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Rezensionen

Katharina Bendixen

Katharina Bendixen

Taras Augen. München: Mixtvision 2022. 384 S., 17 €

Katharina Bendixen.

Die Leipziger Autorin Katharina Bendixen hat einen gesellschaftskritischen Jugendroman veröffentlicht, der in den Verwirrungen zwischen zwei Teenagern eine mitreißende Geschichte über Freundschaft und Liebe, Angst und Vertrauen, Scham und Eskapismus, Herrschaft und Widerstand entfaltet. Zusammen aufgewachsen, hatten sie schon immer eine besondere Beziehung zueinander, als Alun aus Missverständnis und Eifersucht Tara zutiefst kränkte und der Kontakt abbrach, bevor ihre Liebe richtig aufgehen konnte, weil ein Chemiewerk in der Nähe explodierte und die beiden Nachbarn trennte. Seitdem lebt Alun in einer Großtstadt und schämt sich für das, was er Tara angetan hat. Während er in Gedanken an sie Streetartfliesen mit ihren Augen klebt, liefert er sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem totalitären Überwachungssystem. »Verschwinden kann jeder, der vom Verschwinden redet, und die Securities, die dieses Verschwinden organisieren, sitzen drei Schritte von mir entfernt. Aber wissen diese Securities überhaupt, was in der Gelben Zone abgeht?« Weil das Ausmaß des GAUs vertuscht wird und finanzielle Not ihre Familie dazu zwang, ist Tara »freiwillig« zu ihrem alten Zuhause in die »Gelbe Zone« zurückgekehrt. Während sie schwer an der kontaminierten Umwelt erkrankt, beginnt sie Alun zu verzeihen. Die zärtliche Wiederannäherung der beiden wird durch die geschickte Montage wechselnder Perspektiven mit Cliffhangern, räumlichen Sprüngen und elliptischen Auslassungen durchweg spannend erzählt. Ihr feines Gespür für Charaktere stellt Bendixen dabei ebenso in der Zeichnung der Freunde unter Beweis, an deren Seite das getrennte Paar dramatische Entwicklungen durchlebt. »Taras Augen« ist jedoch nicht zuletzt deshalb ein großes und wichtiges Jugendbuch, weil es sehr anschaulich das Dystopische in unserer realen Gegenwart aufzeigt und somit zum kritischen Denken anregt. Thorsten Bürgermann

Ulrike Draesner

Ulrike Draesner

doggerland. München: Penguin Verlag 2021. 182 S., 38 €

Ulrike Draesner.

Ein paar Jahre ist es her, da war dort, wo heute die niederländischen Boote in der Nordsee nach Kabeljau fischen, noch gar keine Nordsee. Da tummelten sich Urmenschen und Mammuts, Säbelzahntiger und ihr Scheiß und Gestank auf trockenen Böden, zwischen Wäldern, Höhlen und Schluchten. Und dann wurde es kalt, und dann warm. Und dann kam irgendwann die Flut. Und dann, noch etwas später – ein Wimpernschlag in der Geschichte – kommt die gebürtige Münchnerin Ulrike Draesner auf die Idee, den erdgeschichtlichen Unwahrscheinlichkeiten, die unserer Gegenwart vorausgingen, ein Denkmal zu setzen. Nicht so sehr die steinzeitliche Nordsee als vielmehr die sie besiedelnden Organismen macht die Autorin zum Schauplatz ihrer lyrischen Erkundungen. Draesner begleitet ihre fernen Vorfahren in diesem »Langgedicht« (so nennt sie es selbst) auf dem Weg zum ersten Werkzeug, zur Sprache. Begleitet sie zur Jagd und beim allmählichen Verlernen tierischer Instinkte, bei der Geburt ihres Nachwuchses. Flankiert wird diese Mammutaufgabe von einer etymologischen Spielfreude und Präzision. Phonetische, semantische Bezüge zwischen der deutschen und der englischen Sprache schimmern an den Seitenrändern und inmitten der Zeilen, kursiv und in Klammern. Assoziativ, originell und trotzdem jederzeit nachvollziehbar ist dieses Buch geraten. Fast beiläufig dekonstruiert sie zusätzlich die allzu gängige Mär vom naturgemäß jagen den Mann, dem die archaische teigknetende Hausfrau gegenübersteht. Dagegen die »doggerland«-Frauen: »Waren sie es, die begannen, Tiere zu zähmen?« Die Sprache jedenfalls bleibt hier ungezähmt oder wird überhaupt erst ausgewildert. Jonas Galm

Dominika Słowik

Dominika Słowik

Tal der Wunder – Der Esoteriker, die Genossin und der Arsch im Heiligenschein. Aus dem Polnischen von Alexandra Tobor. Greifswald: Katapult 2022. 480 S., 26 €

Dominika Słowik.

