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Rezensionen

Katharina Bendixen, David Blum et al. (Hg.)

Katharina Bendixen, David Blum et al. (Hg.)

Other Writers need to concentrate. Berlin: Sukultur 2023. 194 S., 24 €

Katharina Bendixen, David Blum et al. (Hg.).

Sie will Romane schreiben, doch ihr Mann und ihre Söhne sehen das nicht gern. Wo bleibt da ihre pflichtbewusste Rolle im Familienalltag? Also schreibt sie heimlich, in den frühen Morgenstunden und nachts. – Das Ganze spielt sich nicht im 18. Jahrhundert ab, Marlen Haushofer hat 1941 geheiratet, sich beim Schreiben mit Cola und Kaffee wachgehalten und eine Einladung der Gruppe 47 ausgeschlagen. Ihr Werk wird erst allmählich (wieder)entdeckt. Inzwischen sind wir bestrebt, Care-Arbeit besser und gerechter zu verteilen, die Gleichberechtigung ist auf dem Vormarsch, die Frauennamen in Verlagsprogrammen und auf Shortlists werden mehr. Doch der Literaturbetrieb ist ein schwergängiges Instrument, das jahrhundertelang um das Bild des männlichen, romantisch einsamen Autors kreiste. Einsam und vor allem: Ohne Verantwortung für Kinder oder andere Pflegebedürftige. Das führt noch heute dazu, dass Menschen, die Care-Arbeit leisten und zugleich schreiben wollen, benachteiligt werden. Diesem Problem widmet sich die Anthologie »Other Writers need to concentrate«, herausgegeben von Katharina Bendixen, David Blum, Barbara Peveling und Sibylla Vricic Hausmann. Sie bilden das Redaktionsteam der gleichnamigen Website mit Blog, die Anfang 2020 entstand (s. kreuzer 8/2020). Die Anthologie versammelt ausgewählte Beiträge des Blogs sowie neue Texte. Im Vorwort heißt es: »Alle Autor*innen, die tagtäglich Verantwortung für andere Menschen übernehmen, sind von Fördermöglichkeiten ausgeschlossen und werden im patriarchal geprägten Literaturbetrieb an den Rand gedrängt.« 44 Autorinnen und Autoren widmen sich in Lyrik und Kurzprosa sowohl diesem Dilemma als auch Themen wie Kinderwunsch, das Verhältnis zwischen (erwachsenen) Kindern und Eltern, Rollenbilder, Zusammenbleiben und Sich-Trennen, Geburt und Erwartungen – an die Welt, an die Kinder, an sich selbst. In rascher Abfolge begegnet man lyrisch-vielschichtigen Bildern und nüchternen Beobachtungen. (...) Alexandra Huth

Angela Saini

Angela Saini

Die Patriarchen. Auf der Suche nach dem Ursprung männlicher Herrschaft. Aus dem Englischen von Simoné Goldschmidt-Lechner. München: Carl Hanser 2023. 349 S., 25 €

Angela Saini.

Das Patriarchat wirft Fragen auf, die in jüngster Zeit viel diskutiert werden: Wie kommt es etwa zu patriarchalen Verhältnissen, wenn doch steinzeitliche Gemeinschaften wohl egalitär waren? Warum ist das Patriarchat so langlebig? Die Antworten auf diese Fragen sind so vielfältig wie die Zahl der menschlichen Kulturen auf der Erde, wie Angela Saini darlegt. Gerade bei der Interpretation archäologischer Funde ist Vorsicht geboten. Forschende unterliegen nicht nur ihren eigenen Vorurteilen, sondern archäologische Funde deuten auch häufig nur auf einen Bruchteil der Lebensrealität ihrer Zeit. Liegt eine Stärke von Sainis Buch darin, diese Vorsicht walten zu lassen, so bleibt das Buch systematisch ein Flickenteppich. Weder vermag es, historische Verläufe ausgehend von einem – hypothetischen – Anfang des Patriarchats in einer Weltgegend stringent zu skizzieren. Noch gelingt es ihm, das fortwährende Entspringen patriarchaler Gesellschaften überall auf der Welt zu erklären. Methodisch scheitert Saini an ihrem Anspruch, nichts weniger als die ganze Zeit und die ganze Welt im Blick zu behalten. Das Buch umspannt von der Steinzeitsiedlung Çatalhöyük bis zur iranischen Revolution rund 10.000 Jahre und von den nordamerikanischen Haudenosaunee über die westafrikanischen Ashanti bis zu den Minangkabau in Südostasien – mit Ausnahme Australiens – alle Kontinente. Trotz Sainis kosmopolitischen Wissens und ihrer bewundernswerten Sensibilität für Vielfalt hinterlässt das Buch Ratlosigkeit. Die grundlegenden Fragen bleiben so zurück, wie sie auftauchen: »Wie ist es möglich, dass Frauen so hart für Veränderungen kämpfen […] und sie trotzdem nicht erreichen? Was macht die Stärke genau dieser Form der Unterdrückung aus?« Fabian Schwitter

Ereignis in der Stadt

Ereignis in der Stadt

30 Jahre – 30 Texte. Neue Literatur aus Slowenien. Zusammengestellt von Jelka Ciglenečki. Salzburg/Wien: Residenz 2023. 352 S., 28 €

Ereignis in der Stadt.

