Familie in Teheran. Vater Iman ist gerade zum staatlichen Ermittler befördert worden. Seine Unterschrift entscheidet, wer zum Tode verurteilt wird, doch eine Wahl hat er nicht. Sein neuer Posten hat direkten Einfluss auf seine Frau und die beiden Töchter, die von nun an in ständiger Angst leben müssen. Und all das für eine Vierzimmerwohnung? Seine Frau Najmeh nimmt es hin und will den Glauben an den Staat nicht verlieren. Die 21-jährige Rezvan und ihre jüngere Schwester erleben hingegen unmittelbar die gewaltvolle Repression auf der Straße. Mit starken Bildern und in beklemmenden Atmosphäre schildert Rasoulof nachvollziehbar und ungefiltert den Alltag der Familie. Für sein kraftvolles Plädoyer gegen die Todesstrafe wurde der Filmemacher selbst zum Tode verurteilt, konnte aber rechtzeitig nach Deutschland fliehen. Seine mutigen Darstellerinnen leben weiterhin im Iran. LARS TUNÇAY

Nosferatu – Der Untote

Nosferatu – Der Untote

USA/CZ 2024, R: Robert Eggers, D: Lily-Rose Depp, Nicholas Hoult, Bill Skarsgård, 133 min

Robert Eggers verwirklichte seinen Traum, Friedrich Wilhelm Murnaus Klassiker neues Blut einzuflößen. Dabei bewegt er sich eng am Original, inszenierte seine Neuauflage aber nicht im körnigen Schwarz-Weiß, sondern entwarf gemeinsam mit seinem Stamm-Kameramann Jarin Blaschke beeindruckende atmosphärische Bilderwelten, die dem deutschen expressionistischen Stummfilm Tribut zollen. In unheilvollen, düsteren Bildern erzählt er zunächst von der Reise des frisch Vermählten Thomas Hutter. Der wird von seinem Chef im Jahr 1838 nach Transsylvanien geschickt. Der mysteriöse Graf Orlok hat ein Anwesen im Ort erworben und es bedarf noch seiner Unterschrift, um den Kauf perfekt zu machen. Thomas möchte seiner Angetrauten Ellen ein besseres Leben ermöglichen und nimmt die beschwerliche Reise auf sich, obwohl Ellen dunkle Vorahnungen den Schlaf rauben. Sie soll Recht behalten. Der finstere Graf bemächtigt sich Thomas’ Seele, denn er hat es auf Ellen abgesehen. Die Angst vor der Pest und dem Unerklärlichen vermischen sich zu einem einzigen Albtraum. Die Furcht verdichtet sich und erreicht nach rund zwei Stunden ihren Höhepunkt. Eggers’ »Nosferatu« beginnt schleichend und steigert sich minutiös. Die Bilder fesseln aber schon von der ersten Einstellung an. Die zeitgemäße Ausstattung, ein dunkel dräuender Score von Robin Carolan und ein exzellentes Schauspielensemble sorgen dafür, dass sich erst beim Abspann die Anspannung löst, das Grauen aber noch lange nachhallt. LARS TUNÇAY

Queer

Queer

USA/I 2024, R: Luca Guadagnino, D: Daniel Craig, Drew Starkey, Daan De Wit, 151 min