Zuckrowka heißt die kleine Stadt in einem Tal irgendwo in Polen. Das war es auch schon mit den Orientierungshilfen, denn Dominika Słowik spielt mit uns. Munter springen die Kapitel ihres zweiten Romans durch die Jahrzehnte, Zeitangaben lauten vage: »Kurz vor Neujahr begannen in unserer Stadt nachts geheimnisvolle Spuren im Schnee aufzutauchen.« Die jugendliche Ich-Erzählerin lebt in der Villa ihrer Großmutter, einer Ex-Genossin, die sich nach Amerika abgesetzt hat und alle paar Jahre mal anruft. Die Mutter schreibt an einer geheimnisvollen Arbeit, der Vater sitzt auf dem heimischen Sofa und schaut Tier-Dokus, seine Nachwendejobs als Hellseher und Wünschelrutengänger sind nicht mehr gefragt. Als im Schnee Spuren auftauchen und die siebzehnjährige Magda nachts auf den Dächern der Stadt unbekleidet zu singen beginnt, entblättert sich im Rückblick die antagonistische Entwicklung Zuckrowkas. Genossin Saretzka, die Großmutter unserer Erzählerin, agierte als Herrscherin über den Ort (zum Beispiel setzte sie die Errichtung eines Keramikwerkes durch) gegen den Priester, der ihr mit Mitteln des Glaubens (Wundererscheinungen) gegenübertrat. Die »kleine Saretzka« und ihre Freunde Micha und Hans stolpern in der Jetztzeit als Hilfsdetektive durch die Ereignisse. Als am Himmel über Zuckrowka der Arsch im Heiligenschein steht, Werwolf-Gerüchte kursieren und ein toter Journalist aus dem Waldtümpel gefischt wird, kulminieren die Geschehnisse. Der Leserin bleibt das Lachen im Halse stecken, so sezierend schaut Dominika Słowik auf das wunderharrende postkommunistische Leben ihrer Mitmenschen. Überbordend, witzig, liebevoll zu ihren Protagonisten und spannend bis zur letzten Zeile – ein Meisterwerk! Anne Hahn

Nino Haratischwili

Nino Haratischwili

Das mangelnde Licht. Roman. Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2022. 832 S., 34 €

Nino Haratischwili.

Fotografien, die schmerzhafte Erinnerungen wachrufen, bilden das Gerüst des neuen Romans von Nino Haratischwili. Die Ich-Erzählerin Keto nimmt die Leser während eines Ausstellungsbesuchs mit in ihre georgische Vergangenheit, die von Fremdbestimmung und dem Gefühl des Ausgeliefertseins geprägt ist. Mit ihrem Blick auf die Fotografien geht sie von Wand zu Wand zurück zu ihrer langjährigen, engen Freundschaft mit den drei Frauen Ira, Nene und Dina. Letztere hat das Leben der vier fotografisch festgehalten. Beim Lesen der Fotografie-Beschreibungen kommen Assoziationen zur Bildsprache der georgischen Fotografin Dina Oganova auf – gelegentlich auch zu Susan Meiselas Fotoserie »Prince Street Girls«, nur wachsen die Mädchen in Haratischwilis Roman nicht im New York der 1970er auf, sondern in Tiflis während der Perestroika, wo sie mit dem postsowjetischen Chaos in ihrem Heimatland konfrontiert werden. Machtkämpfe, Bandenkriege und Selbstjustiz bestimmen den Alltag der dort lebenden Familien. Stereotype Männerrollen führen das patriarchale Reglement dieser Welt. Frauen werden wie Trophäen gehandelt und Haratischwili zeigt anhand der vier im Zentrum stehenden Freundinnen unterschiedliche Reaktionen auf die Mechanismen dieser Unterdrückung. Leider wird das Potenzial der Figuren in dem Roman sprachlich erdrückt. Keine Geste, keine Regung darf für sich stehen und Raum für Interpretationen lassen. Viele Szenen wirken theatralisch übertrieben, aufgetakelt oder auch »pudrig« (um es mit einem Lieblingswort der Autorin auszudrücken) und gleiten so ins klischeehaft Überfrachtete ab. Starke Gefühle wie Verzweiflung, Wut und Hingabe werden in dicke Wortwolken gepackt, die sich über den Lesern entladen. Wenn der Regen nicht so dicht fallen würde, könnte man sich zwischen den Tropfen noch bewegen. Hanna Schneck

Wolf Haas

Wolf Haas

Müll. Hamburg: Hoffmann und Campe 2022. 287 S., 24 €

Wolf Haas.

Der Haas immer gefährlich, gerade wenn du schreibst. Weil ob nun Rezension, SMS oder für Profis auch einmal ein Roman. Wenn du den Haas liest, bist du ganz ding und dann völlig gelähmt punkto eigener Stil. Weil pass auf, keiner so markanter Ton wie der Haas, unübersetzbar Hilfsausdruck. Aber interessant. Nicht nur die Halbsätze und ich sag einmal die mündliche Sprache bei ihm in den Texten, wo du sagen musst, ganz schwer so hinzukriegen. Auch Österreich natürlich immer dabei, sprich aufpudeln, Mistkübel und alles. Aber eben nicht nur das, sondern immer auch ein Clou, ein Dreh, ein Überraschungsmoment in der Handlung, frage nicht. Außer beim letzten Buch, da war der Haas irgendwie ding, sprich schlechten Tag gehabt. Ansonsten aber immer Verlass auf den Haas, ob nun Krimi oder »Wetter vor 15 Jahren« oder »Verteidigung der Missionarsstellung«. Und der neue, der neunte Brenner-Krimi nun also Müll. Wobei ich sagen muss, stimmt nicht ganz. Weil überhaupt nicht Müll, sondern »Müll«. Sprich die Trennung, die Entsorgung, der Kreislauf, die orange Uniform sehr präsent. Und die Trennung auch gleich im doppelten Sinn, weil zertrennte Leiche. Falsch entsorgte Leiche! Und der Brenner schon ewig nicht mehr Polizei, sondern auf dem Mistplatz tätig, wo die Kollegen Leichenteile zusammenpuzzeln, dass es eine Freude ist. Außer natürlich für die Kripo, sprich den Savic und den Kopf. Jetzt interessant. Der Kopf vor Jahrzehnten den Brenner als Ausbilder gehabt. Und nun natürlich beide ein bisschen ding. Wobei auch der Praktikant und die Lieferfirma, und noch mehr die Iris. Jetzt pass auf, der Brenner nicht nur nicht mehr Polizei, sondern teilweise ganz auf der anderen Seite. Weil Wohnung hat der keine mehr. Ich will das jetzt gar nicht beurteilen, weil der Brenner schon immer noch das Herz am rechten Fleck. Aber interessant. Das Herz von der Leiche ganz woanders als die anderen Teile, sprich Tiefkühlfach von der Roswitha. Aber pass auf, mehr verrat ich nicht. Benjamin Heine

Heike Geißler

Heike Geißler

Heike Geißler: Die Woche. Berlin: Suhrkamp 2022. 316 S., 24 €

Heike Geißler.