Gut möglich, dass Ihnen einige der 30 Autorinnen und Autoren, die für die Anthologie »Ereignis in der Stadt« Texte beigesteuert haben, so gar nichts sagen – umso besser! Schließlich lädt der Band, der gerade so umfangreich ist, dass man ihn noch bequem in der Tasche herumtragen und jederzeit hervorholen kann, zu Entdeckungsreisen in die Vielfalt der slowenischen Literatur ein. Die titelgebende Stadt führt uns dabei weit über expressionistische Schilderungen von Chaos und Anonymität hinaus: Es geht nicht nur um Ansammlungen von Gebäuden, sondern auch Gedankenlabyrinthe, Schleifen, die man immer wieder drehen muss, lebensüberschattende Sackgassen, die einen beinahe verzweifeln lassen – es geht um die Stadt in uns. Innerlichkeit wechselt sich ab mit sozialem Engagement und scharf gewetzten Blicken auf die politischen Verhältnisse unserer Gegenwart. Schweigsame, etwas verlorene Charaktere von stolzem Charme taumeln durch die Städte der Welt, kommen nach Hause, verlieren Gewissheiten und tänzeln oft am Rand der Realität entlang. Mojca Kumerdej schickt einen Agenten mit mehreren Identitäten, der sich schlussendlich doch nicht auf seine Intuition verlassen kann, in ein kafkaeskes Dilemma. Bei Desa Muck wird einer misanthropischen Fernsehproduzentin von einer unter der Ungerechtigkeit der Welt leidenden Teenagerin die ersehnte Ruhestands-Einsamkeit verwehrt. Jani Virks Protagonist lernt in einer Kosmologie-Vorlesung eine rätselhafte Frau kennen, die sein restliches Leben in unendliche Dunkelheit taucht. Zwischendurch finden sich Lyrik und Kurzprosa, etwa eine eigenwillige Anleitung zur Bekämpfung von Pharaoameisen (Boris Kolar) oder eine Fabel über die Macht der Wörter (Andrej Blatnik). Die meisten Figuren kommen nicht da an, wo sie sich ursprünglich gesehen haben, müssen ihre Vorstellung von der Welt überdenken oder sogar ganz über den Haufen werfen. Und geschieht nicht auch genau das beim Lesen eines guten Buches? Alexandra Huth

Kathrin Röggla

Kathrin Röggla

Laufendes Verfahren. Frankfurt am Main: S. Fischer 2023. 208 S., 24 €

Kathrin Röggla.

Kathrin Röggla schreibt in ihrem neuen Roman »Laufendes Verfahren« über den »größten Nachwendeprozess in der Bundesrepublik«, den NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere Angeklagte, und seine Folgen. Röggla dokumentiert nicht nur die Verfehlungen und blinden Flecken des Oberlandesgerichts München (etwa die Verwicklungen des Verfassungsschutzes in den sogenannten NSU-Komplex, den behördlichen Rassismus, der den Opfern und ihren Angehörigen noch im Urteil entgegenschlägt, oder den blanken Hohn der rechten Szene gegenüber dem Verfahren), sondern sie zeigt, dass etwas Grundsätzlicheres schief liegt in unserer Beziehung zur Rechtsprechung. Dazu wendet Röggla sich jenen zu, die vom Publikumsrang aus beobachten: dem pensionierten Juristen, dem Bloggerklaus und der Omagegenrechts. Dazu stellt ein bewusst vage bleibendes »Wir« Fragen, passt auf, diskutiert und kommt doch nicht ganz hinterher. Dieses »Wir« setzt sich zum einen aus den fiktiven Beobachterinnen und Beobachtern zusammen, zum anderen vertritt es den interessierten Staatsbürger an sich. Der Prozess selbst bleibt ein zukünftiger, ganz so, als sei er noch nicht abgeschlossen oder als sei es eine Zumutung, in der Vergangenheitsform über ihn zu sprechen. Trotz Urteil löst sich der Fall nicht auf, bleibt mitten unter uns. Und dann geht der Alltag einfach weiter. Noch ein Übergriff, noch ein Mord, noch ein Massaker. Kathrin Röggla bietet in ihrem Roman ein bewegliches Panorama dieses »Jahrhundertprozesses«, dessen Hintergründe, ginge es nach dem hessischen Verfassungsschutz, noch bis ins Jahr 2134 unter Verschluss bleiben sollten. Die Autorin führt den Prozess nicht einfach noch einmal zwischen zwei Buchdeckeln, um ein eigenes Urteil zu fällen. Der Roman ist ebenso die Einsicht über die Grenzen von Literatur gegenüber dem Recht wie ein Appell über das Schreiben hinaus: »Der Prozess hat aus seiner Versteinerung nicht mehr herausgefunden, schon gar nicht mit sprachlichen Mitteln.« Eyck-Marcus Wendt

Amir Gudarzi

Amir Gudarzi

Das Ende ist nah. München: DTV 2023. 416 S., 25 €

Amir Gudarzi.

»Ich wurde bereits mehrmals aus politischen Gründen verhaftet. Wenn man mich jetzt verhaften würde, würde ich lange nicht mehr aus dem Gefängnis rauskommen.« – Der Student A. muss sein Heimatland Iran verlassen, im Gepäck hat er alltägliche wie staatliche Gewalterfahrungen und die tiefen Spuren geraubter Selbstbestimmung. Sein eigentliches Ziel Kanada erreicht A. nicht – er landet in Wien, um hier mit den Ausschlüssen der österreichischen Mehrheitsgesellschaft konfrontiert zu werden. Amir Gudarzis Debüt lässt sich als Dringlichkeitsroman bezeichnen, denn er erzählt von der Flucht aus einer bürokratischen Autokratie hinein in eine rassistische Bürokratie, dem Gefühl der Entfremdung in der Fremde und der daraus resultierenden Einsamkeit in einem heimatlosen Dazwischen. Und dringlich sind diese Themen, da brandaktuell: Das Schicksal von Schutzsuchenden in Europa ist ein Schicksal, das durch Rassismus in individueller, struktureller und institutioneller Form geprägt ist. Gudarzi protokolliert jene Zustände, so dass man immer wieder fassungslos die Hände über dem Kopf zusammenschlagen will. Nach diesem moralischen Impuls drängt sich dennoch die literarische Frage auf: Reicht das? Gudarzis Stil ist simpel, teilweise passend zur Kargheit des Beschriebenen, häufig aber bleiben Figuren, Dialoge und Szenen zu skizzenhaft und holzschnittartig. Wenn er zum Beispiel schreibt: »Nun aber kämpfe ich gegen Windmühlen der Bürokratie, gegen hohle Werte«, dann spiegelt sich darin zwar traurige Realität wider, entfaltet aber wenig literarische Kraft. Solche Sätze finden sich zuhauf in Gudarzis Erstling, so dass sich dieser oft als Antithese zur »Show don’t tell«-Regel liest. Tilman Busch

