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Rezensionen

BlackBerry – Klick einer Generation

BlackBerry – Klick einer Generation

CDN 2023, R: Matt Johnson, D: Jay Baruchel, Glenn Howerton, Matt Johnson, 120 min

Das Leben der Proto-Nerds Doug und Mike im kanadischen Nest Waterloo ist geprägt von Pizza und Programmieren. Einen richtigen Businessplan hat keiner von ihnen, weshalb sie auch kurz vor der Pleite stehen, als sie Jim Balsillie kennenlernen. Der Geschäftsmann erkennt das Potenzial der Wizkids und schließt einen Pakt mit ihnen. Fortan kümmert er sich darum, die großen Tech-Konzerne zu belabern, und macht aus einem genialen Konzept das nächste große Ding: E-Mails für die Westentasche: Blackberry, das erste Smartphone, ist geboren – und muss nur noch funktionieren, damit dem Durchbruch nichts mehr im Wege steht. Nur eines von einer nicht enden wollenden Flut von Problemen, die Firmenboss Mike und seine Freundschaft mit Doug massiv unter Druck setzen – erst recht, als ein gewisser Steve Jobs mit einem neuen Produkt den Markt betritt. Was als großer Spaß beginnt, wird zunehmend zu einer Studie menschlicher Abgründe. Eine Geschichte, die zu gut ist, um wahr zu sein, charmant-schräge Typen und eine große Portion Nostalgie zeichnen Matt Johnsons Tech-Tragödie aus. Als Mischung aus »Social Network«, »The Big Short« und »Computer Chess« schafft »Blackberry« ein glänzendes Gefühl für die Zeit vor dem neuen Millennium, als alles möglich schien. Das Ende ist allseits bekannt, der Abstieg trotzdem höchst unterhaltsam und mitreißend. Das ist Johnsons Drehbuch und seinen Darstellern zu verdanken, die ihre Figuren nie der Lächerlichkeit preisgeben. Lars Tunçay

Mein Sohn, der Soldat

Mein Sohn, der Soldat

F/SEN, R: Mathieu Vadepied, D: Omar Sy, Alassane Diong, Jonas Bloquet, 100 min

Der junge Thierno treibt gemeinsam mit seinem Vater Bakary eine Herde Kühe durch die trockene senegalesische Landschaft, bis in sein kleines Dorf, wo die Mutter und die Geschwister warten. Es ist Thiernos letzter Tag in Freiheit. Kurz darauf wird er von französischen Militärs in ein Camp gebracht und erhält eine Ausbildung zum Soldaten – er soll für seine Kolonie in den Ersten Weltkrieg ziehen. In der Hoffnung, seinen Sohn beschützen zu können, tritt Bakary als Freiwilliger dessen Regiment bei. Gemeinsam landen sie schließlich in der Nähe von Verdun, im Herzen des Krieges. Gekonnt zeigt Regisseur Mathieu Vadiepied, wie sich Vater und Sohn in der französischen Armee voneinander entfremden. Wie der Kolonialismus (eine neue Sprache, ein anderes Land) die alten Strukturen (die Familie, den muslimischen Glauben) zersetzt. Machtlos muss Bakary zusehen, wie sich sein Kind von ihm entfernt, während er selbst verzweifelt nach einem Weg zurück nach Hause sucht. Mathieu Vadiepied hat als Kameramann bereits für »Ziemlich beste Freunde« mit Omar Sy zusammengearbeitet. »Mein Sohn, der Soldat« trägt der Hauptdarsteller ebenso mühelos auf seinen Schultern. Doch auch wenn diese Geschichte unbedingt erzählenswert ist, fehlen dem Film die Mittel, um die Grauen des Krieges überzeugend darzustellen. Diese bleiben im Vergleich zu anderen Werken wie »Im Westen nichts Neues« oder »1917« eher blass. Josef Braun

The Quiet Girl

The Quiet Girl

IRL 2022, R: Colm Bairéad, D: Carrie Crowley, Andrew Bennett, Catherine Clinch, 95 min

