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Rezensionen

Franz K.

Franz K.

CZ/IRL 2025, R: Agnieszka Holland, D: Idan Weiss, Peter Kurth, Carol Schuler, 127 min

Kafka-Verfilmungen liegen im Trend. Allein letztes Jahr widmeten sich eine ganze Serie sowie der Kinofilm »Die Herrlichkeit des Lebens« dem Ausnahmeschriftsteller. Nun also »Franz K.«, der gerade erst beim Toronto International Film Festival (TIFF) Premiere feierte. So viel gleich vorweg: Für einen Erstkontakt mit Kafka ist der Film eher weniger geeignet. Regisseurin Agnieszka Holland arbeitet voraussetzungsreich. Immer wieder springt sie durch Kafkas Leben. Setzt gewagte Schnitte, nicht nur in der Biografie des Schriftstellers, sondern weit darüber hinaus. Kafka – das sind bei Holland der Autor, seine Texte, aber auch der Nachruhm, seine Familie und die inzwischen legendäre Geschichte, wie Kafkas Freund Max Brod seine Schriften aus dem von Nazis besetzten Prag schmuggelte. »Franz K.« mischt Spielfilmszenen mit dokumentarischen Aufnahmen von heute, etwa aus dem Inneren des Kafka-Museums. Mitunter wenden sich Figuren direkt an das Publikum, erklären ihre Perspektive auf den Freund, den Ehemann, den Sohn. Auch dessen Texte werden bebildert. Manchmal in besonders drastischen Details. Das Ganze ist ein gewaltiges Unterfangen und letztlich bleibt es vieles schuldig. Zu hastig sind die biografischen Szenen inszeniert. Zu überladen wirkt der zeitliche Rahmen. Immerhin die Schauspieler überzeugen. Im Zentrum Idan Weiss als ein bleicher, hochsensibler Kafka und Peter Kurth als sein jähzorniger, verständnisloser Vater. Josef Braun

Amrum

Amrum

D 2025, R: Fatih Akın, D: Jasper Billerbeck, Laura Tonke, Diane Kruger, 93 min

April 1945: Die Russen stehen vor den Toren Berlins und das Dritte Reich wird bald Geschichte sein. Auch auf Amrum sind viele Menschen insgeheim froh, doch noch haben auf der Nordseeinsel die Hitler-Getreuen die Oberhand und man muss vorsichtig sein, was man sagt. Der 12-jährige Nanning lebt erst seit Kurzem hier, nachdem er mit seiner Mutter Hille und den Geschwistern nach dem Angriff der Alliierten von Hamburg ins alte Familienhaus geflüchtet ist, in dem man nun mit der Tante lebt, während der Nazi-Vater in Gefangenschaft geraten ist. Allmählich werden jedoch die Lebensmittel knapp und als die Nachricht eintrudelt, dass der Führer tot ist, versinkt die schwangere Hille in tiefer Depression. Als sie irgendwann zumindest nach einem Weißbrot mit Butter und Honig verlangt, will Nanning ihr diesen Wunsch mit allerlei Tauschgeschäften erfüllen. Ursprünglich sollte »Amrum« das letzte Werk von Regisseur und Schauspieler Hark Bohm werden. Weil der Über-Achtzigjährige gesundheitlich aber nicht mehr fit genug war, übernahm sein Freund Fatih Akin für ihn die Adaption seiner Jugenderinnerungen. Mit kindlichem Blickwinkel, prallen Inselbildern und trotz des ernsten Hintergrunds manch humorvoller Note ist dem Ersatzmann ein schöner Coming-of-Age-Film geglückt, der es schafft, der im Kino inzwischen doch sehr umfassend behandelten Zweiter-Weltkriegs-Thematik tatsächlich noch neue Nuancen abzugewinnen. Peter Hoch

