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Rezensionen

Benedict Wells

Benedict Wells

Hard Land. Zürich: Diogenes 2021. 352 S., 24 €

Benedict Wells.

Man kann »Hard Land« als Hommage an das Coming-of-Age-Genre oder als hübsch arrangierten Flickenteppich aus Diebesgut verstehen. So lassen sich unübersehbare Anlehnungen an Werke wie Stephen Chboskys »Vielleicht lieber morgen« (engl.: Perks of being a wallflower) oder Christian Krachts »Faserland« vorfinden. Die Zutaten des Romans sind simpel. Man nehme: einen Außenseiter einer US-amerikanischen Kleinstadt der Neunziger, der sich mit ein paar älteren coolen Kids anfreundet und nun den Sommer seines Lebens erlebt. Den ersten Kuss, Mutproben, Drogenkonsum, lauter Anspielungen auf literarische Werke, Filme und Songs. Natürlich gibt es einen Bully, den es zu besiegen gilt. Natürlich fertigt der Außenseiter in diesem Sommer seiner Angebeteten ein Mixtape an. So ähnlich kennen wir das schon aus »Vielleicht lieber morgen«. Durch das Werk von Wells zieht sich außerdem ein Faible für erste Sätze von Romanen, und so bedient sich der Autor für den Beginn seines Werkes an »Salzwasser« (engl.: Salt Water) von Charles Simmons: »In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.« Wie durch diesen Satz angekündigt, wird in »Hard Land«, abgesehen von den ersten Erfahrungen der Jugend, auch sehr berührend das Beziehungsgeflecht der Familie geschildert: der Umgang mit der Krankheit der Mutter sowie der Versuch von Vater und Sohn, das brüchige Verhältnis auszutarieren. Mit seinem Stil passt sich Wells der jugendlichen Sprache des Erzählers an, nutzt humorvolle Metaphern und leicht verständliche Sätze, die jedoch hin und wieder zu poetisch für die jungen Menschen daherkommen. Trotz allen Diebesguts: Vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene bietet »Hard Land« großes Identifikationspotenzial. Eine wunderbare Lektüre, um jederzeit in den Sommer des Lebens einzutauchen. Michelle Schreiber

Armin Strohmeyr

Armin Strohmeyr

Ferdinandea. Die Insel der verlorenen Träume. Konstanz: Südverlag 2021. 376 S., 24 €

Armin Strohmeyr.

Der 15.7.1831 war ein ganz normaler Tag auf Sizilien, bis die braven Bürger Sciaccas draußen vor der Küste das Unvorstellbare beobachten. »Das Wasser schien zu brodeln. Hin und wieder schoss eine Fontäne empor und ging zischend nieder, während die Rauchsäule immer dicker wurde (…). Tote Fische trieben zu Tausenden umher, die Mäuler aufgerissen, die Augen stier ins Nichts gerichtet.« Was sich da aus dem Meer erhebt, sei mitnichten das Jüngste Gericht, wie Pfarrer Don Sebastiano meint, sondern eine vulkanische Insel. Viel her macht sie nicht, »Geröll« und »Schutt« und der Gestank nach Schwefel sind noch die hervorstechendsten Eigenschaften des neuen Eilands. Nichtsdestotrotz entspinnt sich an dieser Insel ein verworrenes Theater mit allerlei Figuren voller teils banaler, teils politischer Interessen: Wirtin Rosalia und ihr adonishafter Bruder Angelo, Rosalias Mann Michele, deren Sohn Francesco (Achtung: ein Kuckuckskind vom Postmeister Alessandro), ein Maler aus Deutschland, ein maltesischer Kapitän, Charles Earl of Grey samt Tochter, diverse Könige, ein Polizeichef, ein Geologe und zahlreiche weitere. Sir Walter Scott geistert derweil als Person wie auch als Begründer des historischen Romans als Strohmeyrs Patron durch die Seiten. Und auch wenn der Autor sie fabelhaft auszuschmücken weiß, ragt hinter all den Figuren stumm und drohend die Mittelmeerinsel Ferdinandea als Star des Buches auf. Strohmeyrs Sprache changiert zwischen Theater und Slapstick, ohne die Glaubwürdigkeit seiner in weiten Teilen historisch verbürgten Geschichte allzu sehr zu strapazieren. Ein barockes Erzählen mit Lust an der überquellenden Sprache und bissigem Humor — ein kluger, gewitzter Roman, ein großes Lesevergnügen. Linn Penelope Micklitz

Marcel Raabe

Marcel Raabe

Die letzten Stunden Walter Benjamins. Eine Rekonstruktion und eine Wanderung. Leipzig: Trottoir Noir 2021. 334 S., 16 €

Marcel Raabe.

