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Rezensionen

Nadja Tolokonnikowa: Anleitung für eine Revolution

Nadja Tolokonnikowa: Anleitung für eine Revolution

Nadja Tolokonnikowa: Anleitung für eine Revolution. 224 S.

Feministin von klein auf, mit Pussy Riot im Punkgebet mal eben Staat und Kirche bloßgestellt und von Putin höchstpersönlich per Schauprozess in den schlimmsten Gulag in Mordwinien gesteckt: Nadja Tolokonnikowa schreibt in »Anleitung für eine Revolution« mit viel Bohei und Tamtam ihre Memoiren. Dabei betreibt sie nicht nur politisch-kämpferische Abwatsche, sondern auch Introspektive, Dokumentation und pubertäre Pöbelei. Das ist alles herzlich erfrischend und ergibt knackige 200 Seiten mit fast schon zum Manifest montierten Einblicken in Tolokonnikowas junges Leben. Episodisch springt die Erzählerin zwischen Kindheitserinnerung, Aktionskunst und Gulag-Alltag – und hält bis zum Schluss die Spannung aufrecht. Gespickt ist das Ganze immer wieder mit Direktzitaten von den russischen Kontrollorganen oder eben auch mal mit Philosophie, von Lacan über Kristeva bis Žižek. Letzterer hat mit Tolokonnikowa während ihrer Haft auch einen längeren Briefwechsel unterhalten, dieser ist leider bisher nur im Philosophie-Magazin auf Deutsch erschienen, wäre aber für alle Tolokonnikowa-Kritiker eine wichtige Lektüre. Denn ihren scharfen Verstand, präzise Rhetorik und belesenes Kritikbewusstsein zeigt sie in ihren Briefen allemal und spielt dabei oft ihr Konterfei gegen die Wand. Nachzulesen ist dies auf Englisch unter dem Titel »Comradely Greetings: The Prison Letters of Nadya and Slavoj« (London: Verso, 2014). In ihrer »Anleitung für eine Revolution« allerdings spricht eine Träumerin ebenso wie eine von den Erfahrungen im Gefängnis geprägte Aktivistin. In der zweiten Hälfte bekommen der systemische Schrecken der Zwangsarbeit und die menschenverachtenden Lebensbedingungen im Straflager besonders viel Platz – und dies sind mitunter die eindringlichsten Passagen.  Marcel Hartwig

Liao Yiwu: Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand

Liao Yiwu: Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand

Liao Yiwu: Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand. 144 S.

»Die chinesische Lösung«: Das war das Angstwort all jener DDR-Bürger auf den Herbstdemonstrationen 1989. Die chinesische Lösung stand als Chiffre für das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wo am 4. Juni desselben Jahres monatelange Proteste für mehr Demokratie von der Regierung blutig beendet wurden. Exakte Opferzahlen sind unbekannt, Schätzungen zufolge starben bis zu 10.000 Menschen. Ikonografisch für das Ereignis ist das Foto eines Mannes, der sich Panzern in den Weg stellt. Mit einem essayistischen Denkmal an ebendiesen Mann beginnen Liao Yiwus »Texte aus der chinesischen Wirklichkeit«. Der chinesische Poet und Autor Liao selbst saß für vier Jahre im Gefängnis, weil er das Massaker in einem Gedicht angeprangert hatte. Seit 2011 lebt er in Deutschland. In seiner Textsammlung erinnert er sich an die Gefängniszeit, protokolliert auch Gespräche mit Mitgefangenen und veröffentlicht Briefe aus der Haft an seine Frau – die er nie abschickte. Das sind bedrückende Zeilen, die von Qual und Einsamkeit handeln und davon, wie man das Unaushaltbare aushält. Es sind Berichte eines Überlebenden. Besonders hart sind die Schilderungen über Liaos Einsatz, um den Schriftsteller und Menschenrechtler Liu Xiaobo aus chinesischer Haft heraus und nach Deutschland zu holen. Selbst die Intervention der Bundeskanzlerin bleibt erfolglos: Die Ausreise und auswärtige Behandlung bleibt Xiaobo auch verwehrt, als er an Leberkrebs erkrankt – 2017 stirbt er. »Nach dem, was ich mit Xiaobo erlebt hatte, kann mich auf dieser Welt nichts mehr überraschen.« Tobias Prüwer

Rehzi Malzahn (Hg.): Strafe und Gefängnis

Rehzi Malzahn (Hg.): Strafe und Gefängnis

Rehzi Malzahn (Hg.): Strafe und Gefängnis. 267 S.