Fast unsichtbar liegt Cáit im Gras. Ihre Geschwister rufen nach ihr, aber sie würde am liebsten verschwinden. Ihre Eltern nehmen sie ohnehin nicht wahr. Die Mutter ist wieder hochschwanger, der Vater geht wetten und versäuft das Geld der Familie im Pub. Als es irgendwann nicht mehr reicht, um alle zu ernähren, wird Cáit über den Sommer zu Verwandten geschickt. Dort lernt sie eine vollkommen andere Welt kennen, erfährt zum ersten Mal Liebe durch die behutsame Eibhlín und ihren schweigsamen Mann Seán. Zurückhaltend beobachtet die Kamera von Kate McCullough (»Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry«) das stille Mädchen, fängt immer wieder unscheinbare Details ein, ihren gesenkten Blick, die Finger, die mit Fäden am Kleid und Löchern in den Socken spielen. Wenn sich Cáits Welt öffnet, ist auch der Film befreit und die Kamera fliegt durch die sonnendurchflutete Allee. Hauptdarstellerin Catherine Clinch, die hier zum ersten Mal vor einer Kamera steht, besitzt eine bemerkenswerte Unschuld und beobachtet die neue Welt um sie herum mit großen Augen. Zu verdanken ist dieses kleine Kinowunder Colm Bairéad, der Claire Keegans Kurzgeschichte »Foster« las und wusste, dass er sie verfilmen musste – in seiner Heimat Irland und in seiner Muttersprache Gälisch. Das Ergebnis ist herzzerreißend schön und tieftraurig. »The Quiet Girl«, der seine Premiere im Generationen-Programm der Berlinale feierte, war als erster irischsprachiger Film für den Oscar nominiert. LARS TUNÇAY

Franky Five Star

Franky Five Star

D/FIN 2022, R: Birgit Möller, D: Lena Urzendowsky, Cino Djavid, Sven Hönig, 114 min

Franky ist Anfang 20 und weiß noch nicht so recht, wohin sie ihr Leben steuern soll. Geld verdient sie mit einem öden Job im Getränkemarkt. Mit ihrer besten Freundin Katja teilt sie sich eine Wohnung, in der auch schon mal wilde Partys gefeiert werden. In Liebesangelegenheiten ist die junge Frau recht schüchtern und gelegentlich himmelt sie ihren desinteressierten Nachbarn an. So weit, so durchschnittlich. Immer wenn sie in Situationen gerät, die sie emotional überfordern, »beamt« sie sich jedoch per Aufzug in ein baufälliges Belle-Époque-Hotel, dessen vier schräge Angestellte und Gäste unterschiedliche Aspekte von Frankys Persönlichkeit verkörpern – und die dann auch in der realen Welt zeitweise die Kontrolle übernehmen, was irgendwann für jede Menge Gefühlschaos sorgt. Regisseurin Birgit Möller hat für ihren zweiten Kinospielfilm zusammen mit Co-Autor Knut Mierswe eine charmante, märchenhafte Liebeskomödie entworfen, die ähnliche Knöpfe drückt wie vor über zwanzig Jahren Jean-Pierre Jeunets Genreklassiker »Die fabelhafte Welt der Amélie«. Dank der originellen Gedankenhotel-Idee schafft es »Franky Five Star« aber fantasievoll und effektiv, eigene Schwerpunkte zu setzen. Als Glücksgriff erweist sich dabei Darstellerin Lena Urzendowsky (»Kokon«), die Unsicherheit und Verpeiltheit der Hauptfigur ebenso überzeugend transportiert wie deren Liebesbedürftigkeit und Lebenslust. Peter Hoch

The old Oak

The old Oak

F/GB 2023, R: Ken Loach, D: Dave Turner, Ebla Mari, Debbie Honeywood, 113 min

Auch mit 87 Jahren findet Ken Loach keinen Frieden, keine Versöhnung mit der englischen Regierung und seinen Landsleuten. So dreht er einfach immer weiter. Missstände gibt es genügend, die es anzuprangern gilt. In »The Old Oak« zeigen sich gleich zu Beginn die Bewohnerinnen und Bewohner der kleinen Ortschaft im Nordosten Englands, in der er seine Geschichte diesmal ansiedelt, von ihrer hässlichsten Seite. Als ein Bus mit einer Gruppe syrischer Geflüchteter ankommt, fliegen Steine. Nur wenige aufrechte Helferinnen und Helfer sind zur Stelle, versorgen die Heimatlosen mit dem Nötigsten und verschaffen ihnen Wohnraum. Auch der Pubbesitzer TJ Ballantyne hilft, weil es das Richtige ist. Dabei sind die letzten verbliebenen Gäste seiner Kneipe eher der bürgerlichen Rechten zuzuordnen. Sie fluchen auf die Fremden und darüber, wie sehr ihr Land verkommt. Jobs gibt es keine, in der Nachbarschaft werden die Häuser an ausländische Investoren zu einem Spottpreis verhökert, der eigene Grund und Boden – das Einzige, was vielen von ihnen geblieben ist – ist nichts mehr wert. TJ nimmt all das schweigend hin. Als sich die Situation zuspitzt, muss er schließlich Stellung beziehen. Die Szenen des offen zur Schau gestellten Rassismus schnüren die Kehle zu. Sind sie uns doch nur zu vertraut. Dem gegenüber stellt Loach die Solidarität der Gemeinschaft. Die Geschichte, die er dabei mit seinem langjährigen Drehbuch-Partner Paul Laverty erzählt, wirkt dadurch mitunter überhöht. Das macht sie aber nicht weniger relevant – und brandaktuell. LARS TUNÇAY