Die Zeit ist aus den Fugen geraten. Und auch sonst stimmt so einiges nicht mehr in Leipzig und im Rest von Deutschland, nein, in der Welt. Die Ich-Erzählerin in Heike Geißlers »Die Woche« und ihre beste Freundin Constanze sehen sich unaufhörlich mit Unzumutbarkeiten konfrontiert. Alles andere als harmlos geht es los: Auf Sonntag folgt Montag in all seiner privaten und gesellschaftlichen Tragik, namentlich: die Abwesenheit des Wochenendes, Entmietung, die Demonstration über den Ring, nicht enden wollende Müdigkeit. Als wäre das nicht genug, folgen darauf weitere Montage, so schreibt es die Zeitung. Damit müssen die »proletarischen Prinzessinnen«, die Heldinnen dieser Geschichte, erst einmal lernen umzugehen. Nicht nur fühlen sie sich um ihren Wochenrhythmus betrogen, sondern grundsätzlich dem falschen Zeitalter ausgesetzt. Doch an Bewältigungsstrategien der Ohnmacht und chronischen Erschöpfung mangelt es nicht: Constanze konzipiert Seminare gegen Angst und für den heiteren Umgang mit Sinnlosigkeit, sie träumt sich in die Bürgerlichkeit – oder schreit, wenn wirklich alles zu viel wird. Zur unvorhersehbaren Realität gesellen sich in Geißlers Roman bizarre Kontinuitäten wie der personifizierte Tod, der Kaffee kocht, oder ein unsichtbares Kind, das unentwegt fordert, geboren zu werden. In einer Woche voller Anfänge reist die Leserin durch Zeit und Raum, spaziert durch Paris und fährt aufs Land, besteigt ein Schiff nach Ischia und lernt von der Autorin, in den richtigen Momenten dünnhäutig zu sein und die Nerven zu verlieren. Die greift auf allerlei Märchenhaftes und feinen Humor zurück, um Alltagssexismus, Gentrifizierung und Demokratiefeinden zu trotzen. »Das ist ja das Mindeste, was wir tun konnten – die Scheiße persönlich nehmen.« Lucia Baumann

Joshua Cohen

Joshua Cohen

Witz. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2022. 907 S., 38 €

Joshua Cohen.

Der Roman schildert das Leben Benjamins, dreizehntes Kind von Hanna und Israel Israelien aus New York. Nach zwölf Töchtern wird er geboren: »voll ausgewachsen, und es ist ein Er, Israel hoch erfreut und der Junge mit einem Greinen, einem Bart und, was ist das denn, schon eine Brille.« Das 900-Seiten-Epos wirkt vor allem durch seine Mischung aus innerem Monolog, Wortspielen, Gedankensprüngen, Erinnerungen, eigenwilliger Grammatik und Gestaltung. Worum geht es? Ben, geboren am Schabbat, ist der einzige Überlebende der jüdischen Gemeinde, alle anderen sind Weihnachten verstorben. Er wird eine Art Messias wider Willen, ein verlorener Sohn, zieht als »Querwelteinreisender« und moderner Ahasver durch die USA, von der Ostküste bis in die »Stadt der Engel« – das »GOttesgeflügel« – und über »Mormonia« wieder zurück nach New York. Wie Christus soll er geopfert werden: »Sein Blut muss vergossen werden, um den Durst der Massen zu löschen.« Cohen gibt keine chronologische Beschreibung der Reise, vielmehr eine eigenwillige jüdische Geschichte von »Palästigma« durch die USA, Europa und die Diaspora mit unzähligen Anspielungen auf »Polenland« und die »Vernichtungsfeuer« der KZ, auch literarische Bezüge wie zu Shakespeares »Kaufmann von Venedig«, die »ershylockte Miete« und das verpfändete »Pfund Fleisch«. Die ausgeprägte Symbolik zeigt sich etwa in Benjamins immer wieder nachwachsender Vorhaut, seine Zunge wird als Reliquie verehrt. Eisige Kälte ist ein durchgängiges Motiv: Benjamin wandert durch eine »vereiste Wüste«, »Überall Kälte und kalte Dunkelheit, stählerner Frost, eisernes Eis.« Das von der Kritik gepriesene Buch besticht auch durch die herausragende Leistung des Übersetzers Ulrich Blumenbach hinsichtlich Sprache und Stil, ist aber, ganz abgesehen vom Thema, keine Feierabendlektüre zur Entspannung. Joachim Schwend

Florian Baranyi/Monika Lustig & Valerio Curcio

Florian Baranyi/Monika Lustig & Valerio Curcio

Pier Paolo Pasolini. Eine Jugend im Faschismus. Bad Herrenalb: Edition Converso 2022. 127 S., 18 € & Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini. Aus dem Italienischen von Judith Krieg. Bad Herrenalb: Edition Converso 2022. 184 S., 20 €

Florian Baranyi/Monika Lustig & Valerio Curcio.