»Strafe ist Gewalt«, stellt die Einleitung im ersten Satz nüchtern fest. Diese Aussage steht auch im Zentrum des Sammelbands, der sich kritisch mit dem Komplex und der Logik von »Strafe und Gefängnis« auseinandersetzt. Strafe ist notwendig gewaltförmig, weil sie Hierarchien etabliert: Auf der einen Seite steht die bestrafende Gesellschaft, auf der anderen der Bestrafte. Aber muss Strafe überhaupt sein? In vielen Fällen nicht, das ist die Grundthese der versammelten Texte. Das bedeutet nicht, dass Verfehlungen und Verbrechen keine Konsequenzen nach sich ziehen dürfen. Aber Maßnahmen, die auf soziale Wiedereingliederung zielen, auf Aussprache und Einsicht bei den Tätern, könnten in vielen Fällen die bessere Wahl sein, lautet der Tenor. So wird im Praxisteil zum Beispiel die Methode der Restorative Justice vorgestellt, bei der Konflikte durch kollektive Mediation und Wiedergutmachungsmaßnahmen gelöst werden sollen. Natürlich wird auch erörtert, wie man mit den wirklich gefährlichen Menschen umgehen könnte, die man keinesfalls auf die Gesellschaft loslassen kann; denn naiv sind die Autorinnen nicht. Die Texte enthalten keine abgeschlossenen Urteile, sondern werden als Versuche verstanden, das Strafwesen und damit auch Gesellschaft anders zu denken. Und sie korrigieren auch die medial eingeübte Vorstellung, dass die Welt voller psychopathischer Massenmörder ist. Dieses verstellte Bild bedarf der Aufklärung, wozu diese Texte dienen. Die vorangestellten theoretischen Überlegungen sind noch grundsätzlicher Art. Denn sie zeigen, wie eine auf Strafe als, ja: Herrschaftsinstrument basierende Gesellschaft permanent auf Ausschlussproduktion gestellt ist. Die Konstruktion von Kriminalität schafft eben auch Delinquenten. Muss Schwarzfahren mit Gefängnis geahndet werden oder könnte man nicht besser einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr einrichten? Beides wären Maßnahmen, um dem Delikt zu begegnen. Und dass Knast die Menschen nicht unbedingt bessert, die Gesellschaft außer Sühnegelüst nichts davon hat, wenn sie wieder entlassen werden, ist bekannt. Andere Texte handeln von der Schuld-Schulden-Verbindung, also wie sehr die Strafidee mit einer ökonomischen Vorstellung verquickt ist, oder betrachten das Gefängnisinnenleben und das Thema politische versus andere Gefangene. Am Thema Strafvollzug arbeitet sich Thomas Galli mit der Konzentration auf Geflüchtete ab. In »Knast oder Heimat?« versammelt der Jurist und Kriminologe als Prosa verdichtete Erlebnisberichte von Menschen, deren Hoffnung auf Asyl mit der Haft endet. Es sind verschiedene Situationen, von Fremd- und Selbstverschulden wird erzählt, nicht pauschal geurteilt, sondern erst einmal genau hingesehen. Dabei rückt die Figur des »kriminellen Flüchtlings«, die die meisten Menschen nur als Abziehbild kennen, in einen differenzierten Blick. »Geflüchtete Menschen werden symbolisch überfrachtet«: Sie seien entweder Sündenböcke oder Heilige. Beides werde ihnen als Menschen, die sie sind, nicht gerecht. Der Autor verharmlost nicht, aber stellt sich und den Lesenden Fragen. Zum Beispiel, ob man in vielen Fällen nicht bessere Mittel zur Hand hätte, als Menschen wegzusperren. So ergibt sich aus den Einzelbildern ein analytisches Mosaik auf den Gefängniskomplex. Beide Bücher ergeben zusammen eine umfangreiche Einführung ins Thema. Tobias Prüwer

Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis

Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis

Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis. 136 S.

Jeder kennt das Ende ihrer Geschichte: Am 15. Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Regierungstruppen gefangen genommen und brutal ermordet. Es folgte mit dem Nationalsozialismus das düsterste Kapitel deutscher Geschichte. Danach nutzte die DDR-Führung Rosa Luxemburg als sozialistische Lichtgestalt, die dem jungen Staat zum Vorbild gereichen sollte. In den Briefen aus dem Gefängnis, die der Berliner Dietz-Verlag neu aufgelegt hat, lernen wir die Frau hinter der historischen Persönlichkeit kennen. Eine Kämpferin, die zwar bereit ist, für ihre politischen Überzeugungen ihr Leben zu geben, die sich aber in ihrer Zelle vor allem für die Natur vor ihrem Fenster interessiert. Während der Erste Weltkrieg tobt, wird ­Luxemburg wiederholt in Schutzhaft ­genommen. Den größten Teil der Jahre 1916 bis 1918 verbringt sie in Gefangenschaft. Von dort aus schreibt sie Briefe an Sophie Liebknecht und Zeilen wie diese aus dem April 1917: »Warum ist das alles so?« »[…] so ist eben das Leben seit jeher, alles gehört dazu: Leid und Trennung und Sehnsucht. Man muss es immer mit allem nehmen und alles schön und gut finden. Ich tue es wenigstens so. Nicht durch ausgeklügelte Weisheit, sondern einfach so aus meiner Natur.« Luxemburg beweist in ihren Briefen eine beeindruckende innere Stärke. Statt zu verzweifeln, ergötzt sie sich an der Natur, begeistert sich noch für die kleinsten Lebewesen. Und findet nebenbei noch die Zeit, das eine oder andere Werk der Weltliteratur, das sie in der Haft liest, einzuordnen. Dabei ist ihre Sprache immer glasklar. Die meisten Worte getragen von einer schier unbändigen Zuversicht und der Aufforderung, mit denen sie ihre Briefe beschließt: »Seien Sie heiter.« Josef Braun

Knarf Rellöm: Wir müssen die Vergangenheit endlich Hitler uns lassen

Knarf Rellöm: Wir müssen die Vergangenheit endlich Hitler uns lassen

Knarf Rellöm: Wir müssen die Vergangenheit endlich Hitler uns lassen. 151 S.