Die »Skizzenbücher« sind, das bewies schon »Karstadt waren wir« von Olivia Golde, kleine Schatzkisten. Das liebevolle Design, dessen Kraft in dem Zusammenspiel zurückhaltender Schlichtheit, D.I.Y.-Charme und toller Typo (Gestaltung von Reymund Schröder) liegt, trifft in diesem neuen Buch auf einen der berühmtesten Cold Cases europäischer Denkgeschichte: Trottoir Noir-Verleger Marcel Raabe versucht in akribischer Quellenarbeit, die letzten Stunden Walter Benjamins nachzuvollziehen. Zur Erinnerung: Der Philosoph und Kulturkritiker wollte 1939, nachdem er bereits 1933 ins Exil gegangen war, über Spanien und Portugal in die USA ausreisen. Ihm gelang der Grenzübertritt nach Portbou – doch in der folgenden Nacht starb er an einer Überdosis Morphium. In seinem Buch geht Raabe, der auch für den kreuzer schreibt, zwei Wege. Einem davon folgt er ganz wörtlich, der möglichen Fluchtroute, die heute ein Wanderweg ist. Und er fragt sich: »Meine Freizeitkletterei – ist sie der Tatsache, dass es sich um einen Fluchtweg um Leben und Tod handelte, eigentlich angemessen?« Den anderen geht er Wort für Wort in den Quellen, die rund um und über diese entscheidenden letzten Tage entstanden und erhalten sind: »Brieffragmente, mündliche Erzählungen, […] spät gefundene Amtspapiere, […] Lebenserinnerungen anderer«. Das Ergebnis ist ein zweigeteiltes Buch in mehreren Abschnitten. Eine kurze Beschreibung des Weges über die Grenze und Benjamins Spuren in Portbou, Fotos davon. Linksseitig dann die spannungsvolle Rekonstruktion der Ereignisse, rechter Hand kleinteilige und ausführliche Quellen. Am Schluss folgt eine fundierte Einordnung der Ergebnisse. Eine bemerkenswerte Arbeit über einen Todesfall, der zahlreichen Spekulationen unterliegt, und die es schafft, neues Licht ins Dunkel zu bringen. Linn Penelope Micklitz

Leo Gilbert

Leo Gilbert

Seine Exzellenz der Android. Ein phantastisch-satirischer Roman. Frankfurt am Main: Edition W 2023. 320 S., 25 €

Leo Gilbert.

Leo Gilbert (1861–1932) nimmt in »Seine Exzellenz der Android« die damalige Zeit aufs Korn – und liefert dabei auch einen kritischen Blick auf unsere Gegenwart. Dabei ist es erstaunlich, wie genau sich der gelernte Ingenieur Anfang des 20. Jahrhunderts einen Androiden vorstellte. Präzise werden die Rädchen und Walzen beschrieben, aus denen die menschengleiche Maschine besteht. Aber noch spannender ist das Getriebe des bürgerlichen Systems, das parallel dazu auf unterschiedliche Weise zur Schau gestellt wird. Während die eigentliche Handlung im ersten Drittel des Romans zu stagnieren scheint, entfaltet sich eine Studie über die Angewohnheiten der gehobenen Gesellschaft. Beunruhigend präzise sagt Gilbert die nur wenige Jahre auf die Veröffentlichung folgende Kriegsbegeisterung der Bevölkerung im »wohlig warmen Wolfspelz des Patriotismus und des Christentums« voraus. Der Android – wie sollte es anders sein – macht sich noch vor seinem Verkauf selbstständig, wird fortan von seiner Umwelt als Mensch verkannt und macht Karriere in Wirtschaft und Politik. Der Roman verdeutlicht dabei, dass dies nicht nur an der Perfektion der Maschine liegt, sondern vor allem an der Berechenbarkeit der Menschen. »Die Logik der Menschen […] funktioniert so mechanisch und dabei so falsch, daß ein Ingenieur sich schämen würde, eine so schlechte Maschine wie den Menschen konstruiert zu haben.« Immer wieder klingt dabei an, welch großen Schaden eine Erziehung anrichten kann, die ausschließlich auf die Vermittlung starrer Muster setzt und kritisches Denken bewusst vernachlässigt. Und das sollte uns auch heute, nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen PISA-Studie, zu denken geben. Joachim Kern

Andrus Kivirähk und Veiko Tammjär

Andrus Kivirähk und Veiko Tammjär

November. Aus dem Estnischen von Maximilian Murmann. Berlin und Dresden: Voland & Quist 2023. 144 S., 30 €

Andrus Kivirähk und Veiko Tammjär.

Die von Veiko Tammjär illustrierte Graphic Novel, die auf der erfolgreichen Romanreihe von Andrus Kivirähk beruht, porträtiert verschiedene Menschen in einem estnischen Dorf zur Zeit der deutschen Lehnsherrschaft, also irgendwann zwischen 1230 und 1561. Die von den Baltendeutschen, wie wir sie heute nennen, unterdrückte estnische Bevölkerung ist in diesem Buch selbst nicht gut oder tugendhaft. Ihre Geschichte handelt von Diebstahl und Habgier, die verarmten Bauern belügen und betrügen sogar den Teufel. Egal, welche Seite man aufschlägt: Die Bilder, die einen anschauen, sind schwarzweiß-grau-rot. Es könnten auch Scherenschnitte sein, so klar sind die Umrisse. Schlicht sind die Illustrationen dennoch nicht, denn die Lüfte sind voller Geister und in den Wäldern wimmelt es nur so von dunklen Gestalten. Alles ist beseelt. Das Wechselfieber ist eine Frau, die sich nur mit einer Flasche Schnaps am Tag bekämpfen lässt. Die schönsten Seiten des Bandes zeigen fantastische Wesen wie den hundertbeinigen Geisterluchs oder Kühe mit Flossen: »Meereskühe fressen im Winter Schnee, lecken im Sommer den morgendlichen Tau und geben mehr Milch als jedes Hausrind.« Es fällt leichter zu sagen, was diese außergewöhnliche Graphic Novel nicht ist, als was sie ist. Der Band ist nicht so politisch, wie der Klappentext vermuten lässt, stellt nicht das Verhältnis zwischen Esten und Deutschen in den Mittelpunkt. Und trotz all der Fantastik und Folklore handelt es sich bei »November« nicht um ein Märchen. Denn es fehlt die Moral von der Geschicht. Menschen ändern sich nicht, sie bleiben so düster und derb wie die Welt, in der sie leben. Eine Geschichte über dunkle Tage für dunkle Tage. Pauline Reinhardt