Im Juni 1942 reist der zwanzigjährige Pasolini als Teil einer faschistischen Jugendorganisation nach Weimar. Dort unterhält er sich vor allem über Literatur, lässt die nationalsozialistische Propaganda über sich ergehen und schreibt im Anschluss einen kurzen Bericht: »Italienische Kultur und europäische Kultur in Weimar«. Dieser Text, nun zum ersten Mal ins Deutsche gebracht, bildet den Kern eines schmalen Aufsatzbandes zu Pasolinis Aufwachsen im italienischen Faschismus. Das Anliegen: Pasolini in seinen Widersprüchen zeigen, in »seiner Zerrissenheit« und jenseits »zurechtgezimmerter Bilder«, wie die Autorin Monika Lustig formuliert. Nur leider überzeugt das Ergebnis nicht. Zwar gibt es lesenswerte Abschnitte zu Pasolinis Vater, einem Militär und Anhänger Mussolinis, zu Pasolinis intellektueller Entwicklung und auch zu den deutsch-italienischen Beziehungen jener Zeit, alles in allem aber bleibt die Darstellung flach, geprägt von Wiederholungen und auch von Pathos. Zudem macht Pasolinis kleiner Weimar-Aufsatz nicht viel her. Ihn als »Kern seines Antifaschismus« zu interpretieren, scheint überzogen. Und die These von Co-Autor Florian Baranyi, Pasolini übe sich in dem Aufsatz in einer Art von »Double speak«, bleibt Behauptung. Anschaulicher und klarer dagegen ist das Buch von Valerio Curcio über Pasolinis Liebe zum Fußball, die erst einmal erstaunt: Pasolini, ewiger Verächter von Massenkultur und Kapitalismus, ein Fußballfan? Doch in seiner Begeisterung für den Sport kommt er einem so nah wie selten. Curcio schildert Pasolinis lebenslange Bewunderung für die Spieler des FC Bologna, seine jugendliche Spielwut im italienischen Friaul, auch eine legendäre Partie zwischen den Casts von Pasolinis »Salò« und Bernardo Bertoluccis »1900« – wobei Pasolini mitspielte, während Bertolucci sich drückte. Wie nebenbei beschreibt Curcio wichtige Stationen in Pasolinis kurzem Leben und auch die Rolle des Fußballs in seinem literarischen und filmischen Werk. (...) Maurus Jacobs

Bertram Reinecke

Bertram Reinecke

Geschlossene Vorgänge. Über einige biografische Artefakte etc. Schupfart: Engeler Verlag 2022. 116 S., 12 €

Bertram Reinecke.

War es wirklich Ikaros’ Übermut oder führten technische Unzulänglichkeiten zu seinem Absturz? Geheimnisvoll sind Bertram Reineckes »biografische Artefakte«, so der Untertitel, allemal. Zwei Plädoyers versuchen im antiken Athen Licht in die technischen Umstände um den Tod des mythischen Ikaros zu bringen (weswegen wir ihn nicht lateinisch Ikarus nennen wollen). Ein Brief spekuliert Anfang des 19. Jahrhunderts über die Herkunft zweier Gedichtfragmente. Und die Geschichte über die rätselhaften »Hüter der Steine« auf der Insel Rügen stellt sich, das eröffnet das Nachwort, als rekonstruierter Lebenslauf aus Ende des 20. Jahrhunderts entwendeten Akten heraus. Sind diese »Hüter der Steine« wirklich ein geheimer Orden? Historisch situiert verhandelt der Band zeitgemäße Themen, etwa Verschwörungstheorien oder das wiederkehrende Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen: »Um der Väter und Söhne willen, die folgen werden: Nicht das Fliegen war schlecht […], sondern dass ein Vater seinen Sohn nicht in die Verantwortung entließ.« Und wo es um die Tradierung des Steingeheimnisses geht, erneut: »Lernt man die ersten Fakten schon im kindlichen Spiel, nimmt einen der Vater in der Jugend irgendwann beiseite, wie er andernorts dem Sohn einige Ratschläge, die Frauen betreffend, mitgeben mag, die selbst die Mutter besser nicht hört?« Berichten Menschen bei generationellen Fragen heutzutage meist persönlich, so schreibt Reinecke Parabeln. Jedem Trend hinterherzuhinken, langweilt zweifelsohne. Ob des virtuosen Nachahmens historischer Sprachgewohnheiten hängt die Gegenwart jedoch in der Luft. Je mehr wir uns dieser Gegenwart nähern, umso mehr drohen wir – eingeschlossen in kleine Textkapseln – aus der Zeit zu fallen wie Ikaros vom Himmel. Liegt das an der Technik oder an mangelnder geistiger Freiheit? Die geschlossenen Vorgänge bleiben insgesamt verstörend geheimnisvoll. Fabian Schwitter

Anna North

Anna North

Die Gesetzlose. Aus dem amerikanischen Englisch von Sonia Bonné. Eichborn: Frankfurt/Main 2022. 335 S., 22 €

Anna North.

Eine Grippewelle rafft in Amerika Ende des 19. Jahrhunderts viele Menschen dahin, die Unfruchtbarkeit unter den Hinterbliebenen ist hoch. Entsprechend groß ist der gesellschaftliche Druck, der auf Frauen im gebärfähigen Alter lastet. Auch Ada bekommt ihn zu spüren. Mit siebzehn heiratet sie und ist eigentlich guter Dinge, doch die ersehnte Schwangerschaft lässt auf sich warten. Das Misstrauen der Menschen um sie herum steigt von Monat zu Monat, bis sie schließlich in den Verdacht der Hexerei gerät und fliehen muss. Nach einem Zwischenstopp im Kloster findet sie den Weg zur berüchtigten Hole-in-the-Wall-Gang, die auch hierzulande durch Westernfilme bekannt geworden ist. Kleiner Unterschied zum Original: Die Mitglieder der Gang sind allesamt Frauen. Der feministische Western ist ein bisher unterrepräsentiertes literarisches Genre. Die amerikanische Autorin Anna North nimmt sich dessen in ihrem dritten Roman »Die Gesetzlose« an. Sie erzählt vom Zusammenleben der Gang, die den Härten der Natur ebenso ausgeliefert ist wie denen der Gesellschaft, die sie ausgestoßen hat. Trotz dieser Gemeinsamkeiten dauert es eine Weile, bis sich die Frauen zusammengerauft haben. Ein Überfall auf eine Bank soll schließlich nicht nur ihre materiellen Nöte beenden, sondern auch die Basis für eine größere Gemeinschaft verfolgter Frauen bilden. North gelingt es, vor allem Adas Zeit mit der Gang lebendig zu schildern: Erlebnisse von Geborgenheit in einer Gruppe gehen nahtlos in existenzielles Ausgeliefertsein über – Erfahrungen, die Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht machen. Trotzdem ist es eine schöne Abwechslung, sich den »Wilden Westen« mal aus weiblicher Perspektive erzählen zu lassen. Andrea Kathrin Kraus

Carl-Christian Elze

Carl-Christian Elze

Freudenberg. Berlin und Dresden: Edition Azur bei Voland & Quist 2022. 176 S., 20 €

Carl-Christian Elze.