Dieses Buch ist eine Offenbarung. Zumindest für alle, die sich für das Sammelgebiet »Hamburger Schule« interessieren. Dieser Kampfbegriff beschrieb in den neunziger Jahren die Musik- und Agitpropszene, die von der Elbe aus deutsche Pop- und Rockmusik neu definierte. Knarf Rellöm lässt in seinem Buch all das aufblitzen, was diese Szene einst zusammenhielt. Im Kern war das die Ablehnung jeglichen bürgerlichen Kunstdünkels (obwohl man seinen Adorno und Bourdieu natürlich gelesen haben sollte, vom »richtigen« Musikgeschmack ganz zu schweigen). Rellöm ist ein Meister der hingeworfenen Kurzform. Das Buch präsentiert hauptsächlich Songtexte seiner sich immer wieder neu benamenden Bands und Projekte. Dazu gibt es Interviews und skizzenhafte Kurzprosa, über die SPD, KISS und immer wieder Außerirdische. Die größte Hürde für Lesende ohne Diskurspop-Vorbildung dürfte deshalb die fehlende Musik sein. Besser gesagt: die fehlende Performance der Texte. Der Reiz des Spontanen, Ungeplanten und bewusst Offenen, der Rellöms Konzerten etwas Happening-Artiges gibt, lässt sich auf bedrucktem Papier nicht einfangen. So ist das Buch eines für Liebhaber*innen des gewieften Slogans, des Gedankenblitzes, der produktiven Verwirrung. So wie niemand Walter Benjamin gelesen hat, aber jeder Halbbohemian auf Partys vom »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« smalltalken kann, sind Rellöms Kracher wie »Fehler is king« selbsterklärend und bedürfen darum keiner ausführlicheren Worte. Aber wer denkt, man müsse nur den Namen rückwärts lesen, hat Knarf Rellöm nicht verstanden. Humoristisch sind diese Texte nämlich trotz aller Witzigkeit auf gar keinen Fall.  Torsten Reitler

Bernhard Schlink: Abschiedsfarben

Bernhard Schlink: Abschiedsfarben

Bernhard Schlink: Abschiedsfarben. 240 S.

»Sie lernten sich auf einem Yoga-Wochenende an der Ostsee kennen«, beginnt eine der Erzählungen aus Bernhard Schlinks neuem Band »Abschiedsfarben«. Diejenigen, die sich da kennenlernen, sind ein Mann und eine junge Frau mit Kind. Gemeinsam gründen sie eine Familie. Jahrelang leben sie auf engstem Raum miteinander, bis zwischen Stiefvater und Tochter etwas Seltsames geschieht – etwas, das seine beschauliche Welt auf den Kopf stellt. So oder so ähnlich funktionieren die meisten Geschichten in »Abschiedsfarben«. Sie handeln von Menschen, die im Alter auf ihr Leben zurückblicken. Schlinks Figuren bedauern, hadern, warten auf den Tod. Manchmal begegnen sie anderen Überlebenden und kehren so kurz zurück in die Vergangenheit. Etwa in »Geschwistermusik«, wo eine alte Liebe das Leben eines Musikhistorikers auf den Kopf stellt. Nur selten gehen solche Begegnungen gut aus. Präzise und schnörkellos skizziert Schlink die Biografien seiner Figuren, offenbart Abgründiges in ihrem scheinbar geordneten Alltag. Dabei haben seine Charaktere meist genügend Geld, gehen in Konzerte, verbringen ihre Zeit mit Lesen oder Gesprächen über Kunst. Es sind ehemalige Architekten, Professoren oder Schriftsteller. Und sie haben fast ausnahmslos Karrieren gemacht, die heute sehr selten geworden sind. Ein Leben lang für denselben Arbeitgeber, ohne große Sorgen um die berufliche Zukunft. Eigentlich stecken gleich zwei Abschiede in diesem Erzählband: zum einen der der einzelnen Figuren, die dem Tod entgegensehen, und zum anderen der Abschied von einem Deutschland, das auf diese Weise nicht mehr existiert. Einer Bundesrepublik, in der der Wohlstand immer weiter wuchs. Ihren langen Atem fängt Schlink in seinen Geschichten gekonnt und mit melancholischem Blick ein. Josef Braun

Jörn Schulz: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe das erste Quinoabällchen

Jörn Schulz: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe das erste Quinoabällchen

Jörn Schulz: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe das erste Quinoabällchen.

Der Augsburger Maro-Verlag hat im Sommer 2020 eine neue Reihe namens Maro-Hefte gestartet, die politische Essays mit Illustrationen verbindet. In der ersten Ausgabe beschäftigten sich Jörn Schulz und Marcus Gruber mit Klima und Kapitalismus: »Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe das erste Quinoabällchen«. Stilistisch bewegt sich der Autor zwischen Essay, Streitschrift und Appell. Anhand verschiedenster Beispiele widerlegt er die These, dass der Griff zu Jute statt Plastik das Klima und somit die Welt retten wird. So würde beispielsweise Fair Trade einer kleinbäuerlichen Familie zwar mehr Sicherheit geben – die Klassenverhältnisse stabilisiere der faire Handel aber, und Gewinn machten die Unternehmen. Die Produktionsverhältnisse würden nicht angerührt, und so könne der Schutz der Natur der Wachstumslogik zufolge immer nur nachrangig sein. Der Idee, dass individueller Verzicht und bewusster Konsum einen strukturellen Wandel hervorbringen könnten, stellt Schulz entgegen, dass noch nie ein Unternehmen wegen Verbraucherentscheidungen bankrott gegangen sei. Eigenheit des Kapitalismus sei es ja gerade, nicht für den Bedarf zu produzieren, sondern für Kapitalakkumulation. Laut Schulz rettet der Glaube an die Wirksamkeit des »nachhaltigen« Konsumverhaltens nicht das Klima, sondern den Kapitalismus. Da erscheint einem der Umstand, dass es auf der Klimakonferenz in Davos, zu der die Herrschenden mit dem Privatjet hinfliegen, fair gehandelte Veggie-Wurst gibt, fast zynisch. Jedoch sollen Schulz’ Erkenntnisse keineswegs zur Resignation führen – das Heft rät vielmehr dazu, das Bestehende zu analysieren, um so Ansätze einer Utopie, in der es Genuss und gutes Leben für alle gibt, zu entwickeln. Denn Verstehen sei der erste Schritt für grundlegende Veränderung. Genau dafür ist das Heft hervorragend geeignet. Und ein Lesegenuss noch dazu. Lea Matika

Ágnes Heller: Orbanismus – Der Fall Ungarn

Ágnes Heller: Orbanismus – Der Fall Ungarn

Ágnes Heller: Orbanismus – Der Fall Ungarn. 74 S.