Zweigstelle

Zweigstelle

D 2025, R: Julius Grimm, D: Sarah Mahita, Rainer Bock, Hong Nhung, 98 min

Michi ist jung gestorben. Seine vier besten Freunde wollen ihm seinen letzten Wunsch erfüllen und seine Asche in den Bergen verstreuen. Auf der Fahrt dorthin haben die vier einen Autounfall – und finden sich im Jenseits wieder. Dieses ist genauso aufgebaut wie jedes andere deutsche Amt. Nummer ziehen, Anmeldevorgang starten und beim entsprechenden Sachbearbeiter vorstellig werden – je nach Glaubensrichtung im Leben. Resi versucht, als Atheistin den Eintritt ins Nichts hinauszuzögern, indem sie sich dem Hausmeister als Praktikantin anbietet, Sophie möchte in den AGBs erst mal das Kleingedruckte lesen und Fipsi wird kurzerhand zum Buddhisten. Mel ist mal da, dann wieder weg, weil man im Diesseits noch verzweifelt versucht, sie wiederzubeleben. Für sein Langfilmdebüt hat sich Julius Grimm eine bitterböse schwarze Komödie ausgedacht, die für alle mit eigenen Behördenerfahrungen jede Menge Wiedererkennungsmomente liefern dürfte. Vielleicht sitzt nicht jeder Gag, und insgesamt ist »Zweigstelle« mehr Schmunzelkomödie als Schenkelklopfer, aber das spielfreudige Ensemble garantiert, dass man sich anderthalb Stunden kurzweilig unterhalten kann. Das Drehbuch ist gleichermaßen originell wie unberechenbar, so dass man mit viel Einfallsreichtum und zahlreichen netten Anspielungen durch dieses absurde Jenseits geleitet wird, in dem altbekannte Abläufe herrlich schwarzhumorig überhöht werden. Frank Brenner

The Smashing Machine

The Smashing Machine

USA/J/CDN 2025, R: Benny Safdie, D: Dwayne Johnson, Emily Blunt, Ryan Bader, 122 min

Die Karriere von Dwayne Johnson ist schon ziemlich bemerkenswert. Als »The Rock« stand der Wrestler jahrelang im Ring der WWE. Als Schauspieler ist er seit zwei Jahrzehnten Garant für große Boxoffice-Erfolge – mit Hits wie der »Fast & Furious«-Reihe, »Scorpion King« oder »Jumanji« allerdings ausschließlich im Popcornkino. Unter der Regie von Benny Safdie (»Der schwarze Diamant«), der hier erstmals ohne seinen Bruder Josh antritt, soll nun der Wechsel ins Charakterfach gelingen, und dafür knüpft Johnson, der den Film auch produzierte, dort an, wo er sich heimisch fühlt. Er spielt Mark Kerr, einen der Pioniere der UFC (Ultimate Fighting Championship), die Mixed-Martial-Arts, also unterschiedliche Kampfstile, in einem Ring vereint. In den frühen Neunzigern ist Mark ein aufstrebender Wrestler, der sich in Japan gegen Boxer und Karatekämpfer aus aller Welt behauptet. Der sanftmütige Hüne gilt als der ungeschlagene Champion im Ring, doch er droht zunehmend den Kampf gegen seine Sucht nach Opiaten zu verlieren. Hinzu kommt die komplizierte Beziehung zu Dawn, die ihn irgendwann mit einer Überdosis am Boden ihrer Wohnung findet. Mark macht einen Entzug und versucht sich zurück in den Ring zu kämpfen. Johnson verkörpert das überzeugend und mit beeindruckender physischer Präsenz. Die Geschichte liegt ihm persönlich am Herzen, das ist deutlich. Allerdings ist »The Smashing Machine« abseits der mitreißenden Kampfsequenzen äußerst konventionell erzählt. LARS TUNÇAY

Karla

Karla

D 2025, R: Christina Tournatzẽs, D: Rainer Bock, Elise Krieps, Imogen Kogge, 105 min

Die 12-jährige Karla taucht mitten in der Nacht in einer Polizeiwache auf und verlangt einen Richter zu sprechen. Sie möchte Anzeige erstatten – gegen ihren Vater. Er soll sich ihr »unsittlich genähert« haben. Heute würde die selbstbewusste Aussage des Mädchens einen Apparat aus Fürsorge und Schutz in Gang setzen. Im Westen Deutschlands des Jahres 1962 sind die Beamten hingegen kurz davor, das Kind wieder zurück zu seinen Eltern zu schicken. Obwohl sein berufliches Ansehen auf dem Spiel steht, übernimmt Richter Lamy schließlich den Fall und hört Karla zu. Was er erfährt, erschüttert nicht nur ihn. Mit Feingefühl inszenieren Regisseurin Christina Tournatzẽs und Autorin Yvonne Görlach in ihrem gemeinsamen Film das Unaussprechliche. Obwohl es sich bei »Karla« um ihr Spielfilmdebüt handelt, erzählen sie die auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte eines couragierten Mädchens und eines engagierten Richters versiert und verzichten auf emotional dick aufgetragene Momente. Der intime, einfühlsame Film ist ein konzentriertes Zwei-Personen-Stück, das vom starken Spiel des Charakterdarstellers Rainer Bock und der jungen Elise Krieps lebt. Besonders die junge Hauptdarstellerin, Tochter der Schauspielerin Vicky Krieps und hier in ihrer ersten Hauptrolle vor der Kamera, beeindruckt mit ihrer eindringlichen Stärke. Ein Film, der lange nachwirkt. LARS TUNÇAY