Bill Lee (fantastisch: Daniel Craig) ist ein in die Jahre gekommener US-amerikanischer Schriftsteller, den es nach Mexiko verschlagen hat, weil er dort seinen diversen Abhängigkeiten bedenkenlos frönen kann: Alkohol, Drogen und wechselnde Männerbekanntschaften. Als vor Ort der blendend aussehende Eugene auftaucht, ist Bills Ehrgeiz geweckt, den schönen Mann mit Haut und Haaren zu besitzen. Nachdem er ihn tatsächlich ins Bett bekommen hat, schlägt er Eugene vor, ihn auf eine Reise nach Südamerika zu begleiten, wo es eine Pflanze geben soll, die einem telepathische Kräfte verleiht … Die Werke des Beat-Schriftstellers William S. Burroughs gelten gemeinhin als schwer verfilmbar, weil sie eher assoziativ als narrativ aufgebaut sind. David Cronenberg ist es mit »Naked Lunch« 1990 dennoch gut gelungen, nun reiht sich Luca Guadagnino (»Call me by your Name«) ein. »Queer«, das sicherlich homoerotischste und persönlichste Werk Burroughs’, adaptiert Guadagnino auf kongeniale Weise. Mit wunderschönen, immer leicht unwirklichen Bildern, ähnlich denen von Yorgos Lanthimos’ Look in »Poor Things«, mit Doppelbelichtungen und dem dezenten Einsatz von CGI (3D-Computergrafiken) gelingt es dem Filmemacher, Wunschträume und die Ekstase des Rausches angemessen zu bebildern. Daniel Craig schafft es auf schlichtweg grandiose Weise, sein kantiges James-Bond-Image hinter sich zu lassen und als leidenschaftlich Liebender zu überzeugen. Frank Brenner

Universal Language

Universal Language

CAN 2024, R: Matthew Rankin, D: Matthew Rankin, Pirouz Nemati, Rojina Esmaeili, 89 min

Einen persönlichen Film wollte der kanadische Regisseur Matthew Rankin drehen. Während der Corona-Pandemie hatte er seine Eltern verloren. In »Universal Language« verarbeitet er diese Erfahrung, spielt selbst die Hauptrolle. Wer allerdings ein konventionelles Sterbedrama erwartet, wird schnell herausgefordert. Das beginnt mit dem Setting. Gut sichtbar prangen in der ersten Einstellung arabische Namen auf einer kanadischen Grundschule. Auf den Straßen spricht man Farsi und Französisch. Schneeverwehte Landschaften werden untermalt von fernöstlicher Musik. Vor diesem kulturellen Mix entwickelt der Film drei Episoden. Matthew kündigt seinen Job, um ein paar Kilometer weiter seine sterbenskranke Mutter zu besuchen. Ein Touristenguide führt seine Gruppe zu immer absurderen Plätzen (darunter eine Shoppingmall und ein Parkplatz). Zwei Kinder versuchen, einen Geldschein aus einem Eisblock zu bekommen. Die letzte Episode erinnert nicht zufällig an einen Film von Abbas Kiarostami, dessen Meta-Kino Rankin als Vorbild für »Universal Language« nennt. Sein Spiel mit Größenverhältnissen und das Interesse für Seltsames reizt zu Vergleichen mit Wes Anderson. Am Ende würde beides dem Film nicht vollständig gerecht. »Universal Language« ist ein Werk, auf das man sich einlassen muss. Zwischen Witz und Melancholie erzählt es einem dann etwas über das Leben. Über Existenzen, die sich durch Zeit und Ort nicht voneinander trennen lassen. Und von Truthähnen, die in Bussen reisen. JOSEF BRAUN

Young Hearts

Young Hearts

B/NL 2024, R: Anthony Schatteman, D: Geert van Rampelberg, Dirk van Dijck, Lou Goossens, 97 min

Der 14-jährige Elias lebt mit seiner Familie in einer flämischen Kleinstadt und ist seit einer Weile mit seiner Schulfreundin Valerie zusammen. Eines Tages stellt der frisch aus Brüssel zugezogene Nachbarsjunge Alexander sich als neuer Mitschüler in Elias’ Klasse vor, wo er sich auch schnell einlebt. Beim Quatschen über Dieses und Jenes erwähnt er Elias gegenüber irgendwann nebenbei, dass auch er schon mal verliebt war, und zwar nicht in ein Mädchen, sondern in einen Jungen. Elias geht zwar nicht näher darauf ein, doch je näher er Alexander kennenlernt, desto mehr bemerkt er, dass auch er selbst wohl nicht (oder zumindest nicht nur) auf Mädchen steht – und durchlebt ein emotionales Chaos aus Freude, Herzklopfen, Sehnsucht, Verwirrung, Verleugnung und Angst. Der belgische Regisseur Anthony Schatteman hat eine warmherzige Jugendromanze geschrieben und inszeniert, wie er sie selbst nach eigener Aussage gern mit 14 gesehen hätte. Der in seinem Heimatort gedrehte Film weiß mit seinen sommerlichen Bildern und dem natürlichen Spiel der beiden Nachwuchsdarsteller Lou Goossens und Marius De Saeger aber nicht nur Jugendliche, sondern auch ein erwachsenes Publikum für sich einzunehmen. Dabei sendet »Young Hearts« ganz unverkrampft eine mutmachende Botschaft zum Thema Coming-out aus, das eines Tages hoffentlich genau das nicht mehr sein muss: ein Thema – weil Liebe einfach nur Liebe ist. Peter Hoch