Letztes Jahr schwamm die ungarische Philosophin Ágnes Heller mit 90 Jahren in den Plattensee hinein und kam nicht wieder heraus. Hinterlassen hat Heller eine finstere Prognose und einen hoffnungsvollen Appell: In einigen ihrer letzten Essays und Interviews, die in dem kleinen Band »Orbanismus« abgedruckt sind, hält sie uns dazu an, Gebrauch von unserer Freiheit zu machen, bevor es zu spät ist. Heller erzählt vom Scheideweg, an dem Ungarn sich nach dem Ende der Sowjetunion befand. Es ist eine Landesgeschichte, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, um zu verstehen, was in ganz Europa passiert. Nicht nur Viktor Orbán in Ungarn, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern bringen sich Patriarchen unterstützt von Oligarchen in Stellung und bereiten, wie Heller es nennt, eine »postmoderne Tyrannei« vor. Ihrer Ansicht nach unterscheiden sich die gegenwärtigen »illiberalen Demokratien« von autoritären und totalitären Systemen durch ein Fundament aus »ethnischem Nationalismus«. Denn dieser lässt liberale Prinzipien und sogar bestimmte demokratische Funktionen weitgehend unangetastet, solange die Außengrenzen gesichert sind. Die Notstandsverordnung während der Corona-Krise in Ungarn, dank der Orbán nun beinahe ein uneingeschränkter Herrscher geworden ist, ist eine Konsequenz aus der Geschichte Ungarns, einer Entscheidung gegen die eigene demokratische Freiheit. Ágnes Heller macht deutlich, dass die Entscheidung für die Demokratie letztlich immer bei uns liegt, dass wir im Sinne Hannah Arendts wieder »Lust am Handeln« entwickeln müssen, um diese unsere Demokratien zu retten. Marcus Eyck Wendt

Isidora Sekulic: Briefe aus Norwegen

Isidora Sekulic: Briefe aus Norwegen

Isidora Sekulic: Briefe aus Norwegen. 132 S.

»Vor langer Zeit lebte ein König namens Gylfi«, beginnt die serbische Schriftstellerin Isidora Sekulic märchenhaft. Sie befindet sich auf der Überfahrt nach Norwegen, betrachtet das Meer, das »Schwerter und Messer mit sich« zu tragen scheint und denkt an die Mythen und Sagen über die Entstehung Norwegens, »das eine barbarische Phantasie von nacktem Stein und Wasser ist«. 1913, das Jahr von Sekulic’ Reise, in der unsicheren politischen Ordnung zwischen dem zumindest offiziellen Ende des Balkankrieges und dem Beginn des Ersten Weltkrieges, die von einer Schwermut begleitet ist, von der man nie ganz weiß, ob Norwegen sie hervorbringt oder ob sie der Reisenden selbst anhaftet – »meine Seele ist überall dort, wo ich den Herbst verbracht habe«. Den damals verbreiteten Umweltdeterminismus teilt die Intellektuelle übrigens nicht, trotzdem zeigt sie die enge Verbindung von Landschaft und Leuten auf und versucht, sich das damals noch recht unbekannte Land verständlich zu machen, denn »Norwegen ist, wie allgemein bekannt, ein kleiner Staat, der in Europa keine Rolle spielt«. Die Auswahl der zusammengestellten Texte zeigt eindrücklich die Bandbreite des schriftstellerischen Könnens der Autorin, die mittels Momentaufnahmen ihre empfundene Zeit- und Ortlosigkeit heraufbeschwört: Ein Schlittenausflug endet in einer Diskussion über Bjørnson und Ibsen, in einem Essay reflektiert Sekulic über die Norweger als Gemeinschaft und beschreibt das gesellschaftliche Band, das mehr verknüpft als das Staatsgebilde als solches. Und sie begegnet den Einwohnern selbst, zitiert sie, wenn sie deren Lebensrealitäten beschreibt, und tritt in diesen einfühlsamen Reportagen respektvoll in den Hintergrund. Eine Liebeserklärung an Einfachheit, Nomadentum und Einssein mit der Natur in der Vergänglichkeit des Lebens. Das exzellente Nachwort der Herausgeberin Tatjana Petzer sorgt für die nötigen Hintergrundinformationen zur Biografie dieser herausragenden Schriftstellerin. Linn Penelope Micklitz

Josef Haslinger: Mein Fall

Josef Haslinger: Mein Fall

Josef Haslinger: Mein Fall. 140 S.