Jan Peter Bremer

Jan Peter Bremer

Nachhausekommen, Berlin: Berlin Verlag 2023. 208 S., 22 €

Jan Peter Bremer.

Als der sechsjährige Jan aus Westberlin ins feuchte Wendland der siebziger Jahre umgetopft wird, ist das ein Schock für ihn. Sein Vater ist ein erfolgreicher Künstler, der sich mit Frau und Sohn nach dörflicher Einsamkeit sehnt – die aber glücklicherweise regelmäßig durch befreundete linksliberale Künstler mit langen Bärten und großem Durst gestört wird. Der kleine Lockenkönig geistert derweil durchs Dorf, bewohnt von Atomkraftfreunden, Bundeswehrfans und rechtsradikalem CDU-Rattengezücht nebst ihren bösartigen Kindern. Der kleine Sprutz spürt sehr früh, was es bedeutet, ein Außenseiter zu sein. In Schule und Dorf gemobbt und wegen seiner langen Haare als schwules Mädchen gedengelt, bleibt ihm die Welt seiner Fantasie. Dabei hat er nach seinem Empfinden coole Künstlereltern, die ihn selbst bei schlechten Noten nicht verprügeln, wie das die anderen Eltern im Dorf mit ihren Kindern regelmäßig tun. Seine Eltern lieben ihn und zeigen es aller Welt – das macht es für ihn aber noch schlimmer. Dass sie ein fettes amerikanisches Auto ihr Eigen nennen und sein Vater offensichtlich viel Geld mit seiner komischen Künstlerei verdient, bringt Jan in den Augen der Dörfler dann aber doch viel Respekt ein. Haste was, biste doch was. Weil er Geschichten liebt, fängt er an zu schreiben und findet den Weg aus der Einsamkeit seiner Kindheit. In »Nachhausekommen« breitet der reife Jan Peter Bremer diese Künstlerkindheit vor uns aus. Musikalisch begleitet durch die Musik der Beatles, schweben wir in Bremers Zaubersprache übers platte Land, ab und zu tut sich ein dunkler See auf und die meisterhaft erzählte Geschichte gewinnt an Tragik, um im nächsten Satz mit einem Witz daraus zu entkommen. Frank Willmann

Necati Öziri

Necati Öziri

Vatermal. Berlin: Claassen 2023. 304 S., 25 €

Necati Öziri.

Arda liegt mit einer Autoimmunhepatitis im Krankenhaus. Sein Körper hat beschlossen, die eigene Leber anzugreifen. Ob oder wie viel Zeit ihm noch bleibt, ist unklar. Als Erzähler wendet er sich deswegen an seinen Vater Metin, einen ehemals militanten Sozialisten, der die Familie kurz vor Ardas Geburt verlassen hat. Er lässt sein Leben für den Vater Revue passieren: von einer Kindheit inmitten der Pulverfass-Beziehung zwischen Mutter Ümran und Schwester Aylin bis zum Erwachsenwerden auf der Bank vor dem Bahnhof, umgeben von Freunden und dem Geruch von Marihuana. Unterbrochen werden Ardas Erinnerungen immer wieder von Mutter und Schwester, die ihn regelmäßig – aber nie gleichzeitig – im Krankenhaus besuchen und auf diese Weise ihre Geschichten mit einweben. Dabei erzählt der Roman nicht nur von einer zerrütteten Familie. Es geht um Naturkatastrophen, um den Tod. Darum, wie die eigene Abiturientenstimme bei einer Polizeikontrolle die Rettung ist, bei einem Stück von Goethe aber versagt. Wie man einen Döner richtig isst und hausgemachte Mayonnaise zubereitet. Und darum, was noch schlimmer ist, als in diesem Land zu leben und nicht den richtigen Pass zu haben, nämlich: gar keinen zu haben. Nicht mal einen Monat nach seinem Erscheinen stand »Vatermal« schon auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, schaffte es später weiter auf die Shortlist. Es ist der erste Roman des Dramaturgen Necati Öziri, der unter anderem zwei Jahre lang die Studiobühne des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin leitete. Und Theater merkt man seinem Buch auch an, das zu einer großen Bühne für Russen und Gabbas, Teyzes und Amcas, Kartoffeln und Bio-Deutsche wird. Sarah El Sheimy

Jane Campbell

Jane Campbell

Kleine Kratzer. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. München: Kjona 2023. 190 S., 23 €

Jane Campbell.