A real Pain

A real Pain

Eigentlich ist David der Überkorrekte, der jeden Schritt vorausplant. Als er am Flughafen ankommt, sitzt sein Cousin Benji bereits seit Stunden in der Abflughalle. Die unzähligen Nachrichten von David auf seiner Mailbox hat er ignoriert. Typisch für den planlos wirkenden Benji, der mit seinem Charme jedoch alle für sich einzunehmen scheint. Und doch schimmert da eine Hilflosigkeit in ihm durch. Die Reise, die die beiden unternehmen, wird nicht nur zu einer Probe ihrer Freundschaft, sondern auch zu einer Suche nach Orientierung. Vorbei an den Spuren des Holocaust reisen sie mit einer kleinen Gruppe Touristen durch Polen, um das Haus ihrer verstorbenen Großmutter aufzusuchen und ihr Lebewohl zu sagen. Angesichts des Grauens, das ihre Vorfahren durchlebten, erscheinen ihre eigenen Probleme nichtig und doch verschwinden sie nie ganz. Dieses nuancierte Spiel mit dem Gefühl von Schuld und der eigenen Lebenskrise balanciert Autor, Regisseur und Schauspieler Jesse Eisenberg gekonnt. Mit seiner zweiten Regiearbeit behandelt er seine eigene Herkunft als Sohn jüdischer Einwanderer. Mit Kieran Culkin hat er einen exzellenten Anspielpartner an seiner Seite. »A real Pain« ist ein bemerkenswert gut beobachteter, sensibel erzählter Road-Trip, der noch lange nachhallt. LARS TUNÇAY

Vena

Vena

D 2024, R: Chiara Fleischhacker, D: Emma Nova, Paul Wollin, Friederike Becht, 115 min

Eigentlich will Jenny nur ein ganz normales Leben führen. Die junge Mutter, die mit ihrem Freund Bolle in einer Plattenbau-Wohnung lebt, ist wieder schwanger. In welchem Monat, weiß sie nicht, jeder Arztbesuch ist durch ihre Drogensucht mit Vorwürfen und Scham behaftet. Und so versuchen Bolle und sie, allein klarzukommen. Ihr erstes Kind lebt nicht bei Jenny, und als ein Brief ankommt, dass sie bald ihre Haftstrafe in der JVA antreten muss, hat sie auch nicht viel Hoffnung für einen Neustart mit dem Baby. Erst als sie Hebamme Marla kennenlernt, weiß Jenny, dass es an ihr selbst liegt, die Prioritäten für ihr weiteres Leben zu setzen. In dokumentarisch anmutendem Stil begleitet der Film die Entwicklung seiner Figuren, mit der Kamera immer ganz nah bei ihnen, und schafft es auf beeindruckende Weise, sich von jeglichen Klischees und Erwartungshaltungen fernzuhalten. Nicht zuletzt ist das dem großartigen Ensemble zu verdanken – allen voran Hauptdarstellerin Emma Nova, die Jenny zwischen Glitzer, lila Lidschatten und großen Flauschdecken nicht in die Kindlichkeit abrutschen lässt, sondern sie als Erwachsene ernst nimmt. Auch die Geburtsszene ist erfrischend nah an der Realität. Chiara Fleischhacker ist nicht nur Drehbuchautorin, »Vena« ist auch ihr Regiedebüt. Schon vor Kinostart ist sie dafür mehrfach ausgezeichnet worden – unter anderem mit dem First Steps Award. Hanne Biermann