»Ich wende mich an Sie als Mitglied der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft. Nach langem Zögern habe ich mich nun entschlossen, über den sexuellen Missbrauch, der mir in jungen Jahren als Sängerknabe im Zisterzienserkloster Stift Zwettl widerfahren ist, auszusagen.« So beginnt die E-Mail Josef Haslingers, mit der er nach Jahrzehnten sein Schweigen bricht. Dreimal muss er seine Geschichte erzählen, bis er schließlich gebeten wird, seinen Fall selbst aufzuschreiben: »Sie sind doch ein Schriftsteller. Sie können das ja alles viel besser formulieren, als ich das kann.« Was zunächst als simple Rekonstruktion seiner Erinnerungen anfängt, wächst sich zu einer ausufernden Rekapitulation und Überprüfung vergangener Ereignisse aus. »Ich war zehn Jahre alt, als Pater Gottfried Eder sich für meinen kleinen Penis zu interessieren begann und dabei ganz offensichtlich in Erregung geriet.« Etliche Vorfälle über mehrere Jahre hinweg folgen. Sie alle versucht Haslinger nun, Jahrzehnte später, genau zu dokumentieren. Bis zur oben erwähnten E-Mail hatte Haslinger seinen Fall im Freundeskreis scheinbar leichthin abgetan: »Irgendwer muss einen ja in die Sexualität einführen – bei mir waren es halt Zisterziensermönche.« Doch der Missbrauch hinterlässt Spuren. »Mein Bruder Stefan drückte es drastischer aus. Er sagte: Du fährst eine Strategie der Verharmlosung. Das nützt nur den Tätern.« Als er zufällig erfährt, dass die Patres verstorben sind, entschließt er sich zur Aussage. »Ich wollte, dass mein Fall von einer offiziellen Institution dokumentiert wird.« Der Schriftsteller, der seine Geschichte nicht länger nur selbst bezeugen will. Dass der Autor sich einerseits in sein Erleben als Kind zurückzuversetzen vermag und gleichsam seinen jahrzehntelangen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Missbrauch schildert, macht dieses Buch zu einem Psychogramm missbrauchter Schutzbefohlener. »Der Vorstellung gegenüber, sexuell missbraucht worden zu sein, war die Vorstellung, Mitspieler gewesen zu sein und dadurch der Situation nicht ganz ausgeliefert, gewiss die erträglichere.« Es bleibt der aufrichtige Wunsch, dass Josef Haslinger mit seiner Falldokumentation das »Gefecht gegen die Geister« für sich entscheiden kann. Linn Penelope Micklitz

Tanya Tagaq: Eisfuchs

Tanya Tagaq: Eisfuchs

Tanya Tagaq: Eisfuchs. Antje Kunstmann 2020. 196 S.

Cambridge Bay heißt in der Sprache der Inuit Iqaluktuu iaq. Der Ort liegt im Südteil der Victoria-Insel an der Nordwestpassage in Nunavut im Norden Kanadas. Permafrostboden, Tundra, Mitternachtssonne im Sommer, Polarlichter und wochenlange Dunkelheit im Winter. Wie sieht eine Kindheit an so einem Ort aus? Die Heldin dieses surrealen Entwicklungsromans wächst hier Ende der siebziger Jahre in einer indigenen Gemeinschaft auf. »Meine Mutter war ein Kind der großen Veränderungen; von der Regierung veranlasste Umsiedlungen, der Übergang zum Kapitalismus und die Häutung der Schamanen führten zur Generation der Christlichen Gebote, des Blinden Glaubens und der Scham.« Verstreute, autobiografisch angelehnte Momente rahmen die Geschichte der Heldin. Sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung. Die Erwachsenen sind oft betrunken und unberechenbar. In einem Wechsel von Prosa und lyrischen Passagen löst sich der Realitätsbezug zunehmend auf. In Visionen von Tiergestalten entsteht eine eigene Mythologie. Seinen jähen, magisch-realistischen Höhepunkt erreicht das Buch, als die Heldin von Nordlichtern vergewaltigt wird. Die Autorin widmet ihr Werk den Überlebenden der Residential Schools sowie allen »verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen Kanadas«. »Eisfuchs« ist nicht weniger als der literarische Versuch einer Selbstverortung Generationen nach dem kulturellen Völkermord. Tagaq ist bislang vor allem als Musikerin in Erscheinung getreten: Ihre neunminütige Kehlkopfperformance auf Youtube bildet eine Brücke zum Verständnis der Stimmen in diesem Roman. Jennifer Ressel

Antje Kunstmann

Markus Thiele: Echo des Schweigens

Markus Thiele: Echo des Schweigens

Markus Thiele: Echo des Schweigens. 408 S.

Was ist einem Anwalt wichtiger – das Gesetz oder die Moral? Damit muss sich Hannes Jansen auseinandersetzen, als er seinen bisher größten Fall annimmt. Es geht um den Tod des Senegalesen Okeke, der in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte. Der Gerichtsfall in »Echo des Schweigens« basiert auf dem des Sierra Leoners Oury Jalloh, der 2005 in einer solchen Zelle verbrannte und dessen Todesursache noch nicht eindeutig geklärt wurde. Im Roman verteidigt Jansen den wegen Mordes angeklagten Polizisten. Als ihm jedoch ein Beweismittel übergeben wird, wachsen seine Zweifel an der Unschuld seines Mandanten. Zufällig lernt er bei seinen Ermittlungen die Pathologin Sophie Tauber kennen, die auf der Suche nach ihrem Vater ist. Während Tauber und Jansen an dem Fall arbeiten, wird ihre Beziehung komplizierter, und sie merken, dass sich ihre Auffassungen von richtig und gerecht nicht gleichen. Der Roman erzählt die Geschehnisse rund um Okeke, aber in drei verschiedenen Geschichten. Neben Jansens Fall und Taubers Suche nach dem Vater springt der Roman immer wieder ins Jahr 1941 und berichtet von der Jüdin Lea Rosenbaum. Alle drei Stränge werfen die Frage auf, welchen Stellenwert Moral und Gerechtigkeit eigentlich haben. Thiele, der selbst auch Rechtsanwalt ist, schreibt die Geschichten mit viel Liebe zum Detail und macht es dem Leser leicht, sich die Orte und Handlungen vorzustellen. Geschickt verstrickt er die drei Leben miteinander und lässt den Leser nach und nach die Zusammenhänge erahnen. Lea Heilmann

Oleg Senzow: Leben

Oleg Senzow: Leben

Oleg Senzow: Leben. 112 S.