Maria Reiche: Das Geheimnis der Nazca-Linien

Maria Reiche: Das Geheimnis der Nazca-Linien

F 2025, R: Damien Dorsaz, D: Devrim Lingnau, Olivia Ross, Guillaume Gallienne, 99 min

In den 1930ern arbeitet die Dresdnerin Maria Reiche als Lehrerin in Lima. Hier lebt sie fern der missbilligenden Eltern und der im Faschismus versinkenden Heimat mit ihrer amerikanischen Lebensgefährtin Amy, die in Perus Hauptstadt ein Kosmopoliten-Café betreibt. Zufällig gerät sie dort an den Archäologen Paul D’Harcourt, der sie bittet, für ihn in der Wüste nahe der Kleinstadt Nazca Aufzeichnungen eines deutschen Kollegen zu übersetzen, der vor ihm dort geforscht hatte. Im steinigen Boden vermutet der Franzose eine uralte Bewässerungsanlage, wobei er vor allem Interesse daran hat, mögliche Fundstücke an Museen zu verkaufen. Reiche ist jedoch schnell anderweitig interessiert und stellt anhand der verfügbaren Daten fest, dass die riesigen Furchensysteme im Boden mehr sein könnten, als es für alle anderen den Anschein hat. Regisseur Damien Dorsaz hatte die 1998 verstorbene Maria Reiche, die in Peru dank ihrer Bemühungen um die präkolumbianische Kultur heute wie eine Heilige verehrt wird, in den Jahren vor ihrem Tod noch persönlich kennengelernt. 2006 drehte er bereits eine Dokumentation über sie. Mit diesem Spielfilm setzt er ihr nun auch ein (bisweilen etwas zu stark) fiktionalisiertes Denkmal. Das beeindruckt vor allem durch seine von Devrim Lingnau (»Die Kaiserin«) bravourös verkörperte starke Frauenfigur und fördert durchaus Erhellendes über die ebenso monumentalen wie mysteriösen Nazca-Linien zutage. Peter Hoch

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes

D 2025, R: Edgar Reitz, D: Edgar Selge, Lars Eidinger, Barbara Sukowa, 102 min

Charlotte, Königin von Preußen, sehnt sich nach einem Porträt ihres ehemaligen Lehrers Gottfried Wilhelm Leibniz. Dieser möchte ihrer Bitte gern nachkommen, doch stellt sich schnell heraus, dass stundenlanges Stillstehen zu eintönig für den Leipziger Universalgelehrten ist. Anstatt während der Porträtsitzung andächtig den dargebotenen Flötentönen zu lauschen, entfacht Leibniz eine leidenschaftliche Debatte über Kunst und Abbilder.
In Grund und Boden philosophiert, zieht der Maler Delalandre schon bald frustriert davon. Als Ersatzmalerin wird Aaltje Van De Meer engagiert, die sich zunächst als Mann ausgibt, um das Vertrauen des Denkers zu gewinnen. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, genießt Leibniz doch den intellektuellen Austausch mit der jungen Künstlerin. In seinem neuen Film ergießt der inzwischen 92-jährige Regisseur Edgar Reitz (in Co-Regie mit Anatol Schuster) eine wahre Flut an Theorien und Gedanken über die Zuschauer, die Edgar Selge als Leibniz beeindruckend nuanciert vorträgt. Während die Kulisse aufs Wesentliche reduziert ist, hat jedes Wort Tiefgang. Sobald man sich auf diese Dialoglastigkeit einlässt, entfaltet der Film einen eigenwilligen Sog, der unweigerlich zum Nachdenken anregt. Nur das zentrale Motiv des verehrten männlichen Genies, dem Frauen vor allem als Stichwortgeberinnen dienen, wirkt am Ende dann doch spürbar überholt. Hanne Biermann

Kill the Jockey

Kill the Jockey

ARG/E/USA/MEX/DK/GB 2025, R: Luis Ortega, D: Valentina Ávila, Roberto Carnaghi, Osmar Núñez, 96 min