Denis Pfabe

Denis Pfabe

Simonelli. Roman. Berlin: Rowohlt, 2021. 288 S., 22 €

Denis Pfabe.

Die Geschichte, die hier erzählt wird, birgt etwas Filmisches in sich – sie entwickelt sich streng nach klassischem Krimidrehbuch: Die am Leben gescheiterte Hauptfigur namens Simonelli gerät mehr oder weniger unverschuldet ins kriminelle Milieu und erfährt durch die Konfrontation mit ihrem Antagonisten eine innere Wandlung zum mutigen Helden (Liebesgeschichte inklusive). Das Spiel mit der klassischen Erzählstruktur des Kriminalfilms wird vom Autor noch durch die Berufswahl seines Helden verstärkt. Simonelli ist Requisitenbauer. Schauplatz des Romans ist demnach unter anderem auch ein Filmset. Diese Idee ist erzählerisch schön, denn die Attrappen und Fälschungen Simonellis erlangen ihren Wert erst durch die Geschichten, in denen sie eine Rolle spielen. Auf dieser Ebene verschlingen sich auch die zwei aufeinander zulaufenden Erzählstränge des Romans. Dennoch wirkt die Struktur des Romans etwas brav und ein Teil des Spannungspotenzials fällt ihr zum Opfer. Die Sprache des Buches ist schnörkellos und sachlich. Schauplätze werden wie beim Blick durch eine Filmkamera begrenzt beschrieben, während Details und Gesten in den Vordergrund rücken, als würden sie herangezoomt. Diese spielerischen Tendenzen und ebenso die Charakterdarstellungen sind reizvoll und lassen beim Lesen immer wieder auf fesselnde Entwicklungen hoffen, doch so richtig packend wird es nie. Eine Lektüre, die sich aber durchaus für ein entspanntes Wochenende eignet. Speziell eine Erkenntnis, die gegen Ende vermittelt wird, lohnt das Durchhalten bis zum Schluss. Mehr wird nicht verraten. Hanna Schneck

Petra Steps

Petra Steps

Mörderisches aus Sachsen. Krimis. Meßkirch: Gmeiner-Verlag 2021. 279 S., 11 €

Petra Steps.

Adina Pfefferkorn erstellt ein Tourismusportal für eine Marketingfirma und schreibt einen Reiseblog für Sachsen. Auf ihrer Recherche wird sie ständig in Kriminalfälle verstrickt, die sie dann nebenbei dank ihrer überragenden geistigen und körperlichen Qualitäten aufklärt, tatkräftig unterstützt von ihrem Freund Oli, Kriminalhauptkommissar aus Annaberg. Die vielen Nebenhandlungen, zum Beispiel zur jüdischen Verwandtschaft von Adina oder zu politischen Ereignissen der jüngsten Zeit, haben mit den eigentlichen Krimis wenig bis gar nichts zu tun. Die Beschreibungen von Adinas Kochkünsten und der vielen Lokale machen die Geschichten nicht spannender. Als Reiseführer sind die Kurzgeschichten zu ungenau, als Krimi fehlt die Spannung. Ab und zu kommt es überraschend und unbegründet zu hochsprachigen Formulierungen in diesem in einfacher Sprache durcherzählten Buch, die Idiomatik holpert immer wieder. Technische Details sind schlecht recherchiert: Vineta-Fly funktioniert nicht mit »Luftdruck«, sondern mit Wasserdruck. Oli hat an seinem Auto erst einen »Fahrradanhänger«, dann einen »Fahrradständer« und endlich korrekt einen »Fahrradträger«. Insgesamt war die Endkorrektur nachlässig. Das beginnt bei der Orthografie und geht weiter über Doppelungen bis zum verwechselten Vornamen: Aus »Stefan« wird »Steffen«. Als dann noch »Leipziger Lärchen« auftauchen, ist der genervte Leser endgültig versucht, das Buch zu schließen und die Zeit mit sinnvoller Lektüre zu verbringen. Joachim Schwend

Julius Fischer

Julius Fischer

Ich hasse Menschen. Eine Art Liebesgeschichte. Berlin, Dresden: Voland & Quist 2021. 268 S., 15 €

Julius Fischer.