Ein junger Mann, Freudenberg, befindet sich an der Schwelle zum Erwachsensein. Emotional entkoppelt, in sich selbst gefangen und sprachlos erlebt er das alltägliche Zusammenleben mit den Eltern. Am Horizont scheint ihn nichts anderes zu erwarten als Fremdbestimmtheit in Form bedrückender Zukunftspläne, die sein Vater für ihn bereithält. Nichts liegt ihm näher als der Wunsch, sich selbst und seinen Lebensumständen zu entkommen. Als Freudenberg beim Familienurlaub am Steilufer der polnischen Ostseeküste den leblosen Körper eines jungen Mannes findet, scheint die Gelegenheit günstig, die Identität zu wechseln, als ein anderer weiterzumachen. Jedoch ist es mit dem Kleidertausch nicht getan. Freudenberg kann sich nicht entkommen. Kurze Zeit später schon findet er sich unter noch bedrückenderen Umständen im Haus seiner Eltern wieder. Für die kurze Zeit des Selbstversuchs, des Dazwischens, entfaltet Elze ein fesselndes und sprachlich berührendes Intermezzo in haltlos fluktuierenden Bildern zwischen Traum, Realität, Möglichkeiten und Wunschdenken. Aufmerksame kreuzer-Leserinnen und -Leser kennen den Leipziger Autor nicht nur vom Gedicht des Monats im April 2022: Die »Zoogeschichten« des vor allem als Lyriker auftretenden Elze erschienen von März 2017 bis März 2018 monatlich im kreuzer, später auch als Buch »Oda und der ausgestopfte Vater«). Seine Faszination fürs Biologische hat auch in »Freudenberg« Spuren hinterlassen: Das sprachlose Wesen der Tiere scheint der Hauptperson näher als die Sphäre des Menschlichen. Verlorensein und verschwimmende Realitäten sind die Themen, die Elze anhand einer fesselnden Geschichte in seinem Romandebüt auf faszinierende Weise entwickelt. Anja Kleinmichel

Désirée Opela

Désirée Opela

Das Wetter in uns. Leipzig: Faber & Faber 2022. 160 S., 20 €

Désirée Opela.

Nadja ist 30, arbeitet in einem Münchner Büro und verbringt ihre Zeit allein, abgesehen von Gesprächen mit ihrer aufgedrehten Arbeitskollegin Joyce und Skype-Calls mit Clemens, einem krebskranken Freund. Eine mysteriöse Krankheit, die sie und ihr Leben buchstäblich lahmlegt, bildet den Rahmen für eine zweite Ebene, eine Rückschau, die in Nadjas Zeit als Kunststudentin in Leipzig führt. Die in München lebende Autorin Désirée Opela, die 2019 mit »Im Limbo« debütierte, erzählt in »Das Wetter in uns« von einer, die mit den Katastrophen des Lebens hadert. Extreme Wetterbedingungen, mit denen sie sich im Studium künstlerisch auseinandersetzte, stehen dabei analog zum Chaos um sie herum: »Im Endeffekt war das Wetter wie der Wille, unberechenbar und gewalttätig, er formte die Welt und ließ den Menschen hinter sich.« Tatsächlich ist das Päckchen, das Nadja zu tragen hat, nicht grade klein. Neben dem politischen Wahnsinn, wie dem Aufstieg der AfD und der Polizeigewalt, der sie als linke Aktivistin ausgesetzt war, trifft sie der Unfalltod ihres Vaters. Und seit einer Vergewaltigung in Jugendjahren neigt sie zu selbstverletzendem Verhalten und drückt die Zigaretten an den eigenen Unterarmen aus. Opela beschreibt Nadjas Herumirren in Leipzig und München in manchmal schwer verständlicher Sprache, die nicht nur die Orientierungslosigkeit ihrer Protagonistin abbildet, sondern manchmal auch für ebensolche bei der Leserin sorgt. Eingestreute, auf wenige Zeilen begrenzte Perspektivwechsel verwirren, ebenso die vielen verschiedenen, teils nur kurz auftretenden Figuren. Trotzdem lohnt die Lektüre dieses unrunden, eigenwilligen Romans, der Leserin wie Hauptfigur erschüttert zurücklässt. Eva Burmeister

Claudia Schumacher

Claudia Schumacher

Liebe ist gewaltig. München: dtv 2022. 373 S., 22 €

Claudia Schumacher.