Obwohl Remo die Zügel in der Hand hat, ist er nicht Herr seines eigenen Lebens. Für Mafiaboss Sirena ist der Jockey eine Investition. Er soll das Edelpferd zügig ins Ziel bringen und zwischen den Rennen bestenfalls keinen Ärger machen. Doch Remo wird zunehmend unzuverlässiger und verliert sich im Ketamin- und Alkoholrausch. Das belastet auch seine Beziehung zu Abril, die ebenfalls im Rennstall von Sirena startet. Bei einem Unfall landet Remo auf dem Kopf und im Krankenhaus, das er aber schon bald ebenso wie sein bisheriges Leben hinter sich lässt. Obwohl sich das nicht unbedingt liest wie der Stoff für eine Komödie, ist Luis Ortegas »The Jockey« zunächst genau das: rabenschwarz und unberechenbar. Die absurden Szenen und Ideen, die der argentinische Autor und Regisseur auf den Zuschauer loslässt, sind irrwitzig. In der zweiten Hälfte lässt der Strom der Situationskomik dann nach und gibt einer tieferen Identitätssuche Raum. Auch wenn das nicht gänzlich aufgeht, ist »Kill the Jockey« ein mutiger, visuell aufregender und höchst unterhaltsamer Trip, der sich jeder Einordnung selbstbewusst entzieht. Nahuel Pérez Biscayart (»120 BPM«) als Jockey bringt eine herrlich körperliche Komik in seine Rolle und seine Tanzdarbietung mit Úrsula Corberó (»Haus des Geldes«) ist schon jetzt eine der Szenen des Kinojahres. Lars Tunçay

The Witness

The Witness

D/A 2024, R: Nader Saeivar, D: Maryam Boubani, Nader Naderpour, Ghazal Shojaei, 100 min

Es ist nicht lange her, dass Mohammad Rasoulof mit »Die Saat des heiligen Feigenbaums« einen packenden Film über die Proteste im Iran drehte. »The Witness« von Regisseur Nader Saeivar schließt thematisch nahtlos an Rasoulofs Werk an. Wieder geht es um die aktuelle Situation im Iran, um das politische System und den Preis, den Einzelne zahlen, sobald sie versuchen, sich gegen das Mullah-Regime zu stellen. Protagonistin ist Tarlan Ghorbani: Geschichtslehrerin, Gewerkschaftsführerin und Ziehmutter einer jungen Frau namens Zara. Zara besitzt ein Tanzstudio. Doch ihr Ehemann, ein Funktionär in iranischen Regierungskreisen, möchte, dass sie zu Hause bleibt. Immer wieder schlägt er seine Frau. Dann eskaliert die Situation. Zufällig beobachtet Tarlan, wie Zara von ihrem Mann ermordet wird. Was folgt, ist ein Justizthriller. Doch anders als sonst in diesem Genre gibt es hier keine Hoffnung auf Gerechtigkeit. Der Täter gehört zum System. Er ist unantastbar. Die Frage, die die Zuschauenden stattdessen umtreibt, ist, wie weit wird Tarlan gehen? Wie viel kann sie opfern? Cannes-Gewinner Jafar Panahi hat bei »The Witness« am Drehbuch mitgeschrieben. Auch am Schnitt war er beteiligt. Schauspielerin Maryam Boubani liefert in der Hauptrolle eine beeindruckende Performance. Oft genügt ihr ein Blick, ein Senken der Schulter, um die ganze Last ihres Kampfes spürbar zu machen. »The Witness« ist spannendes Kino, moralisch, mit einem sehr überraschenden Schluss. Josef Braun

U are the Universe

U are the Universe

UKR/B 2024, R: Pavlo Ostrikov, D: Wolodymyr Krawtschuk, Leonid Popadko, Alexia Depicker, 101 min

»Du bist der Allerletzte!« Was man als Mann bei fatalem Fehlverhalten zu hören bekommen kann, ist für den Weltraum-Nuklearmüllfahrer Andriy Melnyk bittere Real(l)ität: Er ist nämlich tatsächlich der letzte Mensch, und dazu noch im All. Die Erde ist explodiert. Der leicht mürrische, aber liebenswerte Astronaut sollte eigentlich radioaktiven Abfall beim Jupitermond Callisto abladen, gerät aber stattdessen in eine wahrlich existenzielle Krise. Die so richtig offenbar wird, als er sich als vermeintlicher Piratensender-Moderator selbst interviewt. Ihm zur Seite steht der lakonische Roboter Maxim, der ihn nervt, aber mit einem überschaubaren Gag-Repertoire auch unterstützt. Die ausweglose Lage erhält plötzlich etwas Sonne, denn – oh, Là là – die französische Meteorologin Catherine ist auch noch da, gleich beim Saturn. Klar, was das neue Ziel ist. So nähern sich die beiden Isolierten über Millionen Kilometer Entfernung und Zeitverzögerung an, bis der Twist gleich mehrfach reinkracht wie ein Meteoritenregen. Regisseur Pavlo Ostrikov fokussiert sich auf das (Zwischen-)Menschliche, auch zwischen Mensch und Maschine, das durch seinen meist einzigen Protagonisten aus Fleisch und Unperfektheit perfekt umgesetzt wird. Ein Film, der in den unendlichen Weiten viele kleine leuchtende Momente schafft – und am Ende auch einen ganz großen. Markus Gärtner