Die Bologna-Entführung

Die Bologna-Entführung

I/F/D 2023, R: Marco Bellocchio, D: Paolo Pierobon, Enea Sala, Leonardo Maltese, 135 min

Das Leben der jüdischen Familie Mortare Mitte des 19. Jahrhunderts in Bologna: Die Kinder spielen Verstecken und vor dem Einschlafen beten sie auf Hebräisch. Dabei halten sie sich eine Hand vors Gesicht, verdecken symbolisch die Augen vor Gott. – Und schon schlägt die Geschichte in dieses friedliche Leben ein: Soldaten dringen ins Haus ein und nehmen den kleinen Edgardo mit. Denn er wurde ohne das Wissen seiner Eltern von einer Hausangestellten getauft. Davon hat die Kirche Wind bekommen und nun soll das Kind in einem katholischen Priesterinternat erzogen werden. Die religiöse Welt dort ist das ganze Gegenteil der organischen jüdischen Spiritualität im familiären Kreis. Regisseur Marco Bellocchio (»Il Traditore«) vollführt einen Abgesang auf eine Welt, die so immer weniger existiert: Messgesänge, die Pracht der Kirchen, all die Bilder von Heiligen und von Jesus am Kreuz. Das Judentum selbst lehnt Bilder dagegen ab, weil Gott nicht erfassbar sei. Die katholische Tradition produziert eine regelrechte Bilderflut, die in ihrem Überfluss im Endeffekt dasselbe zeigen will. Für diese Zugänge hat sich Marco Bellocchio wohl interessiert. Denn die Psychologie der Figuren geht in seinem Film ein wenig unter. Offen bleibt, warum Edgardo sich immer mehr dem Katholizismus zuwendet. Vielleicht, weil der wuchtigere Bilder hergibt? Inhaltlich überzeugt »Die Bologna-Entführung« nicht, ist dafür aber ästhetisch mitunter wohltuend überfordernd. Daniel Emmerling

Joyland

Joyland

PA 2022, R: Saim Sadiq, D: Ali Junejo, Alina Khan, Sania Saeed, 126 min

Haider ist mit Mumtaz verheiratet, die beiden sind aber noch immer kinderlos, im Gegensatz zu seinem Bruder, dessen Frau zum fünften Mal Nachwuchs bekommt. Alle wohnen noch zusammen mit Haiders Vater in einer einfachen Bleibe in Lahore. Haider war bislang als Hausmann tätig und fungierte für seine vier Nichten als Vorbild-Onkel. Nun erhält er das Angebot, in einem erotischen Theater für die Trans-Tänzerin Biba als Background-Tänzer tätig zu werden. Haider hat zunächst Skrupel, zumal er weiß, dass sein Vater dies niemals gutheißen würde. Nachdem er Biba aber kennengelernt hat, ist er von der hübschen Trans-Frau dermaßen fasziniert, dass er den Job nicht nur auf der Stelle annimmt, sondern sich auch in seine neue Chefin verliebt. Saim Sadiq ist in seinem Langfilmdebüt »Joyland«, das 2022 in Cannes mit der Queer-Palm und dem Jurypreis der Sektion »Un Certain Regard« ausgezeichnet wurde, tief in das zwischen Tradition und Moderne oszillierende Pakistan unserer Tage eingetaucht und erzählt die Geschichte einer sehnsuchtsvollen Begegnung, der von Anfang an etliche Hindernisse im Weg stehen. Man ahnt schon früh, dass die konservative Familie mit dem verruchten Arbeitsplatz Haiders ihre Probleme haben wird, auch ohne dass sie alle Details kennt. Aber auch in Bibas direktem Umfeld kommt es zu Diskriminierungen und Mobbing, was man als westlicher Betrachter traurig und beschämt registriert. Ein ruhiger, durchdachter Erstlingsfilm, der mitunter eine beeindruckende poetische Kraft entfaltet. Frank Brenner