Frauen altern anders als Männer, ältere Frauen sind als literarisches Subjekt unterrepräsentiert. Tauchen sie in Romanen und Kurzgeschichten auf, werden sie häufig stereotyp und unterkomplex dargestellt. Nicht so in »Kleine Kratzer«. Bei Erscheinen ihres literarischen Debüts war Jane Campbell 80 Jahre alt. In 13 Kurzgeschichten schreibt sie über Frauen ab 70, die ihrer Umwelt neu begegnen. Ihr Leben lang eingebettet in klassische heteronormative Familienstrukturen, wagen sie in den Geschichten den Auf- und Ausbruch. Alle sind sie Frauen, die sich zur Wehr setzen und selbst über ihr Leben bestimmen wollen, soweit es ihnen in den durch Familie und Gesellschaft beengten Strukturen noch möglich ist. In der Kurzgeschichte »Susan und Miffy« heißt es: »Die Lust eines alten Mannes ist abstoßend, aber schlimmer noch ist die Lust einer alten Frau. Das weiß jeder, Susan wusste es allemal.« Susan gelingt es, derart tief verankerte vermeintliche Gewissheiten zu überwinden. Im Pflegeheim wächst sie über ihre gelebten Erfahrungen hinaus, sprengt ihren vorgesehenen Rahmen – und verliebt sich in Miffy. Doch ihr Verliebtsein stößt auf Ekel. Das Nicht-Vorgesehene darf nicht sein, existiert für die anderen nicht. Aber das Glück hält sich für Susan bis zum letzten Atemzug. Campbells Texte nehmen unerwartete, jedoch stets glaubwürdige Wendungen, ihr Ton changiert zwischen Humor und Melancholie. Hier erobern und erhalten sich alte Frauen ihre Würde bis zum Schluss und zeigen, dass ein hohes Alter keineswegs unsere Gefühlspalette dezimiert – und auch nicht unsere Wünsche und Sehnsüchte. Suse Schröder

Zoltán Danyi

Zoltán Danyi

Rosenroman. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Berlin: Suhrkamp 2023. 441 S., 26 €

Zoltán Danyi.

Im 13. Jahrhundert ist der Rosenroman ein in Versform verfasster Roman, der die Liebe thematisiert. Er gilt als das erfolgreichste Werk mittelalterlicher französischer Literatur. Im Jahr 2023 dreht sich nun Zoltán Danyis »Rosenroman« um die Zeit nach einer verlorenen Liebe. Er spielt nicht in Frankreich, sondern in Serbien, genauer gesagt in der Vojvodina. Als kleine Reminiszenz an den französischen Rosenroman ist die verlorene Geliebte hier eine halbe Französin beziehungsweise eine in Serbien geborene Ungarin, deren Eltern zu Beginn der Jugoslawienkriege mit ihr geflohen sind. Sie kehrt nach dem Krieg für eine Weile nach Serbien ins Haus ihrer Familie zurück, weil ihr etwas in ihrem Leben fehlt – vielleicht die alte Heimat. Und sie verliebt sich in einen schweigsamen Rosenzüchter, mit dem sie sich endlich ihren Kinderwunsch erfüllen könnte. In Serbien, diesem Nichtland, vollgestopft mit Kriegsverlierern. Der Mann konnte dem Kriegsdienst in Jugoslawien und womöglich dem schnellen Heldentod dank des Geschicks und der Rosen seines Vaters entrinnen. Es kostete den Vater 4.000 Rosenstöcke. Hier verlorene Heimat, dort verhinderter Heldentod. Beide entwurzelt, wie die Rosen, die man im Herbst aus der Erde holt. Traumata und Zwangsstörungen, in jeder geschnittenen und verkauften Rose steckt ein Stück Krieg. Bereits im ersten Satz der Lebensbeichte des Erzählers steckt seine Tragik: »Ich stand am Fenster und wartete, dass die Sonne unterging, denn das war die Regel, und wenn ich nicht wollte, dass etwas Schlimmes geschah, musste ich warten, bis sie untergegangen war.« Der von Terézia Mora übersetzte Roman ist reich an schönen Sätzen, die von der Unmöglichkeit des Glücks in Zweisamkeit handeln. Oder vom Segen des Schmerzes und des Alleinseins. Frank Willmann

Christina Clemm

Christina Clemm

Gegen Frauenhass. München: Hanser Berlin 2023. 256 S., 22 €

Christina Clemm.