Viet und Nam

Viet und Nam

F 2024, R: Minh Quy Truong, D: Thanh Hai Pham, Duy Bao Dinh Dao, Thi Nga Nguyen, 129 min

Eine vietnamesische Kohlemine um das Jahr 2000 herum: Viet und Nam arbeiten dort als Bergleute und haben sich ineinander verliebt. Die Arbeitspausen nutzen sie gern, um in den leer stehenden Stollen ein Schäferstündchen abzuhalten. Nam lebt noch bei seiner Mutter Hoa, deren Mann seit dem Vietnamkrieg verschollen ist. Da er ihr zunehmend in Träumen erscheint und sie glaubt, dass er noch am Leben ist, macht sie sich mit den beiden Liebenden und dem Kriegsveteran Ba im Dschungel auf die Suche nach ihm, der seinen Sohn niemals kennengelernt hat. Seit seiner Weltpremiere bei den letztjährigen Filmfestspielen von Cannes hat Truong Minh Quýs (»The Tree House«) dritter Langfilm »Viet und Nam« eine opulente Festivalkarriere hinter sich. Er gewann zahlreiche Preise. Die meditativ-kunstvolle Vergangenheitsbewältigung erinnert atmosphärisch mitunter an die Arbeiten des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (»Tropical Malady«) oder die queeren Werke des Mexikaners Julián Hernández (»Dämonen der Dämmerung«). Transzendentale Elemente beeinflussen hier wie dort das Geschehen und prägen das Erzähltempo. Dialoge werden zur Nebensache, stattdessen entfaltet der Regisseur Bilder von unglaublicher Sinnlichkeit und Erotik. Das erfordert eine gewisse Aufgeschlossenheit und Geduld beim Publikum, das sich dann aber von den geschickt konzipierten Szenen verzaubern lassen kann. Frank Brenner

Miroirs No. 3

Miroirs No. 3

D 2025, R: Christian Petzold, D: Philip Froissant, Paula Beer, Barbara Auer, 86 min

»Miroirs No. 3« wirkt wie ein alter Bekannter. Die Motive und Themen tauchen variierend in beinahe allen von Christian Petzolds Filmen auf: Verlust und das Ausfüllen der Leerstellen, das Leben mit Geheimnissen und die scheinbare Unmöglichkeit harmonischer Beziehungen. Auch hier setzt er auf seine Trademarks und etabliertes Stammpersonal. Der aus Ravels impressionistischem Klavierzyklus entnommene Titel bildet den Rahmen, den Petzold in Bilder rückübersetzt hat. »Une barque sur l’océan« heißt das Stück weiter, das rettende Boot, auf dem Schiffbrüchige Zuflucht finden. Laura und Betty (Paula Beer und Barbara Auer) werden durch das Schicksal zusammengeführt. Die Klavierstudentin Laura ist todunglücklich, beinahe todessehnsüchtig. Und auch über der Familie Bettys liegt ein tiefer Schatten. Auf einer Autofahrt trifft sich ihr Blick zweimal, ungläubig vertraut. Kurz darauf verunglückt das Auto, Lauras Freund stirbt und sie kommt in Bettys Obhut. Die offenkundige Harmonie, die sich zwischen den beiden auftut, sie aufblühen lässt und sich schließlich auch auf das entfremdete Gespann von Vater und Sohn (Matthias Brandt und Enno Trebs) überträgt, überdeckt ein für alle Zuschauer schon früh offensichtliches Geheimnis, um das es Petzold aber gar nicht vordergründig geht. Wichtiger ist, was die Begegnung mit den Leben der Einzelnen auf unausgesprochene, beinahe mystische Weise tut. Philipp Mantze

Das tiefste Blau

Das tiefste Blau

BRA/MEX/NL/CHI 2025, R: Gabriel Mascaro, D: Denise Weinberg, Rodrigo Santoro, Miriam Socarrás, 85 min