Elaha

Elaha

D 2023, R: Milena Aboyan, D: Derya Dilber, Derya Durmaz, Bayan Layla, 110 min

Quer durch die sozialen Medien gibt es täglich Diskussionen über den Begriff »Bodycounts« und über tatsächliche Bodycounts. Darüber, mit wie vielen Personen man bereits Sex hatte und ob diese Zahl eine Aussage über partnerschaftliche Qualitäten zulässt. Es gibt unausgereifte und misogyne Analogien zu Schlössern und Schlüsseln und im Fokus der Debatte steht vor allem weibliche Sexualität. Dementsprechend wäre es vermessen zu sagen, dass Milena Aboyans Langspielfilmdebüt »Elaha« sich ausschließlich mit den Hürden weiblicher Selbstbestimmung innerhalb einer bestimmten Religion, eines bestimmten Kulturkreises auseinandersetzt. Elaha ist 22 und liebt ihre Familie, ihre Kultur und deren Traditionen. Allerdings wird sie bald heiraten und man erwartet, dass sie dabei noch jungfräulich ist. Ist sie nicht. Sie besucht also einen Chirurgen, der Jungfernhäutchen rekonstruiert, aber der Eingriff ist zu teuer. Kunstblutkapseln sind die günstigere Alternative, aber der Testlauf enttäuscht. Elahas Suche nach einem geeigneten Täuschungsmanöver ist nur ein Erzählstrang in einem eindrucksvollen Film, der das Konzept Jungfräulichkeit geschickt ad absurdum führt. Das dynamische Spiel der Hauptdarstellerin Bayan Layla, lebhafte Bilder und eine selbstermächtigt konzipierte Protagonistin positionieren »Elaha« als eine Verhandlung körperlicher Autonomie, die ihresgleichen sucht. Laura Gerlach

Anatomie eines Falls

Anatomie eines Falls

F 2023, R: Justine Triet, D: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, 150 min

Die beiden Autoren Sandra und Samuel leben mit ihrem blinden Sohn Daniel in einem Chalet in den französischen Alpen – bis es zu einem tödlichen Unglück kommt und der Mann nach einem Fenstersturz blutüberströmt am Boden gefunden wird. Aber war es überhaupt ein Unglück und ein Sturz? Das ist die zentrale Frage, die das bereits in Cannes preisgekrönte Drama in rund zweieinhalb Stunden im wahrsten Sinne verhandelt, denn ein Großteil setzt sich aus Angriffen und Verteidigung im Gericht zusammen. Dabei wird nicht nur ein möglicher Mord, sondern die gesamte höchst komplexe Beziehung des ungleichen Paares haarklein seziert, bei der vor allem Sandra in allen menschlichen Schattierungen gezeichnet wird. Das ist dann auch das Herausragende: Was Schauspielerin Sandra Hüller – teils dreisprachig – an nuancierter Mimik und punktgenauer Tonalität abliefert, wäre zumindest oscarnominierungsreif. Auch der Rest des Ensembles, inklusive Antoine Reinartz als herrlich selbstverliebter Staatsanwalt, weiß zu gefallen. Justine Triets Werk veranschaulicht aber nicht nur die Suche nach der Wahrheit, sondern gibt vor allem Einblick in den emotionalen Mikrokosmos eines Paares, das sich einzeln und vor allem als Gemeinschaft aus den Augen verloren hat, wie vor allem die in mehrfachem Sinne gewaltigen Dialoge zwischen den einst Liebenden verdeutlichen. Markus Gärtner

The Lesson

The Lesson

GB/F 2023, R: Alex MacKeith, D: Richard E. Grant, Julie Delpy, Daryl McCormack, 103 min

Für den jungen Autoren Liam ist es die Chance seines Lebens: Er soll Bertie für die Aufnahmeprüfung an einer Eliteuniversität vorbereiten. Bertie, den Sohn des gefeierten Schriftstellers J. M. Sinclair. So lernt Liam diesen nicht nur kennen, er hofft so auch, die entscheidende Inspiration zu finden, um seinen Debütroman zu vollenden. Doch Liams Schüler kommt ganz nach seinem Vater und entpuppt sich zunächst als ebenso egozentrisches Arschloch. Auch der eitle Sinclair lässt ihn abblitzen. Nur dessen Frau Hélène scheint sich wirklich für Liam zu interessieren. Der verfolgt aber ganz eigene Pläne und beginnt die Struktur innerhalb der zerrütteten Familie zu analysieren – bis er schließlich die eigentliche Leiche im Keller der Sinclairs entdeckt. »Gute Autoren leihen. Große Autoren stehlen« ist das Mantra von J. M. Sinclair – natürlich ohne zu erwähnen, dass es sich dabei um ein Zitat von T. S. Eliot handelt. Es sind diese augenzwinkernden Einblicke in den kreativen Schreibprozess, die »The Lesson« seinen Reiz verleihen. Dies und die Spannung, herauszufinden, wer hier die Fäden in der Hand hat. So führen dann eben auch einige ins Leere und der letzte Akt wirkt vielleicht ein wenig zu clever konstruiert. Aber alleine dem tollen Cast zuzuschauen, lohnt die Lektion: Richard E. Grant ist herrlich ätzend, Julie Delpy ungewohnt unterkühlt und Stephen McMillan als Bertie eine echte Entdeckung. Das Regiedebüt von Alice Troughton gehört aber vor allem Daryl McCormack (»Meine Stunden mit Leo«), der nicht umsonst als einer der großen Nachwuchsstars des britischen Films gehandelt wird. Lars Tunçay