Über uns von uns

Über uns von uns

D 2024, Dok, R: Rand Beiruty, 92 min

Das Heranwachsen junger Mädchen dokumentierte Bettina Blümner vor rund zwanzig Jahren mit »Prinzessinnenbad«, begleitete sie in den entscheidenden Jahren mit der Kamera beim Lieben und Leben und fing ihre Träume und Wünsche ein, um sie am Ende mit der Realität abzugleichen. Die aus Jordanien stammende Filmemacherin Rand Beiruty geht nun einen ähnlichen Weg. Allerdings begleitete sie mit der Kamera über drei Jahre hinweg sieben selbstbewusste junge Frauen mit Fluchterfahrung. Sie wachsen in Eberswalde zwischen zwei Kulturen auf und suchen ihren Platz in einer deutschen Gesellschaft, die ihnen wenig Raum bietet. Hier treffen die Träume und Wünsche auf die harte Realität in der ostdeutschen Provinz. Polizistin mit Migrationshintergrund? Keine Chance. Ärztin ohne Hochschulabschluss? Lieber in die Altenpflege, da fehlen Arbeitskräfte. Rand Beiruty begreift ihre Protagonistinnen als Mitwirkende. In kreativen Runden mit der Regisseurin und Sozialarbeiterinnen schreiben und spielen die Mädchen ihren Alltag durch. Dabei geht es um Rassismuserfahrungen und den Umgang mit Traditionen in der Familie. Mit genauem Blick und viel Verständnis zeigt der gut beobachtete Dokumentarfilm »Über uns von uns«, welches Potenzial in ihnen und in dem kulturellen Austausch steckt, wenn sich denn die Möglichkeit hierzu eröffnet. LARS TUNÇAY

Emilia Pérez

Emilia Pérez

F/MEX/USA 2024, R: Jacques Audiard, D: Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, 130 min

Emotional wuchtig ist das Kino des Franzosen Jacques Audiard. Filme wie »Ein Prophet« oder »Der Geschmack von Rost und Knochen« wurden in Cannes gefeiert und mit europäischen Filmpreisen überhäuft. Mit »Emilia Pérez« wagt er nun gleich in mehrfacher Hinsicht Neues: Er siedelte seinen Film in Mexiko an, drehte ihn komplett in Spanisch – und als Musical. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der Anwältin Rita. Frustriert hat die sich der Realität ihrer Heimat untergeordnet, in der die Einflussreichen freigesprochen werden und die Mittellosen leiden. Die Kriminalität beherrscht alles. Da tritt der gefürchtete Kartellboss Juan Del Monte – besser bekannt als Manita – auf sie zu. Er möchte sich aus seinem Geschäft zurückziehen und für immer verschwinden – und ein Leben als Frau leben, so, wie es schon immer seine Bestimmung war. Begegnet man Manita zum ersten Mal im Halbdunkel, mit den chromglänzenden Zähnen und den Tattoos im Gesicht, hält man das vielleicht für einen schlechten Scherz. Wenn er jedoch mit brüchiger Stimme von seinem Traum zu singen beginnt, kriecht eine Gänsehaut über den gesamten Körper. Der Einsatz der Songs in der weiten, sich über zwei Stunden erstreckenden Geschichte ist organisch und dient, wie so oft im Musical, dem inneren Monolog. Die Musik hat dabei vielleicht nicht das Ohrwurmpotenzial eines Lin-Manuel Miranda. »Emilia Pérez« glänzt dafür mit einer grandiosen Inszenierung, einer mitreißenden Geschichte und fantastischen Darstellerinnen und Darstellern. LARS TUNÇAY

The Outrun

The Outrun

GB/D/E 2024, R: Nora Fingscheidt, D: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane, 118 min