Brasilien in der nahen Zukunft: Die autoritäre Regierung hat eine drastische Maßnahme gegen die Überalterung der Bevölkerung erlassen: Wer das 80. Lebensjahr erreicht, wird zum »lebenden Nationalerbe« erklärt und bekommt neben einem Kranz auch gleich ein Ticket für den Bus. Der bringt die Alten in eine Kolonie, wo sie der jüngeren Generation nicht mehr zur Last fallen und somit ihre Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen. Gerade wurde das Eintrittsalter gesenkt und die 77-jährige Tereza muss auf einmal ihre Koffer packen – dabei steht sie mitten im Leben. Kurzerhand beschließt Tereza aufzubrechen und ihren Traum vom Fliegen zu verwirklichen. Damit beginnt eine wundervolle Odyssee, die die resolute Frau zu ungewöhnlichen Begegnungen entlang des Amazonas treibt, wo sie etwa auf eine alleinstehende Frau trifft, die elektronische Bibeln verkauft, und einen einsiedlerischen Skipper, der ihr die Kraft psychoaktiver Schnecken näherbringt. Was als Gesellschaftssatire beginnt, wird so zu einer transzendentalen Reise. Der brasilianische Regisseur und Autor Gabriel Mascaro (»Neon Bull«) inszeniert diese in berauschenden Bildern und fand mit Denise Weinberg eine großartige Hauptdarstellerin. Bei der Berlinale erhielt das tiefsinnige, charmante Road Movie in diesem Jahr den Großen Preis der Jury. LARS TUNÇAY

Was uns verbindet

Was uns verbindet

F/B 2025, R: Carine Tardieu, D: Valeria Bruni Tedeschi, Pio Marmaï, Vimala Pons, 105 min

Plötzlich geht alles ganz schnell: Die Buchhändlerin Sandra wird vom benachbarten Paar Cécile und Alex darum gebeten, auf den 6-jährigen Elliot aufzupassen – Céciles Sohn aus erster Ehe, wie Sandra und wir erst später erfahren. Denn: Bei der hochschwangeren Cécile ist die Fruchtblase geplatzt und sie muss schleunigst ins Krankenhaus. Sandra, die mit Kindern eigentlich nicht viel anzufangen weiß, nimmt sich notgedrungen des aufgeweckten Jungen an. Erst spätabends steht Alex weinend vor ihrer Tür – die kleine Lucille hat zwar gesund das Licht der Welt erblickt, durch eine Komplikation ist Cécile aber während der Geburt verstorben. Was folgt, ist ein zwei Jahre umfassendes und sehr behutsames Porträt mehrerlei Dinge, zeitlich eingeordnet am fortschreitenden Alter des Babys: Von Sandras Ablegen ihres Schutzpanzers, von Alex’ und Elliots Trauerarbeit und vom fragilen Zusammenwachsen einer Patchwork-Familie, als die Ärztin Emilia in Alex’ Leben tritt. Carine Tardieu, die zuletzt das Melodram »Im Herzen jung« inszenierte, schafft es, jedem der zahlreichen Protagonisten in ihrer Adaption eines Romans von Alice Ferney (L'Intimité) ausreichend Präsenz zu verschaffen. So entsteht auf der Leinwand ein vielschichtiges, nie klischeehaftes Bild aller Charaktere, aus denen Valeria Bruni Tedeschis Quasi-Hauptfigur Sandra, Pio Marmaïs Alex und César Bottis Eliott besonders herausstechen. Peter Hoch

Sirât

Sirât

F/ESP 2025, R: Óliver Laxe, D: Sergi López, Bruno Núñez, Jade Oukid, 115 min

Lautsprecherboxen türmen sich zur Sonne. Eine Meute Tanzwütiger, umgeben von staubbraunen Felsen. Stecker, Kabel, ein Laptop – der Bass wummert und lässt den Kinosaal beben. Bis zum Abspann wird das Beben anhalten, auch wenn die Musik längst verhallt ist. Der Eindruck, den » Sirāt « hinterlässt, pulsiert im Körper weiter. Inmitten der Raver, einer Gemeinschaft aus Freaks, für die das Streben nach Bass Zuflucht und Geborgenheit bedeutet, sucht Luis gemeinsam mit seinem kleinen Sohn nach seiner Tochter. Die ist vor einem halben Jahr verschwunden. Er vermutet sie auf einem der Raves in der Wüste Marokkos. So wandern Luis und Esteban durch die Tanzenden und Erschöpften und verteilen Flyer – vergeblich. Als das Militär die Party räumt, wird klar, dass jenseits der Wüste ein Krieg ausgebrochen ist. Luis und sein Sohn schließen sich einer Gruppe Raver auf dem Weg zur nächsten Party an. Auf der Reise durch die Wüste finden sie neue Freunde. Doch in unsicheren Zeiten wie diesen kann jederzeit der Boden unter den Füßen wegbrechen. Es ist große Kunst, wie der französische Regisseur und Autor Óliver Laxe (»Mimosas«) den Zuschauer einnimmt und vor den Abgrund stellt. Der Eindruck ist verstörend und auf vielen Ebenen brandaktuell. Die eindrucksvollen Landschaftspanoramen von Mauro Herce und die hypnotische Musik des Raster-Noton-Künstlers Kangding Ray tragen zur Sogwirkung bei. » Sirāt «, der mit dem Jurypreis in Cannes ausgezeichnet wurde, ist ein erschütterndes, menschliches Drama vor dem Hintergrund einer nahenden Katastrophe. LARS TUNÇAY