Juli Ehre ist das jüngste von vier Kindern in einer von Gewalt und Menschenverachtung gezeichneten Familie: Der Vater verträgt keinen Widerspruch und schlägt Frau und Kinder. Doch nach außen muss die Fassade wohlsituierter Bürgerlichkeit gewahrt bleiben. Die suizidale Juli beginnt als Zwölfjährige ein »Selbstmordtagebuch«, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zur Mutter – »ein Hitmix aus Scarlett O’Hara und der Pietà« – und abgrundtiefem Hass auf ihren Vater. Dazu kommt der Beschützerinstinkt für ihren Bruder, der unter der Gewalt des Vaters am meisten leidet. Er ist wie sie ein Opfer und doch immer wieder ihr Retter in größter Not: »Bruno war immer nur eins: Rettung. Wir hüteten, was übrig war von der Seele des anderen.« Juli ist hochintelligent, geht zum Mathematikstudium nach Berlin und beginnt eine Promotion. Nebenbei zockt sie mit Videospielen, wird richtig erfolgreich mit ihrer Gruppe, gewinnt fette Preisgelder und kann von ihren Einnahmen gut leben. Aber sie verkommt seelisch und körperlich, wird tablettenabhängig, eine lesbische Liebe gibt ihr kurzfristig Halt, aber ihre Partnerin verlässt sie und Juli gleitet tiefer in menschliche Abgründe. Nach einer weiteren gescheiterten Beziehung zu einem in der Schweiz lebenden Sachsen findet sie mit ihrem Bruder die Kraft zum Neuanfang. Die anrührende Geschichte schildert die Autorin in erzähltechnischer und sprachlicher Vielfalt – vom Jargon der Zocker und Großstadtkids bis zur nüchternen Sprache des unpersönlichen Erzählers – und bereichert diese mit vielen literarischen Anspielungen. Kein Buch zum entspannten Schmökern, aber auf jeden Fall eine lohnende Geschichte über menschliches Elend und die Verlogenheit braver Bürger in der schwäbischen Provinz. Joachim Schwend

Viktor Schklowski

Viktor Schklowski

Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder die dritte Heloise. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Berlin: Guggolz 2022. 189 S., 22 €

Viktor Schklowski.

Es sind Liebesbriefe, die so tun, als wären sie keine. Ein russischer Emigrant im Berlin des Jahres 1922 schreibt an eine Frau, die nichts von ihm wissen will. Sie duldet die Briefe – antwortet sogar von Zeit zu Zeit –, aber nur nach Maßgabe, dass es nicht um Liebe gehen darf. Und er hält sich daran, meistens jedenfalls. Stattdessen schreibt er über literarische Zeitgenossen wie Andrei Bely und Marina Zwetajewa, über Autos, über Bücher, über einen Besuch im Varieté. Viktor Schklowski war einer der einflussreichsten Literaturtheoretiker der russischen Avantgarde, ein Mitbegründer des russischen Formalismus, der die technischen »Verfahren« von literarischen Texten analysierte. »Konterrevolutionärer Umtriebe« bezichtigt, musste er 1922 aus Leningrad fliehen, über Finnland gelangte er nach Berlin, wo er ein gutes Jahr blieb. In dieser Zeit entstand auch »Zoo« – ein eigentümliches Buch. Neben dem unglücklichen Briefeschreiber und seiner Angebeteten ergreift Schklowski selbst das Wort. Der Briefroman ermöglicht Sprünge und Brüche, Ton- und Stilwechsel. Entstanden ist eine flirrende Sammlung von Texten, in der ein skurriles Märchen ebenso Platz hat wie das Heimweh des Emigranten. Alles, wirklich alles kann Teil von Schklowskis Roman werden. Dass es die unglückliche Liebe tatsächlich gab – von wegen alles nur »Verfahren« –, erläutert das aufschlussreiche Nachwort der Übersetzerin Olga Radetzkaja. Der Anmerkungsapparat erleichtert den Zugang zum russischen Berlin der 1920er Jahre. Den schön gestalteten Band beschließt ein Essay des Schriftstellers Marcel Beyer, in dem er über sein Verhältnis zu Schklowski nachdenkt und über dessen große Bedeutung als Autor. Maurus Jacobs

Eskandar Abadi: Aus dem Leben eines Blindgängers

Eskandar Abadi: Aus dem Leben eines Blindgängers

Eskandar Abadi: Aus dem Leben eines Blindgängers. Greifswald: Katapult 2022. 320 S., 22 €

Aus dem Leben eines Blindgängers.

Es ist 1980, seit einem Jahr wütet in Persien die Islamische Revolution. Zwei junge Männer, beide von Geburt an blind, wollen das Land verlassen. Während der unauffällige Musa die iranisch-türkische Grenze passieren darf, wird Nader von den Revolutionsgarden festgenommen – und verschwindet ohne jede Spur. Zurück bleibt eine schwere Aktentasche voller Notizen, die Nader geistesgegenwärtig kurz vorher seinem Freund in die Hand gedrückt hatte. Für Musa wird diese Tasche zum Bleigewicht am Bein. Längst lebt er in Frankfurt und schlägt sich, desillusioniert und resigniert, mehr schlecht als recht durchs Leben – bis er sich entscheidet, die Tasche zu öffnen und die Notizen seines Freundes in eine Erzählung zu verwandeln. So wird Naders chronologisch erzählte Lebensgeschichte – von seiner Geburtüber die Aufenthalte in Blindeninternaten, Studium, Geigenspiel und Politisierung bis hin zu jener missglückten Flucht – immer wieder von Musas Kommentaren aus der Jetzt-Perspektive unterbrochen. Eskandar Abadi, der, selbst geburtsblind, seit seiner Flucht 1980 als Journalist und Musiker in Deutschland lebt, bietet mit diesem thematisch gewichtigen Buch Einblicke in das vorrevolutionäre Persien – und räumt gleichzeitig mit vielen Vorurteilen gegen Blinde auf. Eine spannende Geschichte, der ein Hauch orientalisches Märchen innewohnt. Der sprachliche Duktus riecht zwar deutlich nach Datteln und Safran, verlangt aber nach Geduld: Wie bei einem persischen Festmahl werden nacheinander immer weitere Schälchen gebracht, eine neue Kanne Tee aufgebrüht, und bis man zu der ersehnten Wasserpfeife gelangt ist, haben sich die einzelnen Geschmäcker längst vermischt und überlagert. Martina Lisa

Sjón: CoDex 1962

Sjón: CoDex 1962

Sjón: CoDex 1962. 640 S.