Schlamassel

Schlamassel

D 2023, R: Sylke Enders, D: Mareike Beykirch, Lore Stefanek, Michaela Caspar, 115 min

Die Trostlosigkeit, die Johanna umgibt, ist kaum auszuhalten. Alles wird bestimmt von tristen Braun- und Beigetönen: ihre Wohnung, ihre Kleidung und auch die Lokalredaktion, in der der Chefredakteur sie nur alle Lichtjahre mal mit interessanten Themen betraut. Und zu allem Überfluss stirbt noch ihre Oma, was endgültig zum großen Streit zwischen ihrer Mutter und den anderen Familienmitgliedern führt. Doch als sie munter mitmischen will und ihrem Onkel direkt auf der Beerdigung eine Ansage macht, ist es ihrer Mutter auch wieder nicht recht. 1997 scheint einfach nicht ihr Jahr zu sein. Doch als Johanna zufällig das Schwarz-Weiß-Foto einer ehemaligen KZ-Aufseherin in die Hände fällt, wittert sie endlich einen Ausweg aus ihrer Tristesse: Sie macht die Dame ausfindig, steht eines Tages einfach vor deren Tür und dann vor einer Wand aus Töchtern, die zunächst absolut kein Interesse daran haben, dass die Mutter von früher erzählt. Nur die alte Frau plaudert munter drauflos und freut sich, endlich eine Zuhörerin gefunden zu haben. Doch statt der großen Story findet Johanna auch hier nichts als Familienstreitereien. Regisseurin Sylke Enders (»Kroko«) erzählt die Geschichte in ruhigen Bildern und schafft ein atmosphärisches Bild des Kleinstadtlebens am Ende des letzten Jahrtausends. Getragen wird der Film besonders von einer großartigen Mareike Beykirch, für die es die erste Filmhauptrolle ist. Hanne Biermann

Der Schatten von Caravaggio

Der Schatten von Caravaggio

IT/F 2022, R: Michele Placido, D: Riccardo Scamarcio, Isabelle Huppert, Louis Garrel, 120 min

Die opulenten, oftmals sehr erotischen und auf kirchliche Themen Bezug nehmenden Gemälde des Mailänders Caravaggio gehören zu den großen Kunstwerken der frühen Neuzeit. Der Maler selbst war immer umstritten, da er als Modelle für seine Jungfrauen und Heiligen ausgerechnet Prostituierte und Bettler von der Straße in sein Atelier holte. Nachdem sich Derek Jarman 1986 auf sehr homoerotische Weise mit Caravaggio beschäftigt hatte, entfaltet der Italiener Michele Placido (»Allein gegen die Mafia«) in seinem neuen Film »Der Schatten von Caravaggio« nun eine Art historischen Kriminalfilm. Im Jahr 1609 ist Caravaggio von Rom nach Neapel geflohen, da ihm aufgrund eines vermeintlichen Mordes die Todesstrafe droht. Der amtierende Papst entsendet einen Informanten, der die Freunde und Feinde des Malers befragen und so dessen Spur aufnehmen soll. In Rückblenden werden die gemeinsamen Erlebnisse der Befragten mit Caravaggio visualisiert, und auf diese Weise erhält auch das Publikum Einblick in den Werdegang und die Inspiration des Künstlers. Das ist wesentlich konventioneller inszeniert als seinerzeit bei Jarman, aber Placido gelingt es trotzdem, in opulenten Settings und aufwendigen Kostümen nicht nur die damalige Atmosphäre wieder auferstehen zu lassen, sondern Caravaggio auch als Freigeist auf der Suche nach Wahrheit zu zeichnen, der seiner Epoche insbesondere in Bezug auf die strikten Konventionen der römisch-katholischen Kirche Lichtjahre voraus war. Frank Brenner

Catch the Killer

Catch the Killer

USA 2023, R: Damián Szifron, D: Shailene Woodley, Ben Mendelsohn, Jovan Adepo, 119 min