Mit »Systemsprenger« legte Regisseurin Nora Fingscheidt vor fünf Jahren einen bemerkenswerten zweiten Spielfilm vor, der vielfach Preise gewann und auch international Beachtung fand. Danach entstand »The Unforgivable«, ein Rachedrama für Netflix mit Sandra Bullock und ihr erster englischsprachiger Film. Nun hat sie Saoirse Ronan für die Verfilmung von Amy Liptrots autobiographischem Roman »The Outrun« ins Boot geholt. Die Irin spielt Rona, die ursprünglich von den schottischen Orkney Inseln stammt und das Londoner Nachtleben in vollen Zügen genießt. Als ihr Alkoholkonsum für ihren Freund Daynin zunehmend zum Beziehungskiller und für Rona zu einem ausgewachsenen Suchtproblem wird, sucht sie sich Hilfe. Zunächst bei einer Suchtberatung, dann bei ihren Eltern auf der heimatlichen Insel. Die Distanz zu ihrem alten Leben schmerzt und ihre Vorbelastung macht schnell die Runde. Also sucht Rona die Abgeschiedenheit, um alleine wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Hauptdarstellerin Saoirse Ronan (»Abbitte«) ist die Vorlage und ihre Protagonistin ein Anliegen. Das merkt man an ihrem Einsatz für den Film vor und hinter der Kamera. Mit ihrem Freund Jack Lowden (»Dunkirk«) gründete sie sogar eine eigene Produktionsfirma, um den Stoff zu realisieren. Gemeinsam mit den »Systemsprenger«-Produzenten Jakob und Jonas Weydemann drehten sie zwei Monate auf den Inseln, wo sie auf viele liebenswerte Charaktere trafen, die ihren Weg in den Film fanden. Das macht den Charme des berührend erzählten Suchtdramas aus. LARS TUNÇAY

Der Spatz im Kamin

Der Spatz im Kamin

CH 2024, R: Ramon Zürcher, D: Maren Eggert, Britta Hammelstein, Luise Heyer, 117 min

Mit nur zwei Spielfilmen positionierten sich die Schweizer Zwillinge Roman und Silvan Zürcher als zwei der interessantesten Filmemacher Europas. Ihre Familienaufstellung »Das merkwürdige Kätzchen« sorgte vor elf Jahren bei der Berlinale für Aufsehen. Der Nachfolger »Das Mädchen und die Spinne« gewann dort 2021 den Preis der internationalen Filmkritik. Mit »Der Spatz im Kamin«, den Ramon erstmals allein inszenierte und Silvan produzierte, schließt sich nun die Trilogie der Tiere. Wobei die drei Filme eigentlich inhaltlich nicht zusammenhängen. Was ihnen gemein ist, ist das genaue Beobachten familiärer Dynamiken und menschlicher Verhaltensweisen. Unbeteiligt geht die Kamera dabei stets auf Distanz und ist den Emotionen dank der durchweg bemerkenswerten Schauspielerinnen und Schauspieler doch ganz nah. Auch bei dem Familientreffen von Karen und Jule. Die Schwestern verbindet eine traumatische Kindheit unter der dominanten Mutter. Während Jule frisch verliebt und gerade Mutter geworden ist, hat Karen nicht nur das Haus ihrer Kindheit geerbt, sondern auch viel von der eigenen Mutter, die ihre Familie tyrannisierte. Ihr passiv-aggressives Verhalten und die unausgesprochenen Geheimnisse, die unter der Oberfläche brodeln sorgen für ein verbales Blutvergießen mit messerscharfen Dialogen. LARS TUNÇAY

Eine Erklärung für Alles

Eine Erklärung für Alles

HUN/SK 2023, R: Gábor Reisz, D: Gáspár Adonyi-Walsh, István Znamenák, András Rusznák, 151 min