Nehmen Sie Ihre Haarbürsten in die Hand, liebe Lesende, Sie haben eine neue Frisur nötig. Mein Vorschlag: Schütteln Sie den Kopf, toupieren Sie – ja, bürsten Sie die verdammte Wolle auf Krawall! Und dann? Ja, dann können Sie sich meinetwegen fragen, warum Ihre Haare aufrecht stehen. Brauchen Sie einen guten Grund dafür? Besorgen Sie sich »Gegen Frauenhass« von Christina Clemm. Die Autorin ist Rechtsanwältin und schreibt über Femizide, sexuelle Gewalt und Misogynie. Sie kann mit Fakten und komplexen Einblicken aufwarten, hat Hunderte Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt vor Gericht vertreten. So schreibt sie, dass es mehr Femizide gibt, als die Behörden und auch sonst die meisten Menschen wahrhaben wollen, dass Misshandlungen in allen Bevölkerungsschichten und -gruppen geschehen – dass auch deutsche Hochschullehrer und Ärzte ihre Frauen erniedrigen und erwürgen. Sicher: alles Einzelfälle. Als solche werden die Delikte im Gerichtssaal auch wahrgenommen. In der Konsequenz bleibt die strukturelle Dimension von Frauenhass aber weitgehend unsichtbar. Von den größtenteils männlichen Richtern werden Ermessensspielräume im Sinne patriarchaler Denkmuster interpretiert. So wird bisweilen angenommen, dass verlassene Ehemänner ihre Frauen nicht aus sogenannten »niedrigen Beweggründen« grauenvoll hinrichten, sondern vielmehr – aus Liebe. Die Tatsache, dass Richter so etwas nachvollziehbar finden, führt jedenfalls dazu, dass Täter mit eher geringen Strafen davonkommen. Und es gäbe viel mehr dazu zu sagen, aber mir stehen hier nicht mehr Zeichen zur Verfügung. Glücklicherweise ist Christina Clemms Buch sowieso viel seriöser als diese Rezension. Bitte lesen! Juliane Zöllner

Katharina Bendixen, David Blum et al. (Hg.)

Katharina Bendixen, David Blum et al. (Hg.)

Other Writers need to concentrate. Berlin: Sukultur 2023. 194 S., 24 €

Katharina Bendixen, David Blum et al. (Hg.).

Sie will Romane schreiben, doch ihr Mann und ihre Söhne sehen das nicht gern. Wo bleibt da ihre pflichtbewusste Rolle im Familienalltag? Also schreibt sie heimlich, in den frühen Morgenstunden und nachts. – Das Ganze spielt sich nicht im 18. Jahrhundert ab, Marlen Haushofer hat 1941 geheiratet, sich beim Schreiben mit Cola und Kaffee wachgehalten und eine Einladung der Gruppe 47 ausgeschlagen. Ihr Werk wird erst allmählich (wieder)entdeckt. Inzwischen sind wir bestrebt, Care-Arbeit besser und gerechter zu verteilen, die Gleichberechtigung ist auf dem Vormarsch, die Frauennamen in Verlagsprogrammen und auf Shortlists werden mehr. Doch der Literaturbetrieb ist ein schwergängiges Instrument, das jahrhundertelang um das Bild des männlichen, romantisch einsamen Autors kreiste. Einsam und vor allem: Ohne Verantwortung für Kinder oder andere Pflegebedürftige. Das führt noch heute dazu, dass Menschen, die Care-Arbeit leisten und zugleich schreiben wollen, benachteiligt werden. Diesem Problem widmet sich die Anthologie »Other Writers need to concentrate«, herausgegeben von Katharina Bendixen, David Blum, Barbara Peveling und Sibylla Vricic Hausmann. Sie bilden das Redaktionsteam der gleichnamigen Website mit Blog, die Anfang 2020 entstand (s. kreuzer 8/2020). Die Anthologie versammelt ausgewählte Beiträge des Blogs sowie neue Texte. Im Vorwort heißt es: »Alle Autor*innen, die tagtäglich Verantwortung für andere Menschen übernehmen, sind von Fördermöglichkeiten ausgeschlossen und werden im patriarchal geprägten Literaturbetrieb an den Rand gedrängt.« 44 Autorinnen und Autoren widmen sich in Lyrik und Kurzprosa sowohl diesem Dilemma als auch Themen wie Kinderwunsch, das Verhältnis zwischen (erwachsenen) Kindern und Eltern, Rollenbilder, Zusammenbleiben und Sich-Trennen, Geburt und Erwartungen – an die Welt, an die Kinder, an sich selbst. In rascher Abfolge begegnet man lyrisch-vielschichtigen Bildern und nüchternen Beobachtungen. (...) Alexandra Huth

Angela Saini

Angela Saini

Die Patriarchen. Auf der Suche nach dem Ursprung männlicher Herrschaft. Aus dem Englischen von Simoné Goldschmidt-Lechner. München: Carl Hanser 2023. 349 S., 25 €

Angela Saini.