Es ist eine ausgelassene Silvesternacht, in der plötzlich die Hölle über einen Stadtteil in Baltimore hereinbricht: Mit schockierender Präzision ermordet ein Scharfschütze innerhalb kürzester Zeit 29 Menschen an mehreren Orten, jagt, als die Einsatzkräfte anrücken, die Wohnung in die Luft, von der aus er die Taten begangen hat, und ist danach spurlos verschwunden. Der FBI-Spezialist Jeffrey Lammark wird mit der Aufklärung des Massakers betraut und zieht bald die scharfsinnige, aber auch problembeladene Streifenpolizistin Eleanor Falco hinzu, um den Killer zu finden, bevor der erneut ausrastet, während die Behörden ihnen die Arbeit durch bürokratische Fallstricke erschweren. Der argentinische Regisseur Damián Szifron legt neun Jahre nach seinem Erfolgsepisodenfilm »Wild Tales – Jeder dreht mal durch!« endlich nach und hat sich dafür einen klassischen Thrillerstoff ausgesucht. Shailene Woodley und Ben Mendelsohn geben darin ein sehenswertes Ermittlergespann mit Ecken und Kanten ab, dessen Mördersuche spannend und realistisch vonstattengeht. Die Zeichnung ihrer Figuren gerät dabei ebenso überzeugend wie später die des Killers, dessen Taten schockierend, aber nicht reißerisch in Szene gesetzt werden. Gelungen ist bei alledem auch die Kameraarbeit von Javier Julia, der die Schauplätze angemessen düster einfängt, mit ein paar Kniffen aber auch das Innenleben der Charaktere spiegelt. Peter Hoch

Die Mittagsfrau

Die Mittagsfrau

D 2023, R: Barbara Albert, D: Mala Emde, Fabienne Elaine Hollwege, Laura Louisa Garde, 136 min

Das Leben ist nicht leicht als Frau im Nationalsozialismus – und als jüdische noch viel weniger. Helene Würsich – vor ihrer kaltherzigen Mutter nach Berlin geflüchtet – taucht in eine neue Welt der Bohème ein und widmet sich parallel ihrem Medizinstudium. Doch dann stirbt ihre große Liebe bei einer Protestaktion gegen die Nazis. Helene lässt sich mit einem Soldaten ein, der schließlich rausfindet, dass sie Jüdin ist, sie aber trotzdem heiraten und mit gefälschten Papieren schützen will. Von da an kämpft die emanzipierte Frau gegen Rollenbilder, ihren sich zum Tyrann wandelnden Ehemann und das Damoklesschwert der Aufdeckung ihrer wahren Identität. Dabei reizt sie immer wieder die Eskalationsstufen mit dem Mann und ihrem Kind aus. Der auf Julia Francks gleichnamigem Bestseller basierende Film verknüpft über 30 Jahre nahtlos und mit Flashbacks eine Vielzahl an Themen: die Tücken der Familienbande, die Spektren von Abhängigkeit und Macht, das Ringen um Herkunft und Identität, das Emotionschaos im Mutterdasein – alles vor dem Auf- und Abstieg des Nationalsozialismus. Doch getragen von den guten Schauspielerinnen und Schauspielern fügt sich der etwas zu lang geratene Streifen dennoch zu einem großen Ganzen. Dazu trägt auch die inszenatorische Poesie bei, die immer wieder mit Rauchschwaden, Lichtreflexionen und starken Bildern die Gefühlswelten intensiviert. Markus Gärtner

DogMan

DogMan

F/USA 2023, R: Luc Besson, D: Caleb Landry Jones, Christopher Denham, Marisa Berenson, 113 min

Der Hund gilt ja als der beste Freund des Menschen, insbesondere, wenn diese selbst nicht so freundlich sind. Von seinem christlich ver(w)irrten Vater und dem Bruder wird Douglas Munrow als Kind zu Kampfhunden in den Zwinger gesperrt. Doug (Caleb Landry Jones) verelendet, verlernt das Laufen und den Glauben an die Menschen, wird aber Alphatier und hat fortan eine getreue schwanzwedelnde oder zähnewetzende Meute Helfer um sich, die sich mit ihm durch alle Lebenslagen beißen. Luc Bessons Drama wird teilweise in Rückblenden erzählt, als Doug nach einer Festnahme von einer ebenfalls leidgeprüften Psychologin interviewt wird und dabei die entscheidenden Wendungen geklärt werden: Wie konnte er fliehen? Gab es trotzdem auch Liebe in seinem Leben? Wie lebt er überhaupt? In all diesen Szenen spielt Jones (u. a. »Three Billboards Outside Ebbing, Missouri«) nuanciert eine eindrückliche Mischung aus trotzigem Stolz und immer weiter blutender Verletzlichkeit – und erinnert zwangsläufig wegen seines zwischenzeitlichen Make-ups an Batmans Joker. Des Publikums Rätseln über das Gut/Böse-Schema des Protagonisten wird immer wieder auf harte Proben gestellt, denn der »Dogman« scheut nicht davor zurück, Gegner von seinen Vierbeinern zerfetzen zu lassen. So einfühlsam der Film über weite Strecken läuft, aalt er sich irritierenderweise gerade im letzten Drittel sehr im Blut. Trotzdem empfehlenswert, auch wegen Dougs ergreifender Performance als Edith-Piaf-Double. Markus Gärtner