Fischer beschreibt in seinem autobiografisch gefärbten Roman seinen Umzug an den »Arsch der Heide«. Er hat nach seiner Scheidung keinen Plan, doch dann erbt er von seinem Uropa ein heruntergekommenes Umgebindehaus in Sucknitz, er macht nicht mehr »nüscht«, sondern einen Neuanfang als Gastwirt, was mit gewaltigen Problemen verbunden ist – die feindliche Stimmung im Dorf ist nur eines davon. Alle Vorurteile über die Menschen dort werden bestätigt, bis langsam unter dem Klischee doch sehr liebenswerte Individuen auftauchen. Die Geschichte lebt vom Sprachwitz, von Wortspielen, der Intertextualität und der Vielschichtigkeit der Erzählung. Hier spricht der Kabarettist und Liedermacher und er mildert so die düstere Kritik an der Provinz. Der Protagonist blickt mit einem gehörigen Schuss Selbstmitleid und einer Mischung aus Verzweiflung und hintergründigem Humor auf sein Leben. Er ist voll von Vorurteilen des Städters gegenüber der Landbevölkerung. Verschlossenheit, Ignoranz, rechtsradikale Neigungen, der »strukturelle Rassismus« der Provinzler: All das stürzt auf ihn ein – und so sitzt er allein im verfallenden Gasthof und tut sich leid. Doch er hat auch treue Freunde, lernt einige Dörfler besser kennen und es zeigen sich positive Seiten: Es gibt ein großes Dorffest – Asterix lässt grüßen –, am Schluss sind alle versöhnt, serviert wird zwar kein Wildschwein am Spieß, aber doch Würstchen und Schweinebraten. Die Nazis sind abgehauen. Der gruselige Titel sollte niemanden abschrecken, der Roman ist eine Art Liebesgeschichte: »Ich liebe Menschen« – nicht alle, aber es gibt genug liebenswerte, auch in Ostsachsen. Und so wird das Buch doch noch eine Liebeserklärung an die Provinz. Joachim Schwend

Tarana Burke

Tarana Burke

Unbound. My Story of Liberation and the Birth of the Me Too Movement. London: Headline 2021. 260 S., 14,99 £

Tarana Burke.

Ermächtigung durch Empathie: Das ist das Motto der US-amerikanischen Gemeinschaftsorganisatorin Tarana Burke. Sie gründete die #MeToo-Bewegung, die 2017 nach dem Aufruf der Schauspielerin Alyssa Milano sexualisierte Gewalt zum Thema einer nachhaltigen internationalen Debatte machte. Ihr Buch »Unbound« ist also ein autobiografisches Werk. In zwanzig Kapiteln schildert Burke ihre Erfahrungen mit Rassismus und Sexismus – die zwei sind für sie fest miteinander verwoben. Zudem liefert Burke Einblicke über das Leben in der schwarzen US-amerikanischen Community, von Armut und Stigma, aber auch über sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Frauen innerhalb der Community, den kollektiven und persönlichen Umgang damit. Das Stichwort #MeToo (ich auch) soll ein Miteinander unter Betroffenen sexualisierter und anderweitiger Gewalt herstellen. Empathie ist die stärkste Heilung für Menschen mit Traumata, und es gibt keinen anderen Weg, um sicherzugehen, dass das Gegenüber dieses Trauma auch versteht – das ist nur durch eigene Erfahrung möglich, so Burke. Auch ihre Traumata werden im Buch sichtbar durch die Schilderungen der Gewalt, die ihr als Kind angetan wurde. Diese sind nicht nur körperlich, und so handelt auch ein Kapitel von der zerstörerischen Kraft des Wortes »hässlich«. »Unbound« setzt kein Vorwissen über die schwarze US-amerikanische Community voraus. Das Buch ist momentan nur auf Englisch erhältlich, die Sprache ist allerdings leicht und verständlich. Sibel Schick

Shinroku Shimokawa

Shinroku Shimokawa

Man kann keine Steine essen. Kochbuch eines japanischen Bildhauers. Stuttgart/Basel: Prima Publikationen 2021. 240 S., 35 €

Shinroku Shimokawa.

Die vier Jahreszeiten in den Fokus eines Kochbuchs zu stellen, ist nicht ungewöhnlich. Aber dass sich mit dieser Gliederung ausgerechnet ein Bildhauer ins Metier wagt, der sonst harten Steinen statt rohen Lebensmitteln eine neue Form gibt, lässt aufmerken. Kunst und Kochen also. Dass es sich bei der Speisenzubereitung als schöpferische Tätigkeit durchaus um eine bildende Kunstform handelt, mag manchem Banausen als kühne These erscheinen – doch Peter Granser, Verfasser des Vorworts, behält recht, denn sowohl beim Kochen als auch in der Kunst geht es um Formen, Farben und Materialität. Kein Wunder also, dass der Autor vor dem Angeln erst mal einen skulpturalen Grill baut. Essen in Japan bedeutet in jeder Hinsicht eine Erweiterung des kulinarischen Horizonts, gehört zur japanischen Küche doch weit mehr als Sushi und Ramen. Man erfährt zum Beispiel, dass Katsuobushi, das getrocknete Filet vom Bonito-Thunfisch, als das »härteste Lebensmittel der Welt« gilt. Und während Raps hierzulande oft nur zu Öl gepresst wird, beschreibt der Autor, wie sich auch Knospen und Stiel als Beilage zu grünem Spargel im Frühling verarbeiten lassen. Zum Teriyaki-Fisch empfiehlt er Adlerfarn, zum Gurkensalat Essig-Sojasauce. Und wer im Herbst gegrillten Fisch oder Salzpflaumen mit Reis zu Onigiri formt, hat damit ein typisch japanisches Essen zum Mitnehmen in der Hand. Beim Reiskochen rät Shinroku, Wassermenge und Garzeit individuell der Reissorte, deren Alter, dem zur Verfügung stehenden Herd und sogar dem Topf anzupassen. Neben der Zubereitung geht es in den kurzen Texten stets auch um die Art, jeder Speise den optimalen Rahmen zu geben: Bei Misosuppe übernimmt das Wan, eine lackierte Schale aus Holz, überzogen mit wertvollem Urishi-Lack. Sehr schöne, oft freigestellte Fotos von Shinroku zeigen anschaulich, wie die Gerichte im Original aussehen. Der 1979 in Tokio geborene Japaner hat übrigens an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart studiert. (...) Petra Mewes

Hervé Guibert

Hervé Guibert

Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin: August Verlag 2021. 280 S., 20 € / Zytomegalievirus. Krankenhaustagebuch. Aus dem Französischen und mit einem Kommentar von Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin: August Verlag 2021. 80 S., 10 € / Verrückt nach Vincent / Reise nach Marokko. Aus dem Französischen von JJ Schlegel. Berlin: Albino Verlag 2021. 180 S., 20 €

Hervé Guibert.