Das Patriarchat wirft Fragen auf, die in jüngster Zeit viel diskutiert werden: Wie kommt es etwa zu patriarchalen Verhältnissen, wenn doch steinzeitliche Gemeinschaften wohl egalitär waren? Warum ist das Patriarchat so langlebig? Die Antworten auf diese Fragen sind so vielfältig wie die Zahl der menschlichen Kulturen auf der Erde, wie Angela Saini darlegt. Gerade bei der Interpretation archäologischer Funde ist Vorsicht geboten. Forschende unterliegen nicht nur ihren eigenen Vorurteilen, sondern archäologische Funde deuten auch häufig nur auf einen Bruchteil der Lebensrealität ihrer Zeit. Liegt eine Stärke von Sainis Buch darin, diese Vorsicht walten zu lassen, so bleibt das Buch systematisch ein Flickenteppich. Weder vermag es, historische Verläufe ausgehend von einem – hypothetischen – Anfang des Patriarchats in einer Weltgegend stringent zu skizzieren. Noch gelingt es ihm, das fortwährende Entspringen patriarchaler Gesellschaften überall auf der Welt zu erklären. Methodisch scheitert Saini an ihrem Anspruch, nichts weniger als die ganze Zeit und die ganze Welt im Blick zu behalten. Das Buch umspannt von der Steinzeitsiedlung Çatalhöyük bis zur iranischen Revolution rund 10.000 Jahre und von den nordamerikanischen Haudenosaunee über die westafrikanischen Ashanti bis zu den Minangkabau in Südostasien – mit Ausnahme Australiens – alle Kontinente. Trotz Sainis kosmopolitischen Wissens und ihrer bewundernswerten Sensibilität für Vielfalt hinterlässt das Buch Ratlosigkeit. Die grundlegenden Fragen bleiben so zurück, wie sie auftauchen: »Wie ist es möglich, dass Frauen so hart für Veränderungen kämpfen […] und sie trotzdem nicht erreichen? Was macht die Stärke genau dieser Form der Unterdrückung aus?« Fabian Schwitter

Ereignis in der Stadt

Ereignis in der Stadt

30 Jahre – 30 Texte. Neue Literatur aus Slowenien. Zusammengestellt von Jelka Ciglenečki. Salzburg/Wien: Residenz 2023. 352 S., 28 €

Ereignis in der Stadt.

Gut möglich, dass Ihnen einige der 30 Autorinnen und Autoren, die für die Anthologie »Ereignis in der Stadt« Texte beigesteuert haben, so gar nichts sagen – umso besser! Schließlich lädt der Band, der gerade so umfangreich ist, dass man ihn noch bequem in der Tasche herumtragen und jederzeit hervorholen kann, zu Entdeckungsreisen in die Vielfalt der slowenischen Literatur ein. Die titelgebende Stadt führt uns dabei weit über expressionistische Schilderungen von Chaos und Anonymität hinaus: Es geht nicht nur um Ansammlungen von Gebäuden, sondern auch Gedankenlabyrinthe, Schleifen, die man immer wieder drehen muss, lebensüberschattende Sackgassen, die einen beinahe verzweifeln lassen – es geht um die Stadt in uns. Innerlichkeit wechselt sich ab mit sozialem Engagement und scharf gewetzten Blicken auf die politischen Verhältnisse unserer Gegenwart. Schweigsame, etwas verlorene Charaktere von stolzem Charme taumeln durch die Städte der Welt, kommen nach Hause, verlieren Gewissheiten und tänzeln oft am Rand der Realität entlang. Mojca Kumerdej schickt einen Agenten mit mehreren Identitäten, der sich schlussendlich doch nicht auf seine Intuition verlassen kann, in ein kafkaeskes Dilemma. Bei Desa Muck wird einer misanthropischen Fernsehproduzentin von einer unter der Ungerechtigkeit der Welt leidenden Teenagerin die ersehnte Ruhestands-Einsamkeit verwehrt. Jani Virks Protagonist lernt in einer Kosmologie-Vorlesung eine rätselhafte Frau kennen, die sein restliches Leben in unendliche Dunkelheit taucht. Zwischendurch finden sich Lyrik und Kurzprosa, etwa eine eigenwillige Anleitung zur Bekämpfung von Pharaoameisen (Boris Kolar) oder eine Fabel über die Macht der Wörter (Andrej Blatnik). Die meisten Figuren kommen nicht da an, wo sie sich ursprünglich gesehen haben, müssen ihre Vorstellung von der Welt überdenken oder sogar ganz über den Haufen werfen. Und geschieht nicht auch genau das beim Lesen eines guten Buches? Alexandra Huth

Kathrin Röggla

Kathrin Röggla

Laufendes Verfahren. Frankfurt am Main: S. Fischer 2023. 208 S., 24 €

Kathrin Röggla.