Burning Days

Burning Days

TRK 2022, R: Emin Alper, D: Selahattin Paşalı, Ekin Koç, Erol Babaoğlu, 128 min

Das kleine Nest Yaniklar im Südwesten der Türkei. Das Meer ist nicht weit und doch bestimmt die staubige Steppe die Landschaft. Ein anhaltendes Trinkwasserproblem bringt die Menschen zunehmend auf die Barrikaden gegen ihren Bürgermeister. Zu allem Überfluss verschwinden auch immer mehr Häuser in Sinklöchern, die sich plötzlich im Boden auftun. Um das ungewöhnliche Nachgeben der Erde zu untersuchen, wird der junge Staatsanwalt Emre hierher versetzt. Er soll eine Klage prüfen und wird von Anfang an misstrauisch von den Dorfbewohnerinnen und -bewohnern beäugt. Als ein Romamädchen vergewaltigt wird, gerät Emre in Verdacht und ist bald selbst nicht mehr sicher, ob er vollkommen unschuldig ist. Autor und Regisseur Ermin Alper (»Eine Geschichte von drei Schwestern«) übt unverhohlene Kritik an seinem Land: Korruption bestimmt hier die Politik, Probleme werden ausgesessen, einfach weil es schon immer so war. Hinzu kommt eine immanente Homophobie gepaart mit dem türkischen Hedonismus, in dem Frauen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Eine bittere Kleinstadt-Groteske, die Western-Elemente in sich trägt, »reitet« Emre doch als einsamer Cowboy ins türkische Hinterland, wo ein raffgieriger Sheriff und seine zwielichtigen Schergen das Sagen haben. Gefasst ist das groteske Spiel in die wunderschönen Widescreen-Aufnahmen von Hristos Karamanis (»Soy Nero«). Lars Tunçay

Dalíland

Dalíland

USA/GB/F 2022, R: Mary Harron, D: Ben Kingsley, Barbara Sukowa, Ezra Miller, 97 min

New York, 1973: Wenige Jahre zuvor noch als Ikone des Surrealismus gefeiert, droht der Stern Salvador Dalís zu sinken. Der Maler steckt in einer Schaffenskrise und feiert lieber rauschende Partys mit jungen, hübschen Männern, als den Pinsel in die Hand zu nehmen. Seine nicht weniger exzentrische Frau Gala versucht derweil, die Finanzen im Griff zu behalten und ihren Mann anzutreiben. Aber auch sie pflegt nebenbei ihre Affären. Da kommt der junge Galerieassistent James in beiderlei Hinsicht gerade recht. Er soll dafür sorgen, dass Dalí arbeitet und gerät dadurch zwischen die Fronten des Paares. Geblendet vom rauschenden Leben in Dalís innerem Zirkel merkt er nicht, dass er eigentlich benutzt wird. Die ungewöhnliche, nicht immer einfache Beziehung zwischen Salvador und Gala Dalí steht im Mittelpunkt von Mary Harrons (»American Psycho«) rauschhaftem Biopic. Viel ist geschrieben worden über den Maler und seine Muse. Gala kam dabei selten gut weg, wurde sie doch oft als launenhafte Diva dargestellt. Barbara Sukowa verleiht ihr Konturen, die das Drehbuch von John Walsh nicht immer hergeben. Sie ist stets auf Augenhöhe mit ihrem Leinwandpartner Ben Kingsley, der sich die berühmte Figur zu eigen macht, wie man es vom Meister seines Fachs gewohnt ist. Erzählt wird die Geschichte durch die Augen des Assistenten, verkörpert vom Nachwuchstalent Christopher Briney, der sich hier im virtuosen Spiel zweier Schauspielikonen sonnen darf. Lars Tunçay

Frauen in Landschaften

Frauen in Landschaften

D 2023, Dok, R: Sabine Michel, 87 min

Sie sind Politikerinnen, sie sind Frauen, Mütter, und sie sind Ostdeutsche. Eine Kombination, die im Bundestag immer noch selten ist, und gleich mit einer ganzen Reihe an Vorurteilen behaftet ist. In ihrem neuen Dokumentarfilm begleitet Regisseurin Sabine Michel (»Zonenmädchen«, »Montags in Dresden«) vier Frauen, die an unterschiedlichen Punkten ihrer politischen Karriere stehen: Yvonne Magwas (CDU), Anke Domscheit-Berg (Die Linke), Frauke Petry (ehemals AfD) und Manuela Schwesig (SPD). Mit Vorurteilen haben alle der vier Frauen zu kämpfen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, nur die Antworten, die sie darauf finden, unterscheiden sich stark. Sabine Michel fragt nach, begleitet die Frauen in ihrem Alltag und zu offiziellen Terminen. Angenehm offen erzählen die Politikerinnen der Regisseurin von ihren Erfahrungen: Von der Suche nach der eigenen Rolle in ihrer Partei, der Verantwortung gegenüber der eigenen Familie, von #metoo und dem Aufwachsen in der DDR. Sabine Michel lässt ihren Protagonistinnen viel Raum zur Reflexion des eigenen Werdegangs, der dankend angenommen wird. Deutlich wird: Es ist noch viel zu tun, wenn man Frauen vorwirft, als Mutter in die Politik gegangen zu sein, statt zu schauen, wie man junge Familien in dieser Situation unterstützen kann. So ist die Landschaft, in der sich die Frauen bewegen, kaum als »blühend« zu bezeichnen. Es bleibt ein steiniger Weg. Hanne Biermann