Rave on

Rave on

D 2024, R: Nikias Chryssos, Viktor Jakovleski, D: Aaron Altaras, Clemens Schick, Ruby Commey, 80 min

DJ Kosmo hat seinen letzten geplanten Gig wegen etwas zu viel Substanzkonsum verrissen. Seitdem schämt er sich vor sich hin, wird aber bei seinem ersten Besuch nach langer Zeit im Club immer noch als Legende erkannt. Die Mission: seine neuen Tracks auf Vinyl-Scheibe an sein Idol Troy Porter zu übergeben. Kosmos technoide Treibjagd führt durch Darkrooms, Backstage und sogar Luftschächte, meist im Dunkel. Dabei trifft der fühlige Plattenbauer allerlei zelebrationsaffine Gestalten: Dealer, Türsteher, (falsche) Freunde – und vermeintlich auch sein Vorbild, mit dem er sich dann einen pseudointellektuellen Diskurs liefert. Doch da ist schon längst klar: Aufgrund der vielen Pillen und Pülverchen, die ständig irgendwo intus gehen, biegt die Wahrnehmung – und somit auch die filmische Darstellung – auch mal ab zu eigenen Realitätsvarianten. So mutet die oft im wahrsten Sinne hautnahe Club-Odyssee streckenweise wie ein effekthascherisches Musikvideo an, das sanfte Aufflackern einer echten Geschichte geht im Wummern des gefühlt omnipräsenten Technobeats unter. Dazu passen auch die Fast-Dialoge, die authentisch an der Lautstärke, der beeinflussten Kognition der Protagonisten oder am Skript scheitern. Der dahingleitende Film hätte weniger Berghain-Klischee, dafür Tiefe, Wendung und Mut vertragen können. Markus Gärtner

Milch ins Feuer

Milch ins Feuer

D 2024, R: Justine Bauer, D: Karolin Nothacker, Johanna Wokalek, Pauline Bullinger, 78 min

Katinka ist 17 und will den Hof ihrer Familie übernehmen. Doch von der Landwirtschaft kann kaum mehr einer leben und als Frau muss sie ohnehin einen wohlhabenden Bauern erwischen und heiraten, so ist es üblich. Ihre Mutter würde es lieber sehen, wenn sie eine Ausbildung bei Aldi macht oder im Schlachthof anfinge, statt wie sie ein Leben als Bäuerin zu fristen. Katinkas beste Freundin Anna will lieber weg. Ihre Pläne zerbrechen, als sie schwanger wird. Aber Omas Tomaten sind in diesem Jahr so gut geworden wie nie zuvor. Es sind die Frauen, die den Hof zusammenhalten. Aber gerade sie sind es, die am wenigsten Einfluss auf ihre ohnehin ungewisse Zukunft haben. Regisseurin Justine Bauer, die an der Leipziger HGB studierte, geht es in ihrem Debüt vor allem um eine realistische Darstellung der Bäuerin im Film, die viel zu selten im Kino sichtbar ist. Bei aller Aktualität ist »Milch ins Feuer« ein Sommerfilm, herrlich leicht inszeniert – wie der Schwung der Schaukel, die in der ersten Einstellung minutenlang über den Fluss fliegt. Die Darstellerinnen und Darsteller, viele von ihnen im Dorf gecastet, wirken frei und unverstellt, von Pedro Carnicer mit der Kamera fast dokumentarisch eingefangen. Gedreht wurde in der Region Hohenlohe, im Nordosten von Baden-Württemberg, was sich auch in der Mundart widerspiegelt. Die Geschichte könnte sich aber überall in Deutschland abspielen. LARS TUNÇAY