Während des Zweiten Weltkriegs erschafft ein aus dem KZ entflohener Prager Jude in einer norddeutschen Kleinstadt ein Kind aus Lehm, das später auf Island aufwächst, wo kriminelle Briefmarkenhändler, die sich bei Vollmond in Werwölfe verwandeln, ihr Wesen treiben, während sinistre Gentechniker Mutanten in die Welt setzen. Dazwischen sind immer wieder Märchen und Theaterszenen eingeschaltet, werden Ereignisse aus der isländischen Geschichte, Episoden und Figuren der Saga-Literatur heraufbeschworen; auch Tarantino-Fans kommen auf ihre Kosten. Auf Schritt und Tritt stoßen wir auf weltliterarische oder popkulturelle Anspielungen und Zitate. Aber damit wäre »CoDex 1962«, der überaus vielschichtige, abschweifende, verschlungene Roman des isländischen Star-Schriftstellers Sjón, nur sehr unzulänglich nacherzählt. Übrigens haben wir es mit drei Romanen zu tun, die Sjón 1994, 2001 und 2016 geschrieben und nun zu einem unendlich komplexen, genialischen Opus magnum zusammengeführt hat. Sjón kennt alles, kann alles – und versäumt keine Gelegenheit, das auch zu zeigen. Was ist dagegen zu sagen? Dieser Eklektizismus, das Spiel mit der Tradition – der ganze Zinnober gehört doch nun einmal zu einem postmodernen Roman! Ja, ganz recht. Nur eines hat »CoDex 1962« nicht zu bieten: Humor und Ironie. Sie hätten den Roman vielleicht vor dem Odium seelenloser Artistik bewahrt, das ihm leider anhaftet. So aber drängt sich im Laufe der Lektüre immer mehr der Verdacht auf, nicht so sehr unbändige Erzähllust habe Sjón beim Schreiben angetrieben als ein gnadenloser Wille zur Genialität. Olaf Schmidt

Pilar Quintana: Hündin

Pilar Quintana: Hündin

Aus dem Spanischen von Mayela Gerhardt. Berlin: Aufbau Verlag 2020. 151 S., 18 €

Pilar Quintana: Hündin.

Es ist die Natur, die allgegenwärtig ist in Pilar Quintanas Roman: die Kraft des Meeres, des Regens; der Urwald, Lanzenotter, Geier, Vampirfledermäuse, Spinnen und eine Invasion von Ameisen, die am helllichten Tag in Damaris’ ärmliche Hütte einbrechen: »Damaris setzte sich auf einen Plastikstuhl und zog die Beine an. (…) Nach zwei Stunden war von den Ameisen nichts mehr zu sehen und auch nicht von den Kakerlaken, die sie aus ihren Verstecken hervorgeholt und mit sich fortgetragen hatten.« Die angebliche natürliche Bestimmung der Frau ist ebenso gegenwärtig: Seit sie zwanzig ist, möchte Damaris schwanger werden – sie und ihr Freund Rogelio tun alles dafür. Es helfen jedoch nicht einmal die teuren Behandlungen beim jaibaná, dem Heiler aus dem Nachbardorf. Damaris ist schon über vierzig, als sie unerwartet die titelgebende »Hündin« geschenkt bekommt. »Chirli wie die Schönheitskönigin? Wolltest du so nicht deine Tochter nennen?«, spottet ihre Cousine, die mit 37 bereits zwei Enkelkinder hat. Pilar Quintana setzt die Hauptfigur ihres Romans einer feindlichen Umgebung aus. Da sind die Wochenendhäuser der Reichen, in deren Schatten Damaris’ und Rogelios ärmliche Hütte steht. Da ist der Weg ins Dorf – über eine steile Steintreppe, durch einen Meeresarm. Da sind Rogelios Hunde, einer angriffslustiger als der andere. Alles ist fragil, gefährlich, unbezwingbar in diesem kurzen, im besten Sinne des Wortes sonderbaren Roman. Die eigentliche Gefahr geht jedoch von einer Gesellschaft aus, in der es keinen Zweifel an der natürlichen Bestimmung der Frau gibt. Das erklärt die Leidenschaft, mit der sich Damaris ihrer Hündin annimmt. Als diese von ihren Streifzügen durch den Urwald trächtig zurückkehrt, nimmt eine unerwartete Katastrophe ihren Lauf. Doch die wirkliche Katastrophe ist, dass Damaris ihr Leben als gescheitert empfinden muss, weil sie ihrer angeblichen Bestimmung nicht entsprechen kann. Katharina Bendixen

Jennifer Beck et al.: Liebe, Körper, Wut & Nazis

Jennifer Beck et al.: Liebe, Körper, Wut & Nazis

Jennifer Beck et al.: Liebe, Körper, Wut & Nazis. 208 S.