Millenium Mambo

Millenium Mambo

TW/F 2001, R: Hou Hsiao-Hsien, D: Shu Qi, Jack Kao, Chun-hao Tuan, 119 min

Bei den europäischen Filmfestivals ist der taiwanische Regisseur Hou Hsiao-Hsien Dauergast. 1989 gewann er mit dem Film »Eine Stadt der Traurigkeit« den Goldenen Löwen, sechs Mal waren seine Filme für die Goldene Palme nominiert. Bei uns ist das Kino des Autorenfilmers nach wie vor relativ unentdeckt. Da ist es umso erfreulicher, dass der Verleih Rapid Eye Movies nun ein zentrales Werk des Regisseurs in die deutschen Kinos bringt. »Millennium Mambo« greift nach der Zukunft, erzählt die Geschichte als Rückblende im Jahr 2011, das zur Entstehung und Handlung des Films im Jahre 2001 noch in der unbekannten Zukunft lag. Für Vicky steht die Zeit still. Vor Jahren hatte sie sich geschworen, Jack zu verlassen. Doch die beiden leben in einer gegenseitigen Abhängigkeit. Sie hatten sich jung verliebt. Die ambitionierten Träume gingen im Drogen- und Partyrausch verloren. Jetzt arbeitet sie in einer Bar als Hostess und wenn sie heimkommt, durchwühlt er aus Eifersucht jedes Mal ihre Handtasche. Als Vicky den Geschäftsmann Hao-Hao kennenlernt, keimt in ihr die Hoffnung auf einen Ausweg. Hou Hsiao-Hsiens rauschhaftes Porträt einer perspektivlosen Jugend in Taipeh erstrahlt zwei Jahrzehnte später in neuem Glanz. Davon profitieren vor allem die neondurchfluteten Bilder von Kameramann Mark Lee Ping-bing (»In the Mood for Love«). Und wir alle davon, dass Hou Hsiao-Hsiens Meisterwerk endlich in unseren Kinos entdeckt werden kann. Lars Tunçay

Passages

Passages

F/D 2023, R: Ira Sachs, D: Franz Rogowski, Ben Whishaw, Adèle Exarchopoulos, 91 min

Wenn der Regisseur Tomas Freiburg den Raum betritt, ist der Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Neben Tomas hat es jeder schwer, allen voran sein Ehemann Martin. Der arbeitet als Grafikdesigner in Paris und hat sich in seine Rolle als stiller Beobachter gefügt. Nach 15 Jahren Zusammenleben führen die beiden eine zweckmäßige, aber liebevolle Beziehung in der Stadt der Liebe. Bis Tomas auf die Lehrerin Agathe trifft und eine Affäre mit ihr beginnt. Als er Martin davon erzählt, wie bereichernd die Beziehung zu einer Frau ist, sucht der sich seine eigene Affäre. Neid und Eifersucht treiben Tomas zurück zu Martin und Martin weg von Tomas. Ein toxisches, unheilvolles Beziehungsgeflecht, verkörpert von zwei Charakterdarstellern. Der exzentrische Tomas wird einnehmend gespielt von Franz Rogowski (»Transit«). In den Schuhen eines anderen Schauspielers würde man Tomas vermutlich hassen. Rogowski verleiht ihm einen unausweichlichen Charme. Die Kombination aus seiner extrovertierten Darbietung, dem nuanciert agierenden Ben Whishaw (»Das Parfum«) und der sinnlichen Verkörperung von Adèle Exarchopoulos (»Blau ist eine warme Farbe«) macht den geradlinig erzählten Film von Ira Sachs zu einem faszinierenden Beziehungsspiel. Die lose Schauspielführung des Regisseurs (»Junge Männer«) nehmen die Schauspieler dankbar auf. Die Intimität am Set überträgt sich auf die Leinwand, auf der sich das Leben abspielt, schmerzhaft roh und entwaffnend ehrlich. LARS TUNÇAY