Am Montag verliebt sich Abel. Dabei müsste der Gymnasiast eigentlich für die Abiturprüfung lernen. Aber der Stoff will nicht hinein in seinen Kopf. Nicht, dass sich Abel großartig anstrengen würde. Er ist jung und hängt lieber mit seinen Freunden in seiner Heimatstadt Budapest ab. Vor allem mit Janka. Denn in sie ist er heimlich verliebt. Gegenseitig stützen sie sich in den Vorbereitungen für die mündliche Prüfung. Doch während Janka mit wehenden Fahnen besteht, bekommt Abel keinen Ton heraus. Um sein Versagen vor seinem Vater zu kaschieren, gibt er vor, sein Geschichtslehrer habe ihn ohnehin auf dem Kieker und er sei nur durchgefallen, weil er während der Prüfung einen Anstecker in den Farben der ungarischen Flagge trug. Die unbedacht ausgesprochene Lüge entwickelt sich alsbald zum nationalen Skandal, als eine junge Journalistin auf die Geschichte aufmerksam wird. Pointiert und clever konstruiert Gábor Reisz seine satirische Komödie. Er zeigt die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven und zeichnet damit ein vielfältiges Bild der (Selbst)Wahrnehmung. In einem Ungarn unter der Regierung Viktor Orbáns erhitzen sich die Gemüter in Windeseile. Das Land ist geteilt in Lager und die bestimmen die Meinungen. Jeder wähnt sich im Recht und bald geht es nicht mehr um die eigentliche Sache. Der Autor und Regisseur zeigt eine Gesellschaft im Brennglas, in der das Politische ins Private hinein reicht. Damit bringt er die Polarisierung, die derzeit auch unsere Gesellschaft bestimmt, auf den Punkt. LARS TUNÇAY

Baldiga – Entsichertes Herz

Baldiga – Entsichertes Herz

D 2024, Dok, R: Markus Stein, 92 min

Berlin ist heute ein Schmelztiegel der Künstler aus aller Welt, die hier zu sich selbst finden und sich verwirklichen wollen. Das war auch schon Ende der 1970er Jahre der Fall, als der Essener Arbeitersohn Jürgen Baldiga (1959-1993) dort sein Eldorado fand. Erst in Berlin konnte er der Spießigkeit seines Elternhauses entgehen und zu seiner Homosexualität stehen. Er wollte auf jeden Fall auffallen, und damit war er seinerzeit in Berlin nicht der Einzige. Nachdem er zunächst als Stricher sein Geld verdiente, kam er rasch mit der Künstlerszene in Kontakt und wurde zur Muse des Malers Salomé. Danach entdeckte Baldiga sein eigenes Talent als Fotograf stimmungsvoller Schwarz-Weiß-Aufnahmen, in denen er sein persönliches Umfeld, die Subkultur der zweigeteilten Stadt, festhielt. Nach »Unter Männern – Schwul in der DDR« haben sich Markus Stein und der Leipziger Autor Ringo Rösener mit »Baldiga – Entsichertes Herz« erneut der queeren deutschen Vergangenheit gewidmet. Dank umfangreicher Tagebuchaufzeichnungen Baldigas und dessen ungewöhnlicher Arbeiten lassen die beiden dessen Œuvre und Charakter eindrucksvoll wieder zum Leben erwachen. Ergänzt durch aktuelle Interviews von Weggefährtinnen und historischen Super-8- und Videoaufnahmen zeichnen sie dabei nicht nur ein spannendes, viel zu kurzes Künstlerleben nach, sondern rekonstruieren auch das queere Lebensgefühl jener Zeit. Frank Brenner

All We Imagine as Light

All We Imagine as Light

IND/F/NL/LUX 2024, R: Payal Kapadia, D: Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, 114 min

Mumbai. Mehr als 28 Millionen Einwohner leben im Einzugsgebiet der indischen Metropole. Ein beispielloser Ameisenhaufen, in dem Autorin und Regisseurin Payal Kapadia ihren sanften Film ansiedelte. Die Kamera streift durch die Straßen, zeigt die Menschen, die hier ihr Glück versuchen und im Off ihr Schicksal schildern. Bis die Linse auf dem Gesicht von Prabha verweilt. Sie arbeitet als Krankenschwester, pendelt täglich heim zu der kleinen Wohnung, die sie mit ihrer Arbeitskollegin Anu bewohnt. Als ein Paket von ihrem im Ausland lebenden Ehemann ankommt, wirft das Prabhas Leben aus der Bahn. Anu versucht derweil einen Ort zu finden, an dem sie mit Shiaz allein sein kann. Das Problem: Er ist Moslem und sie Hindu. In ruhigen, poetischen Bildern erzählt Kapadia ihre Geschichte konsequent aus weiblicher Perspektive. Sie schildert, wie schwer es im Kastensystem der indischen Gesellschaft ist, sich zu verlieben und glücklich zu werden. Die flirrenden, poetischen Bilder von Kameramann Ranabir Das geben dem Film etwas traumgleiches. Die ruhige Grundstimmung steht im Kontrast zur quirligen Metropole und dem überbordenden Bollywood-Kitsch. Als erste indische Regisseurin erhielt Payal Kapadia eine Einladung in den Wettbewerb beim Filmfestival in Cannes. Dort wurde das berührende Werk mit dem zweitwichtigsten Preis geehrt, dem Großen Preis der Jury. LARS TUNÇAY