Wenn ein Filmemacher im Knast sitzt, schreibt er Geschichten. So beginnt Andrej Kurkov das Geleitwort zu »Leben« und er schiebt gleich hinterher, wie misslungen dieser Anfang ist, denn tatsächlich hat Oleg Senzow mit dem Schreiben lange vor der Haft begonnen. Der Künstler, der Ökonomie und Filmregie gelernt hat, wurde 1976 auf der Krim geboren, studierte in Kiew und Moskau, kehrte auf die Krim zurück, wurde erfolgreicher Cybersportler und gründete einen Computerklub sowie eine Filmproduktionsgesellschaft, brachte Filme, Geschichten und einen Roman raus. Er verlor seine ukrainische Staatsbürgerschaft, nachdem die Krim Russland eingegliedert worden war. Als Teil des sogenannten Automaidan, der ukrainische Soldaten mit Vorräten versorgte, die von russischen Kräften blockiert waren, wurde er zusammen mit anderen 2014 wegen Terrorverdachts verhaftet und nach Moskau gebracht. Die im folgenden Jahr ausgesprochene Strafe sah zwanzig Jahre Straflager vor, fortan und bis zur Freilassung nach einem Gefangenenaustausch im letzten Jahr musste sich Semzow in einer Strafkolonie am Polarkreis aufhalten. Die acht kleinen autobiografischen Geschichten erzählen nicht von der Haft und dem langen Hungerstreik – vor dem Aufsehen, das Senzows Prozess und Verurteilung europaweit erregten, mögen sie geradezu lapidar wirken. Das sind sie aber nicht. Schnörkellos berichten sie von den kleinen Versäumnissen des Alltags, von der vergessenen Großmutter, vom nicht mehr beachteten Freund, von falschen Entscheidungen, Schlägen in der Familie und Schlägen in der Schule, von den Leuten auf dem Dorf. Die große Welt ist aus all diesen nicht ergriffenen Gelegenheiten ausgesperrt. Und sie ist doch gerade dort enthalten, wo Zwischenmenschlichkeit und Mut nicht zu gelingen scheinen. Franziska Reif

Regina Porter: Die Reisenden

Regina Porter: Die Reisenden

Regina Porter: Die Reisenden. 384 S.

Allmählich kommen die Obama-Jahre in der Literatur an. Salman Rushdie hat über diese Zeit geschrieben und Andrew Shaffer hat Barack Obama und seinen Vize Joe Biden sogar zu Helden einer Kriminalgeschichte gemacht. Nun legt die Theaterautorin Regina Porter ein Buch vor, das während des Vietnamkriegs beginnt und mitten in die Obama-Ära hineinreicht. Am Anfang stehen die Geschichten von James Vincent Junior und Agnes Miller. Er, der Nachfahre irischer Einwanderer, verfolgt eine Karriere als Anwalt und gibt sich zahlreichen Frauenabenteuern hin. Sie als junge afroamerikanische Frau erlebt Rassismus und sexuelle Übergriffe. Porter erzählt von James, Agnes und ihren Familien. Die eine ist weiß, die andere schwarz. Schon mit diesem Kniff gelingt es ihr, ein breites gesellschaftliches Panorama aufzufächern. Die Kapitel wechseln von kleinen Orten zu Großstädten und immer wieder von einer Zeit in die andere. Dabei erzählt sie ungeschönt vom Land und seinen Problemen: von Ehekrisen und Familienzwist, von Rassenspannungen und Kriegseinsätzen. Die Stärke des Romans ist, dass er zwei Dinge verbindet: konkrete Situationen, wie man sie lebendiger kaum beschreiben könnte, und den großen Lauf der Geschichte. Wenn in einem Café noch Rassentrennung herrscht, dann wird darauf verwiesen, dass dies in einigen Jahren schon anders aussieht. Die Botschaft des Romans lautet: So gespalten das Land auch war oder ist, seine Geschichte ist trotzdem eine gemeinsam erlebte. Das ist es, wovon Regina Porter auf anschauliche und filigrane Weise erzählt. Mit »Die Reisenden« ist ihr ein beeindruckender Gesellschaftsroman gelungen, der sich vor Werken von Richard Ford oder Jonathan Franzen nicht verstecken muss, sie mitunter sogar übertrifft. Tino Dallmann

Svetlana Lavochkina: Puschkins Erben

Svetlana Lavochkina: Puschkins Erben

Svetlana Lavochkina: Puschkins Erben. 368 S.

Es scheint den Leuten schwer zu fallen, glücklich und zufrieden zu leben. Erst recht trifft das auf die zu, die in der Sowjetunion Richtung westlicher Konsumgüter schielen, und dort wiederum können sich die in Moskau als richtig vornedran fühlen, weil üppiger gesegnet als die zum Beispiel in Zaporoschje in der Südostukraine – eine Stadt, von der ohne Sowjetunion und Industrialisierung niemand reden würde. Außer Puschkin-Fans: Der soll hier bei einem Bad im Dnjepr einen Ring verloren haben, 1820, als Zaporoschje wirklich ein verschlafenes Nest war. Während der Breschnew-Jahre und danach schlägt die Story um seine Erben ungewöhnliche, verrückte Volten und Haken, zieht nicht vorhersehbare Verbindungen zwischen den einzelnen gerne herrlich unsympathischen Figuren, spuckt viele Liebespaare aus und findet dafür eine üppig-überdrehte (von Diana Feuerbach gut übersetzte) Sprache, die ebenso viel Einfallsreichtum zeigt wie die Geschichte selbst. Auch die Figuren werden auf humorvolle Weise überzeichnet und übertrieben. Leider stößt der Einfallsreichtum dann doch an seine Grenzen: Während zwischendurch schon mal erfundene Pressetexte eingesetzt werden, um den Bericht der Geschehnisse weiterzudrehen – übrigens wenig überzeugend, weil fern journalistischer Textgepflogenheiten –, wird zu diesem Mittel gegen Ende en bloc gegriffen. Das ist im Gegensatz zum Rest des Romans ein bisschen ermüdend; es drängt sich der Verdacht auf, dass das Buch schnell fertig werden sollte. 2015 unter dem Titel »Zap« bereits auf Englisch erschienen, stand »Puschkins Erben« im selben Jahr auf der Shortlist des Tibor-Jones-Pageturner-Preises in London. Und ein Pageturner ist der unterhaltsame Roman der gebürtigen Ostukrainerin, die in Leipzig lebt, durchaus. Franziska Reif