Vor 30 Jahren starb der schwule französische Autor, Fotograf, Filmemacher und Kritiker Hervé Guibert; er war an AIDS erkrankt und nahm sich das Leben, bevor die Krankheit ihm ein Ende setzte. Vier seiner Werke wurden nun neu aufgelegt beziehungsweise erstmals auf Deutsch übersetzt. Die beiden aufeinander Bezug nehmenden Erzählungen »Verrückt nach Vincent« und »Reise nach Marokko«, übersetzt von JJ Schlegel, erschienen in einem Band im Albino Verlag. Dass dieser auf ein Vor- oder Nachwort verzichtet hat, ist schade, denn gerade diesen Werken, in denen mit einer auf Kinder und Jugendliche gerichteten Sexualität kokettiert wird, Grenzen mäßig konsensuell überschritten und, teils mit rassistischem Vokabular, Orient-Projektionen aufgerufen (und dekonstruiert) werden, hätte eine Form der Einordnung gutgetan. Zum Einstieg in Guiberts Werk, das zu lesen sich definitiv lohnt, empfehlen sich eher die Veröffentlichungen des August Verlags, die lakonisch, dringlich, zärtlich die Themen AIDS und Freundschaft, Tod und Krankenhausrealität verhandeln (und dabei mit einem von Wildtieren stammenden Virus, der Angst, die Geliebten anzustecken, und der Hoffnung auf einen Impfstoff beim Lesen eine Art Déjà-vu produzieren); und auch das bereits 2017 bei Diaphanes erschienene, von Katrin Thomaneck übersetzte Buch »Meine Eltern« soll hier genannt sein. In all diesen autofiktionalen, teils tagebuchhaften Werken Guiberts sind es seine Sprachgewandtheit (und die seiner Übersetzer:innen), seine traurige, komische Selbstironie und verzweifelte Übertreibung (eine »astronomische Menge Blut« wird abgezapft, einem »fanatischen Zitronenkonsum« sich hingegeben) sowie die Bereitschaft zur Offenlegung seiner selbst, die ihren literarischen Reiz ausmachen, Rausch und Nähe provozieren. Dass Guibert sein eigenes Leben und Sterben so schonungslos als Material für seine Werke nutzt, hat allerdings die Kehrseite, dass auch die der anderen mitverarbeitet werden. (...) Anna Kow

Marlen Pelny

Marlen Pelny

Liebe / Liebe. Wien: Haymon Verlag 2021. 216 S., 19,90 €

Marlen Pelny.

»Ich fühlte mich belagert und eingekreist von einem fiebrigen Etwas, das sich klebrig an mich presste und nicht mit sich reden ließ.« Sascha findet keine Sprache für das, was ihr geschieht. Sie wächst in einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt auf, mit einer Mutter, die zwar physisch da, ansonsten aber komplett abwesend ist, die meiste Zeit am Fenster steht und Ausschau nach dem Vater hält. Es herrschen aggressive Sprachlosigkeit und stumme Gewalt. Niemand erklärt irgendetwas und Sascha stürzt in eine Verzweiflung, die sie nicht begreift. Warum tun die Besuche bei Papa immer so weh und warum tut Mutter nichts, auch dann nicht, wenn der Vater zurückkommt und aus den schmerzlichen Besuchen eine allabendliche Tortur wird – Papas »Gute-Nacht-Kuss«? Sie hat es doch gesehen. »Liebe / Liebe« ist eine brutale wie zarte Erkundung dessen, was sich hinter diesem Wort alles verbergen kann. Die Trennung im Titel ist programmatisch. Denn nachdem Sascha mit 14 Jahren zu ihrem Großvater kommt, fängt sie an zu begreifen – was ihr geschehen ist und dass es auch anders geht. Sie findet eine liebevolle neue Familie bei dem Großvater, der ebenfalls einen Wandel hinter sich hat, mit dem Hund Rosa und ihrer Freundin Charlie. Weit weg von der Vergangenheit, die sie dann doch einholt und mit der sie als junge Erwachsene noch einmal konfrontiert wird. Marlen Pelny hat eine Coming-of-Age-Geschichte geschrieben, über verletzte Heldinnen, die den Mut aufbringen, mit den Narben der Vergangenheit zu leben. Sie schafft eine durchdringende wie poetische Sprachwelt, die nah an ihrer Figur ist. Auch wenn manchmal zu viel Pathos mitschwingt und die Bewältigung der Vergangenheit Spuren einer fast filmischen Action-Inszenierung trägt, mit Selbstjustiz, Rache und klarer Trennung zwischen Gut und Böse, ist es eine im besten Sinne verstörende Lektüre über familiäre Abgründe, die zugleich ermutigen will, Wege heraus zu finden Martina Lisa

Blai Bonet

Blai Bonet

Das Meer. Aus dem Katalanischen von Frank Henseleit. Köln: Kupido 2021. 273 S., 27,80 €

Blai Bonet.