Konklave

Konklave

USA/GB 2024, R: Edward Berger, D: Ralph Fiennes, Stanley Tucci, John Lithgow, 120 min

Als der Papst relativ unvermittelt verstirbt, kommt auf Dekan Lawrence eine schwierige Aufgabe zu. Ein Konklave soll abgehalten werden, bei dem über 100 Kardinäle aus aller Welt möglichst rasch einen Nachfolger für das Amt des Heiligen Vaters wählen sollen. Lawrence muss das Konklave in seiner Funktion als Dekan leiten. Er selbst ist wie einige seiner Kollegen liberal eingestellt, doch der aussichtsreichste Kandidat dieser Fraktion möchte eigentlich gar nicht kandidieren. Bei den Konservativen hat ein italienischer Kardinal die größten Chancen, aber seine Wahl würde die Reformen des alten Papstes wieder um Jahrzehnte zurückdrehen. Hinter den Kulissen beginnt ein harter Wettkampf um die Stimmen, bei dem auch unlautere Mittel zum Einsatz kommen. Nach seinem oscarprämierten Drama »Im Westen nichts Neues« hat Edward Berger mit »Konklave« den gleichnamigen Bestseller von Robert Harris aus dem Jahr 2016 für die Leinwand adaptiert. Man merkt seinem Film bereits in den ersten Einstellungen an, dass er mit größter Sorgfalt gestaltet und viel Wert auf Authentizität gesetzt wurde. Der in sämtlichen zentralen Rollen mit wunderbaren Darstellern – Ralph Fiennes, Stanley Tucci, Isabella Rossellini u. a. – besetzte Film versteht es, auch Zuschauerinnen und Zuschauer ohne allzu großes Interesse an der Institution Kirche in seinen Bann zu schlagen, da er von Berger überaus spannend in Szene gesetzt wurde. Wer die Romanvorlage nicht kennt, wird zudem durch unvorhergesehene Wendungen überrascht. Frank Brenner

Anora

Anora

USA 2024, R: Sean Baker, D: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yuriy Borisov, 139 min

Sean Baker hat ein Herz für die Underdogs, die von einem Bad im Rampenlicht träumen, ihr Dasein jedoch meist im Schatten der schillernden Metropolen fristen. Dabei sind seine Figuren damit gar nicht mal unzufrieden. Die selbstbewusste Prostituierte Sin-Dee in »Tangerine« etwa, oder Pornostar Mickey in »Red Rocket«. Auch »Anora«, die lieber Ani genannt werden will, arbeitet in der Vergnügungsindustrie. In einem Nachtclub verführt sie die männlichen Besucher zum Lapdance. Als der russische Oligarchensohn Ivan im Club auftaucht, gibt sie ihm ihre Nummer für ein privates Treffen. Er ist charmant, naiv und zahlt gut. Also werden die Treffen regelmäßig und Ani lernt ein unbeschwertes Leben im Überfluss kennen – und lieben. Doch kann sie Ivans und ihren eigenen Gefühlen wirklich trauen? – Mit entwaffnendem Witz und Virtuosität zieht Sean Baker das Publikum in die Story, um dann die Fahrtrichtung zu wechseln. An diesem Punkt gibt man sich dem irrwitzigen Plot und den überraschenden Wendungen hemmungslos hin. Zu verdanken ist das einer wunderbaren Schauspielführung und dem herrlichen Figurenkabinett, angeführt von der wundervollen Protagonistin, mit vollem Einsatz verkörpert von Mickey Madison (»Once upon a Time in Hollywood«). »Anora« ist ein irrwitziger Ritt über knapp zweieinhalb höchst unterhaltsame Stunden. Ein hochverdienter Gewinner der Goldenen Palme von Cannes. LARS TUNÇAY