Peter Zantingh: Nach Mattias

Peter Zantingh: Nach Mattias

Peter Zantingh: Nach Mattias. 240 S.

Mattias ist tot. Der junge Mann kam bei einem Attentat ums Leben. Die Facetten der Trauer, die nun das Leben der Hinterbliebenen prägen, misst der niederländische Autor Peter Zantingh in seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman aus. Lebensgefährtin Amber quält sich mit Erinnerungen an den letzten Streit, Mattias’ bester Freund Quentin bleibt mit den Träumen vom gemeinsam geplanten Musikcafé zurück und findet nur dank eines blinden Joggingpartners wieder in die Spur. Weitere Figuren wie die Großeltern, ein junger Computerspieler, Mattias’ Mutter sowie die des Attentäters schildern in den ihnen jeweils zugeordneten Kapiteln, wie sie mit den Ereignissen fertig oder eben nicht fertig werden. Der Leser wird in Lebensausschnitte hineingestoßen, in individuelle Versuche, den Verlust zu bewältigen. Das ist berührend, weil man nicht anders kann, als mitzuempfinden. Unbefriedigend bleibt die Lektüre allerdings, weil jedes mit Mattias verflochtene Schicksal nur angerissen wird, wenig Vertiefung oder Entwicklung stattfindet. Eigenartig ist auch, dass die Person, die eigentlich verbindend im Mittelpunkt stehen müsste – eben Mattias –, schemenhaft bleibt. Nicht nur die Trauernden kapseln sich ab, finden lediglich in Ausnahmefällen zueinander. Die in der Rückschau geschilderten Bindungen zwischen dem Verstorbenen und seinen Bezugspersonen wirken geisterhaft. Die Trauer scheint aus dem Bewusstsein zu verdrängen, was in der Beziehung schon zu Lebzeiten gefehlt hat – und was hier kaum miterzählt wird. So ist »Nach Mattias« ein Roman mit einer interessanten Ausgangsidee, die Ausführung bleibt jedoch etwas dahinter zurück. Andrea Kathrin Kraus

Liv Strömquist: Ich fühl’s nicht

Liv Strömquist: Ich fühl’s nicht

Liv Strömquist: Ich fühl’s nicht. 176 S.

Wer dachte, über Liebe, Beziehungen und Patriarchat sei alles gesagt, irrt. In ihrem mittlerweile vierten und längsten Comicroman »Ich fühl’s nicht« knöpft sich Liv Strömquist die Liebesbeziehung in Zeiten einer konsumorientierten Gesellschaft vor. Alle wollens, keiner spürts: Warum ist das Gefühl des Sich-Verliebens scheinbar so außergewöhnlich geworden? Es ist eine Reise durch die wissenschaftlichen Erklärungsansätze von Byung-Chul Han bis Eva Illouz, die Strömquist in den Dialogen ihrer gezeichneten Protagonisten vorstellt. Vielleicht liegt es ja an der neuen Definition des männlichen Erfolgs, die dem Gefühl des Verliebtseins im Weg steht? Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir super schlecht sterben können? Vielleicht! Erstaunlich oft betont Strömquist ihre eigene Neutralität in Hinblick auf die Erklärungskraft der vorgestellten Ansätze und deklariert ihre eigene Meinung zu den Dingen. Man merkt: Es ist kein einfaches Unterfangen, diese Ideen grafisch aufzubereiten, Seiten mit bloßem Text häufen sich. Nichtsdestotrotz kann dieses Buch nicht auf die liebevoll gestalteten dialogischen schwarz-weißen Darstellungen verzichten, deren Pointiertheit jede weitere Erklärung überflüssig macht. Wenn Strömquist dann fragt: »Können Sie nicht einfach auf Ihr Gefühl hören?«, dann kann man sich das Lachen oft nicht verkneifen: »Nein, dafür müsste ich einen Bauch-Gefühl-Experten konsultieren.« Anna Hoffmeister

Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung

Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung

Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung. 285 S.