In diesem Jahr ist erstmals eine deutsche Übersetzung von Blai Bonets 1958 erschienenem katalanischem Roman »El Mar« veröffentlicht worden, und schon nach den ersten Seiten fragt man sich: Warum zur Hölle erst jetzt?! Vielleicht eine Bestätigung des kulturpessimistischen Gejammers jener Miesepeter, die in Anbetracht des massenhaft verlegten und rezipierten Schnotters an zeitgenössischer Popliteratur lieber zu den Klassikern aus einer idealisierten Vergangenheit greifen, als die kulturindustrielle Gehirnwäsche noch keine totalitäre Reichweite hatte? Mag sein. In jedem Fall aber wird uns ein Meisterwerk geschenkt, das man unbedingt lesen sollte und immer wieder lesen möchte. Etwas ganz Großes, bei dem der Vergleich mit Pasolini oder der radikalen französischen Literatur durchaus angemessen ist – hier scheint eine Qualität des Heiligen auf, die nichts mit der armseligen Bigotterie der institutionalisierten Religionen zu tun hat. Im Rausch der Lektüre erlebt man in einem der Zeit enthobenen Anti-»Zauberberg« Leiden und Sehnsüchte schwer kranker Jugendlicher in einer mallorquinischen TBC-Klinik während der faschistischen Okkupation. Diese siechen körperlich dahin, ersticken an ihren psychischen Traumata, versuchen im fiebrigen Delirium Gott, ihre Schuld, den Schmerz, das Leben und den Tod zu ergründen, aber zugleich bemerken sie auch ihre heranwachsenden Körper und kommen sich erotisch näher. Nichts ist dabei klar, die außergewöhnliche Sprache überwältigt mit poetischen Landschaftsbildern, dunklen Rückblicken, erratischen Spekulationen und opaken inneren Monologen, in der sich eine ekstatische Intensität verdichtet, die am Kern der Existenz rührt. Thorsten Bürgermann

Ciani-Sophia Hoeder

Ciani-Sophia Hoeder

Wut und Böse. München: Hanser 2021. 206 S., 18 €

Ciani-Sophia Hoeder.

Die Wut meiner Mutter bahnte sich ihren Weg durch den gesamten Laden, und das Gesicht ihres Gegenübers wurde hart, kalt und distanziert. Niemand hörte mehr zu.« So erinnert sich Ciani-Sophia Hoeder in »Wut und Böse« daran, wie ihre Mutter einst zu Recht wütend wurde, ihre Emotion aber als Ausrede diente, ihr nicht zuzuhören. Diese Delegitimierung der Wut und ihre Folgen für Betroffene ziehen sich als roter Faden durch das Buch. Hoeder ist die Gründerin des Rosamag, des ersten deutschsprachigen Magazins für Schwarze FLINTA* (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche sowie nichtbinäre und trans oder agender Personen). Ihr erstes Buch »Wut und Böse« handelt vom Potenzial und Stigma von Wut. Sie nimmt den abwertenden Umgang mit Wut von Frauen und mehrfach marginalisierten Gruppen auseinander und ordnet ihn diskriminierungskritisch ein: So könne sich zum Beispiel eine lächelnde Frau nicht gegen sexuelle Belästigung wehren. Unter sechs Gesichtspunkten nimmt Hoeder die unterschiedlichen Fragen, die Wut betreffen, unter die Lupe. Biologisch, psychologisch und politisch ordnet sie die Wut als Emotion und Tool ein. Anschließend geht sie auf die Spurensuche weiblicher Wut und wütender weiblicher Vorbilder, wie zum Beispiel Rosa Parks. Intersektionalfeministisch macht sie die Beziehung zwischen Wut und Diskriminierung sichtbar. »Wut und Böse« ist ein Aufruf, Wut umzudefinieren und aufzuwerten. Dafür macht Hoeder in klarer und zugänglicher Sprache für die Lesenden verständlich, wozu Wut gut und notwendig ist. Sie schildert ihre persönlichen Erfahrungen und die anderer, ordnet diese mit Hilfe von Expertinnen und wissenschaftlichen Studien politisch ein. Das 14 Seiten starke Quellenverzeichnis ist zudem eine gute Sammlung von Texten zum Thema. Sibel Schick

Joseph Ponthus

Joseph Ponthus

Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik. Aus dem Französischen von Mira Lina Simon und Claudia Hamm. Berlin: Matthes & Seitz 2021. 239 S., 22 €

Joseph Ponthus.

Der französische Schriftsteller Joseph Ponthus erzählt in seinem autofiktionalen Text »Am laufenden Band« keine gute Geschichte – weder in Inhalt noch Form. Er schreibt vielmehr freie, ja wilde Stakkatoverse über seine Erfahrungen bei einer Zeitarbeitsfirma. Lesende tauchen ein in den Kosmos von Fisch-, Tofufabrik und Schlachthof. Es geht um Kollegialität, Frust, Müdigkeit, Monotonie, Kälte und die paradoxe Angst, zu versagen und den knechtenden Job zu verlieren. »Es gibt die Rückenschmerzen und die Erschöpfung, aber auch die Freude.« Arbeit prägt jeden von uns, Arbeit muss durchgehalten werden. Außerdem hängen mit der Arbeit bekanntlich die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsverhältnisse zusammen. Verhältnisse, mit denen es mancherorts nicht zum Besten steht. Seine bedrückenden Erfahrungen würzt Ponthus allerdings nur sparsam mit Klage und Marx, dafür etwas reichlicher mit melancholischem Humor, Apollinaire und Perec. Ein ambivalenter, ein kluger Schachzug. Nein, das Thema Arbeit und Arbeiterliteratur ist noch nicht durch – das wenigstens scheint die Meinung des Autors gewesen zu sein, der man sich nur anschließen kann. Solche Ausführungen braucht es in Zeiten, in denen über bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert wird, nach wie vor. Leider ist Ponthus im Februar 2021 an Krebs verstorben. »Am laufenden Band« ist vielleicht kein schönes Buch – besonders und besonders empfehlenswert ist es dafür umso mehr. Juliane Zöllner

Tsitsi Dangarembga

Tsitsi Dangarembga

Überleben. Aus dem Englischen von Anette Grube. Berlin: Orlanda 2021. 376 S., 24 €

Tsitsi Dangarembga.