Was ist Liebe wert − Materialists

Was ist Liebe wert − Materialists

USA 2025, R: Celine Song, D: Dakota Johnson, Pedro Pascal, Chris Evans, 119 min

Lucy ist es gewohnt, die Menschen nach ihrem Marktwert zu beurteilen. Alter, Größe, Statur und vor allem ihr Bankkonto sind dabei entscheidend. Ihr Job in einer großen Dating-Agentur für gut betuchte New Yorker läuft bestens. Privat scheitert sie dagegen an ihren eigenen Ansprüchen. Als ihr der reiche, gutaussehende Harry den Hof macht und sie ihren Ex, den mittellosen Schauspieler John wieder trifft, muss sie sich entscheiden: Geld oder Liebe? Celine Song hat sich nach ihrem Oscar-Erfolg »Past Lives« dem ewigen Thema in der Menschheitsgeschichte angenommen. War ihr berührendes Debüt im Kern eine persönliche, aber universelle Geschichte einer Frau zwischen zwei Kulturen, ist »Materialists« vor allem ein New-York-Film. Wer im Big Apple leben und nicht nur überleben will, braucht viel Geld. Reich heiraten ist ein Weg, der hier wenig mit Liebe zu tun hat. Celine Song rechnet ehrlich und pointiert mit den Klischees der klassischen RomCom ab und dem amerikanischen Streben nach Besitz, zu dem auch der richtige Partner oder die richtige Partnerin gehört. Dakota Johnson verkörpert die abgeklärte Lucy zwischen Businesswoman und bester Freundin. »Mandalorian«-Pedro Pascal und »Captain America«-Chris Evans sind hier mal nicht die Helden. Der Weg zur Erkenntnis, dass Geld allein nicht glücklich macht, dürfte aber für manch einen kürzer sein als die Laufzeit von rund zwei Stunden. LARS TUNÇAY

Bitter Gold

Bitter Gold

D/CHL 2024, R: Juan Francisco Olea, D: Katalina Sánchez, Francisco Melo, Daniel Antivilo, 83 min

Der Stein gerät früh ins Rollen. In der chilenischen Atacama-Wüste wartet Pacífico auf seinen Angestellten Humberto. Torkelnd taucht der auf. Betrunken und viel zu spät. Es kommt zum Konflikt zwischen den beiden Männern, der jedoch fürs Erste eine Lösung findet. Humberto springt zu den anderen Arbeitern auf die Ladefläche. Gemeinsam fahren sie zu der kleinen Mine, in der die Arbeiter für Pacífico nach Kupfer schürfen. Filme wie etwa Jane Campions »The Power of the Dog« haben eine Kunst daraus gemacht, ihre zugrundeliegenden Konflikte langsam schwelen zu lassen. In »Bitter Gold« kommen die Dinge rascher zum Punkt. Nach einem Kampf sitzt Pacífico mit einer Schussverletzung in seinem Haus. Totenbleich und bewegungsunfähig. Plötzlich ist es an seiner Tochter Carola, sich mit den Arbeitern herumzuschlagen, den Schein zu wahren, während beide einen Plan aushecken, wie sie ihr karges Leben endlich hinter sich lassen können. Die junge Frau wächst über sich hinaus. »Bitter Gold« sieht aus wie ein Neo-Western. Er hat alle Zutaten: leere Landschaften, einsame Helden, Gold, Duelle und Dynamit. Doch leider fängt er wenig damit an. Die stärksten Momente gehören der von Katalina Sánchez gespielten Carola. Einer auch ihrem Vater Pacífico (Francisco Mello). Insgesamt bleibt der Film allerdings blass. Zwischendurch ertappt man sich beim Wunsch, das Drama möge einmal so explodieren, wie der Sprengstoff in den Stollen. Josef Braun

In die Sonne schauen

In die Sonne schauen

D 2025, R: Mascha Schilinski, D: Hanna Heckt, Lena Urzendowsky, Laeni Geiseler, 159 min

»In die Sonne schauen« von Mascha Schilinski ist eine Komposition von über 100 Jahren deutscher Geschichte und menschlichen Empfindungen. Im Zentrum stehen vier Protagonistinnen aus vier Generationen und ein Vierseitenhof in der Altmark. Darum drehen sich kanonisch die Geschichten, auf Platt- bis Hochdeutsch, die von Euphorie und Schmerz, Einsamkeit und Todessehnsucht erzählen. Die kleine Alma inszeniert im deutschen Kaiserreich ihren eigenen Tod auf dem Sofa, auf dem traditionell die Toten der Familie fotografiert werden, während die kleine Nelly im 21. Jahrhundert darüber fantasiert, wie traurig ihre Mutter wäre, wenn sie beim Baden ertrinken würde. Zum Einschlafen singt ihre Mutter »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt«, ein Schlaflied von 1868. Schilinski lässt die Empfindungen ihrer Protagonistinnen nebeneinander existieren, sich aufeinander beziehen und überblenden, wodurch eine meisterhafte Inszenierung von Zeit und Raum, Licht und Schatten, von Geschichte gelingt. Die Perspektive der ausschließlich weiblichen Protagonistinnen wird dabei nicht als spezifisch weibliche, sondern als menschliche Erfahrung erzählt, in der es stets auch um Gewalt und Unterdrückung geht. »In die Sonne schauen« ist ein Gesamtkunstwerk von herausragender künstlerischer Qualität und hat zu Recht den Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes gewonnen. Eine absolute Empfehlung. Greta Jebens