»›Wie durch ein Gefängnis gehe ich durch meiner selbst‹, murmelte er leise.« Er – das ist der Protagonist des Romans »Blauwal der Erinnerung«, in dem Tanja Maljartschuk jene Intellektuellen aus der Versenkung der Geschichte holt, die um 1900 bis Mitte des 20. Jahrhunderts von einer eigenständigen Ukraine träumten. Diese heterogene Boheme zerwirft sich allerdings zwischen Kiew, Krakau und Wien im Disput um den Weg zum Ziel. Die 1983 in der Ukraine geborene Maljartschuk baut dazu zwei Zeitebenen auf: die der historischen Abläufe um den ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyi und die einer leidenden jungen Frau der Jetztzeit, die in der Ich-Form erzählt und namenlos bleibt. Psychisch gestört, verlässt die Literatin monatelang kaum ihre Wohnung. Als sie bei Recherchen auf Lypynskyi stößt, reißt dessen bewegte Biografie als Historiker, Politiker und Hypochonder sie aus ihrer Lethargie. Der 2019 ins Deutsche übersetzte Roman vermittelt ein intensives Bild der zerrissenen ukrainischen Geschichte zwischen den Nachbarn Polen und dem Zarentum Russland. Gerade das macht es dem Leser zumindest am Anfang nicht leicht, die vielen Fakten und Namen der Akteure im Lesefluss zu halten. Spannung ergibt sich vor allem aus dem Wissen um den Ausgang der Geschichte, die Zwangsaufnahme der bäuerlich geprägten Ukraine in den riesigen Staatenbund Sowjetunion, und aus dem Ende der beiden Hauptfiguren, die einander nie begegnet sind. Die 285 Seiten sind trotz des Personenverzeichnisses keine leichte Kost: Sie zu lesen lohnt trotzdem, denn der »gigantische Blauwal des Vergessens« hat sein Maul kurz geöffnet und Helden von damals wieder ausgespuckt. Petra Mewes

Mahir Guven: Zwei Brüder

Mahir Guven: Zwei Brüder

Mahir Guven: Zwei Brüder. 282 S.

Der große Bruder steuert sein Uber-Taxi durch Paris, seine Beobachtungen gesellschaftlicher Schieflagen – exemplarisch für ganz Frankreich und andere Industrieländer – sind klarsichtig und nüchtern. Der kleine Bruder arbeitet als Pfleger in einem Krankenhaus, sein Abschied aus dem bekannten Leben am Rande der französischen Hauptstadt beginnt mit dem Gedanken, dass der Herzpatient, der da auf dem OP-Tisch liegt, einfach zu fett ist, und endet mit der heimlichen Ausreise nach Syrien. Der ratlose Vater und der ältere Bruder hören drei Jahre nichts von ihm. Bis er eines Tages wieder vor der Tür steht. Mahir Guvens Debütroman erschien 2017 in Frankreich unter dem Titel »Grand frère« und erhielt im Folgejahr den Prix Goncourt für das Beste Debüt, den wichtigsten Literaturpreis für ein Erstlingswerk im französischsprachigen Raum. Und das völlig zu Recht. Nach den Terroranschlägen von Paris ist die Frage nach dem Warum im Bewusstsein der Grande Nation noch immer dringlich. Guven bereichert mit »Zwei Brüder« den Kanon an literarischen Katalysatoren um zwei Stimmen aus dem Inneren einer Familie mit »Migrationshintergrund«. Die französische Mutter ist früh verstorben. Der syrische Vater spricht ein eigenwilliges Französisch und ärgert sich als langjähriger Taxi-Fahrer über die Konkurrenz durch moderne Fahrdienstleister. Aber ist der kleine Bruder wirklich ein Terrorist? Abwechselnd kommen beide Brüder, die übrigens bis zum Epilog namenlos bleiben, in Monologen, Dialogen und reflektierenden Passagen zu Wort. Auch wenn der rüde Jargon zu Beginn etwas ungewohnt ist, überzeugt der konsequente, nie überspitzte Stil auch in der deutschen Übersetzung. Der Rhythmus, der stellenweise an Sprechgesang erinnert, macht schier süchtig und hält die Spannung bis zum Schluss. Jennifer Ressel

Ted Gaier: Argumentepanzer

Ted Gaier: Argumentepanzer

Ted Gaier: Argumentepanzer. 215 S.

Straßenproteste in Athen, ein afrodeutsch besetztes bayerisches Theaterstück, Popmusik in Rumänien, der Kampf um die Esso-Häuser in Hamburg, Herbert Grönemeyer (»Diese verdammte arschzugekniffene Landserstimme!«). Es geht durcheinander in diesem Buch, und das nicht zu knapp. Das hat zum einen damit zu tun, dass sein Autor gegen alle möglichen Spielarten kapitalistischer Kultur ins Feld zieht, zum anderen aber auch damit, dass zueinanderpassende Texte im Buch nicht beieinander stehen, was Themen- und Zeitsprünge hervorbringt, die es Nicht-ganz-so-Insidern nicht einfach machen. Die insgesamt 24 »teilnehmenden Beobachtungen« verteilen sich auf drei Kapitel, die einfach I, II und III heißen, aber auch »Vermischtes«, »Musik« und »Vermischtes« heißen könnten, wobei Vermischtes auch Musik enthält. IV versammelt dann (endlich!) 13 Texte von Songs der Goldenen Zitronen, die sich zum Teil mit denselben Themen wie die semijournalistischen Texte befassen – aber natürlich pointierter und geschliffener, schlicht besser sind: »80 Millionen Hooligans«, »Immer diese Widersprüche«, »Der Bürgermeister« oder »Der Investor«. Natürlich geht es ihnen wie allen Songtexten: Man kann sie eigentlich nicht ohne den Liedrhythmus lesen, vermisst deshalb umso mehr die Musik zum (oder im?) Text, was sich noch verstärkt, wenn man irgendwann aus dem Rhythmus rausstolpert, weil man es eben nicht schafft, so viele Worte wie Ted Gaier in eine Zeile zu quetschen. Ach ja: Ted Gaier bildet zusammen mit Schorsch Kamerun seit 1984 den Kern der gar nicht hoch genug einzuschätzenden Band Die Goldenen Zitronen, ist Musiker, Produzent, Regisseur und Teil des »politaktivistischen interventionistischen Performancekollektivs Schwabinggrad Ballett«. Benjamin Heine