Motel Destino

Motel Destino

BRA/F/D/GB/AUS 2024, R: Karim Aïnouz, D: Iago Xavier, Nataly Rocha, Fábio Assunção, 115 min

Heraldo ist 21 und erledigt mit seinem Bruder Jorge in einem brasilianischen Küstenort für die Kartellchefin Bambina die Drecksarbeit. Ihr jüngster Auftrag: Sie sollen einen Franzosen töten, der seine Schulden nicht bezahlt. Am Abend vor dem Job lernt Heraldo in einer Bar eine Frau kennen, sie nehmen sich ein Zimmer und haben Sex. Beim verspäteten Aufwachen ist allerdings nicht nur Heraldos Eroberung, sondern auch sein Geld verschwunden und am verabredeten Tatort kann er nur noch feststellen, dass Jorges Leiche abtransportiert wird und die Zielperson den Anschlag überlebt hat. Auf der Flucht vor Bambinas Häschern fällt ihm als Versteck nur das Motel Destino ein, in dem er die Nacht verbracht hat. Dort hat der schmierige Elias das Sagen, dessen Frau Dayana dafür sorgt, dass Heraldo gegen Arbeit eine Unterkunft erhält – und sich ein fatales Beziehungsdreieck entspinnt. Karim Aïnouz’ Thrillerdrama besticht vor allem durch die flirrenden Bilder von Hélène Louvart, der Stammkamerafrau des »Futuro Beach«-Regisseurs: In jeder ihrer neonfarbenen Einstellungen spürt man förmlich die Schwüle des lasziven Settings sowie die Gewalt, die fast jeder Figur innewohnt. Leider kann der Plot da nicht mithalten, zu langsam kommt alles in Fahrt und zu wenig geschieht letzten Endes. Spannend wird es meist nur dann, wenn Fábio Assunção zu sehen ist, der als unberechenbarer Elias jede Szene an sich reißt. Peter Hoch

Frau aus Freiheit

Frau aus Freiheit

SWE/PL 2023, R: Michal Englert, Malgorzata Szumowska, D: Malgorzata Hajewska, Joanna Kulig, Mateusz Wieclawek, 132 min

Die ersten Jahre im Erwachsenenleben des Polen Andrzej verlaufen, wie sie von der Mehrheitsgesellschaft als normal angesehen werden. Erste Liebe, Hochzeit, Geburt des ersten Kindes, biederer Bürojob. Doch auch in diesen Jahren gibt es erste Dissonanzen. Andrzej wird vom Militärdienst ausgeschlossen, weil seine Fußnägel lackiert sind. Er ist depressiv und hat Suizid-Gedanken. Wenn er sich unbeobachtet fühlt, trägt er Frauenkleider. Michal Englert und Malgorzata Szumowska (»Im Namen des …«) beleuchten diese frühen Jahre im Leben ihres Protagonisten nur schlaglichtartig, quasi im Schnelldurchlauf. Denn hier handelt es sich noch nicht um Anielas normales Leben, hier verstellte sich die Transfrau noch, um im post-kommunistischen Polen nicht unter die Räder zu kommen. Die Handlung von »Frau aus Freiheit« wird ruhiger und intensiver, wenn Protagonistin Aniela zu ihrem wahren Selbst findet – und wenn die Umwelt beginnt, ihr Verstellung und plumpes Spiel vorzuwerfen. Transsexualität wird auch heute noch selbst in Deutschland kontrovers diskutiert, zu wenige Menschen dürften persönliche Kontakte haben, um mit ihren engstirnigen Ansichten zu brechen. In Polen ist die Lage noch viel dramatischer, hier müssen Betroffene absurderweise sogar vor Gericht ihre eigenen Eltern verklagen, um eine Geschlechtsanpassung vornehmen zu dürfen. Mit großer emotionaler Wucht hat das Regie-Duo hier einen mutigen Film zum Thema realisiert. Frank Brenner