Kathrin Röggla schreibt in ihrem neuen Roman »Laufendes Verfahren« über den »größten Nachwendeprozess in der Bundesrepublik«, den NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere Angeklagte, und seine Folgen. Röggla dokumentiert nicht nur die Verfehlungen und blinden Flecken des Oberlandesgerichts München (etwa die Verwicklungen des Verfassungsschutzes in den sogenannten NSU-Komplex, den behördlichen Rassismus, der den Opfern und ihren Angehörigen noch im Urteil entgegenschlägt, oder den blanken Hohn der rechten Szene gegenüber dem Verfahren), sondern sie zeigt, dass etwas Grundsätzlicheres schief liegt in unserer Beziehung zur Rechtsprechung. Dazu wendet Röggla sich jenen zu, die vom Publikumsrang aus beobachten: dem pensionierten Juristen, dem Bloggerklaus und der Omagegenrechts. Dazu stellt ein bewusst vage bleibendes »Wir« Fragen, passt auf, diskutiert und kommt doch nicht ganz hinterher. Dieses »Wir« setzt sich zum einen aus den fiktiven Beobachterinnen und Beobachtern zusammen, zum anderen vertritt es den interessierten Staatsbürger an sich. Der Prozess selbst bleibt ein zukünftiger, ganz so, als sei er noch nicht abgeschlossen oder als sei es eine Zumutung, in der Vergangenheitsform über ihn zu sprechen. Trotz Urteil löst sich der Fall nicht auf, bleibt mitten unter uns. Und dann geht der Alltag einfach weiter. Noch ein Übergriff, noch ein Mord, noch ein Massaker. Kathrin Röggla bietet in ihrem Roman ein bewegliches Panorama dieses »Jahrhundertprozesses«, dessen Hintergründe, ginge es nach dem hessischen Verfassungsschutz, noch bis ins Jahr 2134 unter Verschluss bleiben sollten. Die Autorin führt den Prozess nicht einfach noch einmal zwischen zwei Buchdeckeln, um ein eigenes Urteil zu fällen. Der Roman ist ebenso die Einsicht über die Grenzen von Literatur gegenüber dem Recht wie ein Appell über das Schreiben hinaus: »Der Prozess hat aus seiner Versteinerung nicht mehr herausgefunden, schon gar nicht mit sprachlichen Mitteln.« Eyck-Marcus Wendt

Amir Gudarzi

Amir Gudarzi

Das Ende ist nah. München: DTV 2023. 416 S., 25 €

Amir Gudarzi.

»Ich wurde bereits mehrmals aus politischen Gründen verhaftet. Wenn man mich jetzt verhaften würde, würde ich lange nicht mehr aus dem Gefängnis rauskommen.« – Der Student A. muss sein Heimatland Iran verlassen, im Gepäck hat er alltägliche wie staatliche Gewalterfahrungen und die tiefen Spuren geraubter Selbstbestimmung. Sein eigentliches Ziel Kanada erreicht A. nicht – er landet in Wien, um hier mit den Ausschlüssen der österreichischen Mehrheitsgesellschaft konfrontiert zu werden. Amir Gudarzis Debüt lässt sich als Dringlichkeitsroman bezeichnen, denn er erzählt von der Flucht aus einer bürokratischen Autokratie hinein in eine rassistische Bürokratie, dem Gefühl der Entfremdung in der Fremde und der daraus resultierenden Einsamkeit in einem heimatlosen Dazwischen. Und dringlich sind diese Themen, da brandaktuell: Das Schicksal von Schutzsuchenden in Europa ist ein Schicksal, das durch Rassismus in individueller, struktureller und institutioneller Form geprägt ist. Gudarzi protokolliert jene Zustände, so dass man immer wieder fassungslos die Hände über dem Kopf zusammenschlagen will. Nach diesem moralischen Impuls drängt sich dennoch die literarische Frage auf: Reicht das? Gudarzis Stil ist simpel, teilweise passend zur Kargheit des Beschriebenen, häufig aber bleiben Figuren, Dialoge und Szenen zu skizzenhaft und holzschnittartig. Wenn er zum Beispiel schreibt: »Nun aber kämpfe ich gegen Windmühlen der Bürokratie, gegen hohle Werte«, dann spiegelt sich darin zwar traurige Realität wider, entfaltet aber wenig literarische Kraft. Solche Sätze finden sich zuhauf in Gudarzis Erstling, so dass sich dieser oft als Antithese zur »Show don’t tell«-Regel liest. Tilman Busch

Denis Pfabe

Denis Pfabe

Simonelli. Roman. Berlin: Rowohlt, 2021. 288 S., 22 €

Denis Pfabe.

Die Geschichte, die hier erzählt wird, birgt etwas Filmisches in sich – sie entwickelt sich streng nach klassischem Krimidrehbuch: Die am Leben gescheiterte Hauptfigur namens Simonelli gerät mehr oder weniger unverschuldet ins kriminelle Milieu und erfährt durch die Konfrontation mit ihrem Antagonisten eine innere Wandlung zum mutigen Helden (Liebesgeschichte inklusive). Das Spiel mit der klassischen Erzählstruktur des Kriminalfilms wird vom Autor noch durch die Berufswahl seines Helden verstärkt. Simonelli ist Requisitenbauer. Schauplatz des Romans ist demnach unter anderem auch ein Filmset. Diese Idee ist erzählerisch schön, denn die Attrappen und Fälschungen Simonellis erlangen ihren Wert erst durch die Geschichten, in denen sie eine Rolle spielen. Auf dieser Ebene verschlingen sich auch die zwei aufeinander zulaufenden Erzählstränge des Romans. Dennoch wirkt die Struktur des Romans etwas brav und ein Teil des Spannungspotenzials fällt ihr zum Opfer. Die Sprache des Buches ist schnörkellos und sachlich. Schauplätze werden wie beim Blick durch eine Filmkamera begrenzt beschrieben, während Details und Gesten in den Vordergrund rücken, als würden sie herangezoomt. Diese spielerischen Tendenzen und ebenso die Charakterdarstellungen sind reizvoll und lassen beim Lesen immer wieder auf fesselnde Entwicklungen hoffen, doch so richtig packend wird es nie. Eine Lektüre, die sich aber durchaus für ein entspanntes Wochenende eignet. Speziell eine Erkenntnis, die gegen Ende vermittelt wird, lohnt das Durchhalten bis zum Schluss. Mehr wird nicht verraten. Hanna Schneck

Petra Steps

Petra Steps

Mörderisches aus Sachsen. Krimis. Meßkirch: Gmeiner-Verlag 2021. 279 S., 11 €

Petra Steps.