Der Titel ist natürlich super. Sind doch »Liebe, Körper, Wut & Nazis« die Themen, die das Leben im Großen und Ganzen umreißen. Vier Mittdreißigerinnen und Mittdreißiger, die in Berlin leben, für ihr eigenes Magazin, Die Epilog, schreiben (einige von ihnen taten dies auch schon für den kreuzer) und auch sonst in den typischen Kulturkreisen hipper Menschen unterwegs sind, haben beschlossen, sich alles zu sagen, und zwar wirklich ehrlich und mit gegenseitigem Interesse. Ein Buch wie das alte Spiel »Wahrheit oder Pflicht« – nur ohne Pflicht: sich Fragen stellen und beantworten, schriftlich. Ein persönlicher Selbstversuch in Buchform. So stellt sich beim Lesen die Frage: Was interessiert mich das, ob Steffen Greiner Probleme mit Beziehungen hat, dass Fabian Ebeling glücklich ist, wenn er J Mascis hört, wie Mads Pankow seiner Tochter den Tod der Oma erklärt und wie gestört Jennifer Becks Essverhalten ist? Gar nicht leicht zu beantworten, aber eines sei vorweggenommen: Es interessiert einen dann nämlich doch. Aus Voyeurismus einerseits, außerdem, weil man einiges daraus für sein eigenes Leben ableiten kann, Trost dadurch empfindet, dass alle ähnlich schlimme Erlebnisse hatten wie man selbst, überdies Anregungen zum eigenen Selbstverständnis bekommt, wenn es um die Frage geht, wie viel Macht und Privilegien weiße Cis-Dudes haben. Wobei es wohl interessanter gewesen wäre, wenn nicht nur eine »Frau aus dem Osten« neben drei Männern aus der BRD dabei wäre. Aber auch wenn einen einige Storys kaltlassen oder man von all der Nabelschau genervt ist – am Ende geht es nämlich weniger um Nazis als um Narzissmus –, gibt das Buch Anstöße, über das eigene Leben nachzudenken und viel mehr noch über das seiner Freunde, denen man öfter persönliche Fragen stellen und noch öfter zuhören sollte. Und warum nicht bei einer guten alten Runde »Wahrheit oder Pflicht«? Juliane Streich

Eimar O’Duffy: King Goshawk und die Vögel

Eimar O’Duffy: King Goshawk und die Vögel

Eimar O’Duffy: King Goshawk und die Vögel. 276 S.

Eimar O’Duffy führt uns in eine postapokalyptische Welt, in der Monopolisten das Volk ausgebeutet und unterjocht haben. In der als Monarchie verkleideten Plutokratie lässt König Goshawk alle Singvögel einfangen, damit sie in seinem Park nur noch für ihn und seine Gattin singen. Dies veranlasst den Dubliner Philosophen Murphy, aktiv zu werden. Aber er scheitert kläglich an der Ignoranz der Menschen. Da »eine solche Aufgabe das Vermögen eines Sterblichen übersteige«, holt er sich Hilfe bei »einem Rückkehrer aus dem Jenseits«. Der mythische irische Held Cuchulainn scheint am besten geeignet und eilt zu Hilfe. Aber auch Cuchulainn scheitert und muss unverrichteter Dinge wieder zurück in seine Welt. Sein Sohn Cuanduine versucht es ebenfalls. Mit Ironie und in einer poetischen, stellenweise auch deftigen Sprache beschreibt O’Duffy Cuanduines vergebliche Versuche, die Menschen zum Widerstand aufzurütteln. Als er auf Einladung eines Zeitungsmagnaten nach England geht, stößt er dort auf die gleichen Zustände und ebensolches Unverständnis. London ist wie Dublin eine Stadt in Trümmern, die kleinen Leute leben in Armut und Elend, die Monopolisten protzen mit ihrem Wohlstand und beuten diesseits und jenseits der Irischen See die Menschen gleichermaßen aus. Mit einer Mischung aus schwarzem Humor, Augenzwinkern und Sozialkritik wendet sich der Erzähler an die Leser und schildert mit Mitgefühl und teilweise auch Unverständnis die Auswüchse eines zügellosen Kapitalismus, in dem der Einzelne nichts gilt. Mit diesem Roman gelingt es dem Kröner-Verlag erneut, in Deutschland eher unbekannte irische Autoren vorzustellen, deren Werke ein Lesegenuss sind und die uns zum Nachdenken anregen. Das umfangreiche Glossar ist eine Hilfe, um all die feinen Anspielungen einordnen zu können. Joachim Schwend

Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen

Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen

Matthias Politycki, »Alles wird gut«. 301 S.

Die ersten Seiten von Matthias Polityckis Roman lesen sich wie ein schlechter Witz: Treffen sich ein Bayer und ein Hamburger auf dem Kilimandscharo … Ein stets um politische Korrektheit bemühter 63-jähriger Intellektueller möchte während seiner Bergbesteigung des Kilimandscharo den Schmerz einer gescheiterten Liebe endgültig begraben. Leider wird er dabei von einem trinkfreudigen, rastlosen Münchner gestört, der mit Kommentaren in »bayuwarischem Spaß-Suaheli« um sich wirft. Die ungleichen Charaktere verbringen gezwungenermaßen mehrere Tage miteinander in Ostafrika und schließen – wenig überraschend – dennoch Freundschaft. Einer der beiden Männer ist sterbenskrank, was das Sujet zusätzlich abgenutzt wirken lässt. Umschlossen wird es dabei von Themen wie Toleranz, Hochmut, Liebe, Rassismus, dem Umgang mit Stereotypen und der eigenen Furcht vor dem Fremden. Die leicht absurd verlaufenden Abenteuer auf dem einwöchigen Roadtrip, die der »Windelhansi« und der »Tscharli« erleben, erreichen selten einen richtigen Höhepunkt, wechseln stattdessen meist kurz davor die Richtung oder kehren in Varianten wieder. Diese Kunstgriffe verleihen dem Reiseroman gemeinsam mit der flapsigen Trockenheit der Dialoge eine gewisse Rasanz. Etwas spannender wird es durch die Rückblenden auf die Biografien der beiden Protagonisten. Die hintergründige Traurigkeit, die beide Männer in sich tragen, wird dadurch nachvollziehbarer und verleiht den Charakteren, die auf ihrer gemeinsamen Reise immer symbiotischer werden, deutlichere Konturen. Was auf den ersten Blick plakativ wie das Erinnerungsfoto eines ewig gleich aussehenden Sonnenuntergangs wirkt, entwickelt sich im Laufe der Geschichte immerhin zu einem eindringlichen Bild von Individualität und Freundschaft Hanna Schneck