Hierzulande ist Simbabwe aufgrund der Dauerregentschaft Robert Mugabes bekannt, der Jahrzehnte nach dem Sturz des von der Apartheid gezeichneten Rhodesien das Land als greiser Diktator an den Rand des Kollaps brachte. Im dritten Teil von Tsitsi Dangarembgas Trilogie über eine Simbabwerin, die sich nun im mittleren Alter durchs Leben schlägt, werden die desaströsen und gewaltvollen Zustände vor Ort zum Gegenstand einer gerade durch ihre Alltagsnähe deprimierenden Story: Tambudzai, die in tribalen Dorfstrukturen aufwuchs, im Unabhängigkeitskrieg kämpfte, sich zur Akademikerin hochgearbeitet hat, ist trotzdem arbeitslos oder permanent davon bedroht. Sie lebt erst mittellos in einem schäbigen Hostel in Harare, nach einem Nervenzusammenbruch bei ihrer Schwester auf dem Land. Getrieben von ihrem starken Willen, wieder auf die Beine zu kommen, nimmt sie, die sich selbst nur depersonalisiert anspricht, jede Entbehrung und Demütigung in Kauf: »Du musst dich mit dem begnügen, was du hast, und damit, um wie viel besser es ist als dort, wo du gewesen bist.« Schließlich findet sie einen neuen Job bei einer hippen, gegreenwashten Tourismusagentur, die für reiche Europäer pseudoauthentischen Urlaub im urbanen Ghetto oder im exotischen Dorf anbietet. Tambudzai muss für ein bisschen bürgerlichen Wohlstand alles vermarkten, was ihre Identität als schwarze Frau mit stammeskulturellen Wurzeln ausmacht – bis ihre Selbstverleugnung erneut mit den Realitäten kollidiert. Der episodische Charakter der stilistisch leider nicht immer ganz überzeugenden, aber vom Sujet her sehr lesenswerten Geschichte gewährt zwar eine breite Varianz an realistischen Einblicken in die Antagonismen der modernen simbabwischen Gesellschaft, er ist gleichwohl aber auch die große erzählerische Schwäche des dadurch zerfallenden Romans. Thorsten Bürgermann

Claire-Louise Bennett

Claire-Louise Bennett

Kasse 19. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Berlin: Luchterhand 2023. 304 S., 22 €

Claire-Louise Bennett.

Wer Bücher für ihren Plot liest, ist hier an der falschen Adresse. Wer für Bücher und ebenso wegen ihnen lebt, findet in Claire-Louise Bennett eine zuverlässige Komplizin. Die Wahl-Irin widersetzt sich für »Kasse 19« allen Erwartungen, die der gegenwärtige Bildungsroman aufruft. Zugleich schreibt sie somit »den« modernen Bildungsroman. Ihre Methode ist jedoch kein Formexperiment der Moderne, vielmehr geht es hier um die Erfahrbarkeit des Schreibens und das Schreiben als Erfahrung. Das Buch gibt die Gedankenwelt eines heranwachsenden Mädchens wieder, ihr Entdecken der Literatur, ihre ersten Schritte als Autorin. Es kartografiert das Schreiben als Gedankenstrom. Autofiktionales vermischt sich mit Kurzprosa, Literaturkritik und Auflistungen. In mehreren Vignetten folgen die Lesenden der Protagonistin, die im Roman abwechselnd in der ersten Person – mal Singular, mal Plural – erzählt oder nur als »sie« erscheint. Ihre Gedankenwelt ist ein Sog: In »Kasse 19« entstehen Wortneuschöpfungen, verwirren sich innere Monologe, werden zu Dialogen, spiegeln sich Gedanken und Gedankensprünge. Die Erzählsprache des Romans ahmt das Entdecken der Befähigung nach, sich selbst auszudrücken: Zu Beginn erscheint die Prosa als hastige Notizen und Gedankenströme, sie reift erst über die Leseerfahrung der Protagonistin und mit ihrem Entdecken weiterer Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Schließlich entsteht eine sichere Stimme, die gegen Ende des Buches schockiert, überrascht und sofort zum Wiederlesen animiert. Passenderweise stellt Claire-Louise Bennett als Credo einen Auszug aus Ingeborg Bachmanns »Malina« voran: »Ausdruck ist Wahn, entspringt aus unserem Wahn« – und für diesen hätte Luchterhand keine bessere Übersetzerin engagieren können als Eva Bonné. Marcel Hartwig

Stéphane Courtois, Galia Ackerman (Hg.)

Stéphane Courtois, Galia Ackerman (Hg.)

Schwarzbuch Putin. München: Piper 2023. 512 S., 26 €

Stéphane Courtois, Galia Ackerman (Hg.).

Ein Schwarzbuch ist Anklageschrift, Sündenregister und Kriminalakte. Es gibt Dutzende Schwarzbücher zu Ideologien, Staaten oder Religionen – nur wenige zielten auf eine Person. Der Gewaltherrscher und Kriegstreiber Putin verdient diese negative Auszeichnung zweifellos. In »seinem« Schwarzbuch findet sich neben dem langen Kerbholz kühl kalkulierter Verbrechen ein krasses Psychogramm, das allen Illusionen über rationale Verständigung mit diesem Regime ein Ende setzen sollte. Die Herausgeber des sehr informativen Sammelbandes sprechen von »Wahnvorstellungen« und »Phantasmen« eines gekränkten, hasserfüllten Mannes, der an sein Gerede über die Mission einer »Russischen Welt« glaube. Putin sei der Meister der Bewirtschaftung von Ressentiments und Traumata seines Volkes, meint der Historiker Karl Schlögel. In und mit dem blassen Ex-Geheimdienstoffizier bildete sich eine Giftmischung aus KGB-Methoden, mafiöser Bandenstruktur, totalitärem Machtwillen und reaktionären Narrativen. Dass Putin jegliche liberale Ordnung zum Kampf herausfordert, beeindruckt auch hierzulande viele Verächter der Demokratie, die auf ihren Führer warten – heim ins Zarenreich, sozusagen. Die 24 gut portionierten Essays beleuchten innere und äußere Aspekte einer neo-imperialen Diktatur, deren Wesen die Unterdrückung, Aggression und Expansion ist. Im Detail werden die Angriffe beschrieben, bei denen der Westen hätte aufwachen müssen: Grosny, Georgien, Krim, Syrien, Donbass … Der Ausblick des Buches prophezeit bald fällige Machtkämpfe in Moskau, denn Putin dürfe seine sträfliche Unterschätzung der Ukraine nicht eingestehen. Er sei inkompetent und werde scheitern, sei aber bereit, dabei Russlands Zukunft zu zerstören. Die Hoffnung auf »dynamische neue Kräfte« nach seinem Sturz bleibt diffus. Sven Crefeld

D Hunter

D Hunter

Auf uns gestellt. Armutsklasse, Trauma und Solidarität. Aus dem Englischen von Isabelle Suremann. Hamburg: Edition Nautilus 2023. 256 S., 20 €

D Hunter.

»Auf uns gestellt« erzählt davon, wie Menschen zerstört werden. Von herrschaftlichen Strukturen und den davon bereits Beschädigten, die diese Beschädigung an ihre Nächsten und Nachkommen weitergeben. Was dadurch entsteht, ist weniger ein Kreislauf als ein Geflecht der Gewalt, in dem Handlungen, die dem (gemeinschaftlichen) Überleben und dem Erhalt der eigenen Würde dienen, und Handlungen, die die Gewaltgeschichte fortschreiben, manchmal ein und dasselbe sind. D Hunter, der in Verhältnissen »unterhalb der Arbeiterklasse« aufwuchs, fing in der Psychiatrie an zu lesen; sein erstes, im Selbstverlag herausgebrachtes Buch »Chav Solidarity« stieß auf große Resonanz. »Auf uns gestellt« kombiniert Theorie und persönliche Erfahrung zu einer Form der Autoethnografie. Dabei verweigert sich Hunter einer Einordnung in Gut und Böse – sowohl, was die Menschen in seinem Leben, als auch, was ihn selbst angeht. Sein Buch fordert heraus, nicht nur wegen der darin geschilderten Brutalität, sondern auch weil der Autor das Konzept der individuellen Verantwortung, der Individualität als Ideal überhaupt, begründet in Frage stellt. Seine These lautet, dass die strukturelle und konkrete Gewalt, der Angehörige der Armutsklasse ausgesetzt sind, bewusste Entscheidungen nahezu verunmöglicht. Das Gefängnissystem trägt indes nicht zur Heilung bei, sondern verfestigt die Logik der Unterdrückung. Hunter sieht die einzige Lösung daher im Ansatz der transformativen Gerechtigkeit, einem Community-basierten Konzept, das Sicherheit, Reparation und kollektive Transformation ohne Anrufung der Staatsmacht zu erlangen versucht. Seine Frage lautet nicht: »Wie kommt es, dass jemand kriminell und/oder gewalttätig wird?«, sondern: »Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, dass man es nicht werden muss, und wie sehr haben diese Bedingungen mit der Ungleichverteilung von Ressourcen in unserer Gesellschaft zu tun?« Unbedingt lesenswert. Anna Kow

Penelope Mortimer

Penelope Mortimer

Bevor der letzte Zug fährt. Aus dem Englischen von Kristine Kress. Zürich: Dörlemann 2023. 225 S., 26 €

Penelope Mortimer.

Eine Frau hat ihre Söhne zum Internat begleitet und ist nebst Einkäufen zurück in ihren Londoner Vorort gefahren. Das Haus ist leer, Tochter Angela winkte soeben von einer wegfahrenden Vespa. Die Hauptfigur gießt sich einen Drink ein und beginnt ein Selbstgespräch. »Natürlich mussten wir heiraten«, sagt sie. »Vermutlich hätten wir trotzdem glücklich werden können. Aber wir waren es nie. Ich glaube, wir hassen uns.« Ruth Whiting, 37 Jahre alt, wird langsam verrückt ob ihres Alltags. Sie ist einsam und nur zu sich selbst ehrlich. Das Leben in der Idylle verdammt zur Unfreiheit. Die Männer der Kommune arbeiten in der Londoner City und kommen nur am Wochenende heim, die Kinder wachsen in Internaten auf. Geld und Bewegungsradius der Frauen sind limitiert und überwacht. Die Nachmittage sind länger als die Nächte. Sherry hilft nur mäßig. Penelope Mortimer schrieb Drehbücher, drei Romane und eine Autobiografie, zog sechs Kinder groß und war zweimal verheiratet. 1958 veröffentlichte sie 40-jährig ihren zweiten Roman unter dem Titel »Daddy’s Gone A-Hunting«, ins Deutsche übertragen von Kristine Kress als »Bevor der letzte Zug fährt«. Aus den Selbstgesprächen Ruths und den Dialogen mit ihrem stets genervten Ehemann, ihrer rebellischen 18-jährigen Tochter und der in Babysprache plappernden Nachbarin entsteht eine albtraumhafte Realität in lieblicher Landschaft. Bittersüß zynisch in modernes Deutsch übertragen, erzählt uns der Roman ein halbes Jahr des Lebens einer Frau, die sich scheinbar aufgegeben hat. Doch Angela wird ungewollt schwanger. Ruth erkennt die Chance, ihrem Kind einen anderen Weg zu ebnen. Sie erwacht. Ein emanzipatorisches Buch, zeitlos und beglückend in seiner Direktheit Anne Hahn