Adina Pfefferkorn erstellt ein Tourismusportal für eine Marketingfirma und schreibt einen Reiseblog für Sachsen. Auf ihrer Recherche wird sie ständig in Kriminalfälle verstrickt, die sie dann nebenbei dank ihrer überragenden geistigen und körperlichen Qualitäten aufklärt, tatkräftig unterstützt von ihrem Freund Oli, Kriminalhauptkommissar aus Annaberg. Die vielen Nebenhandlungen, zum Beispiel zur jüdischen Verwandtschaft von Adina oder zu politischen Ereignissen der jüngsten Zeit, haben mit den eigentlichen Krimis wenig bis gar nichts zu tun. Die Beschreibungen von Adinas Kochkünsten und der vielen Lokale machen die Geschichten nicht spannender. Als Reiseführer sind die Kurzgeschichten zu ungenau, als Krimi fehlt die Spannung. Ab und zu kommt es überraschend und unbegründet zu hochsprachigen Formulierungen in diesem in einfacher Sprache durcherzählten Buch, die Idiomatik holpert immer wieder. Technische Details sind schlecht recherchiert: Vineta-Fly funktioniert nicht mit »Luftdruck«, sondern mit Wasserdruck. Oli hat an seinem Auto erst einen »Fahrradanhänger«, dann einen »Fahrradständer« und endlich korrekt einen »Fahrradträger«. Insgesamt war die Endkorrektur nachlässig. Das beginnt bei der Orthografie und geht weiter über Doppelungen bis zum verwechselten Vornamen: Aus »Stefan« wird »Steffen«. Als dann noch »Leipziger Lärchen« auftauchen, ist der genervte Leser endgültig versucht, das Buch zu schließen und die Zeit mit sinnvoller Lektüre zu verbringen. Joachim Schwend

Julius Fischer

Julius Fischer

Ich hasse Menschen. Eine Art Liebesgeschichte. Berlin, Dresden: Voland & Quist 2021. 268 S., 15 €

Julius Fischer.

Fischer beschreibt in seinem autobiografisch gefärbten Roman seinen Umzug an den »Arsch der Heide«. Er hat nach seiner Scheidung keinen Plan, doch dann erbt er von seinem Uropa ein heruntergekommenes Umgebindehaus in Sucknitz, er macht nicht mehr »nüscht«, sondern einen Neuanfang als Gastwirt, was mit gewaltigen Problemen verbunden ist – die feindliche Stimmung im Dorf ist nur eines davon. Alle Vorurteile über die Menschen dort werden bestätigt, bis langsam unter dem Klischee doch sehr liebenswerte Individuen auftauchen. Die Geschichte lebt vom Sprachwitz, von Wortspielen, der Intertextualität und der Vielschichtigkeit der Erzählung. Hier spricht der Kabarettist und Liedermacher und er mildert so die düstere Kritik an der Provinz. Der Protagonist blickt mit einem gehörigen Schuss Selbstmitleid und einer Mischung aus Verzweiflung und hintergründigem Humor auf sein Leben. Er ist voll von Vorurteilen des Städters gegenüber der Landbevölkerung. Verschlossenheit, Ignoranz, rechtsradikale Neigungen, der »strukturelle Rassismus« der Provinzler: All das stürzt auf ihn ein – und so sitzt er allein im verfallenden Gasthof und tut sich leid. Doch er hat auch treue Freunde, lernt einige Dörfler besser kennen und es zeigen sich positive Seiten: Es gibt ein großes Dorffest – Asterix lässt grüßen –, am Schluss sind alle versöhnt, serviert wird zwar kein Wildschwein am Spieß, aber doch Würstchen und Schweinebraten. Die Nazis sind abgehauen. Der gruselige Titel sollte niemanden abschrecken, der Roman ist eine Art Liebesgeschichte: »Ich liebe Menschen« – nicht alle, aber es gibt genug liebenswerte, auch in Ostsachsen. Und so wird das Buch doch noch eine Liebeserklärung an die Provinz. Joachim Schwend

Tarana Burke

Tarana Burke

Unbound. My Story of Liberation and the Birth of the Me Too Movement. London: Headline 2021. 260 S., 14,99 £

Tarana Burke.

Ermächtigung durch Empathie: Das ist das Motto der US-amerikanischen Gemeinschaftsorganisatorin Tarana Burke. Sie gründete die #MeToo-Bewegung, die 2017 nach dem Aufruf der Schauspielerin Alyssa Milano sexualisierte Gewalt zum Thema einer nachhaltigen internationalen Debatte machte. Ihr Buch »Unbound« ist also ein autobiografisches Werk. In zwanzig Kapiteln schildert Burke ihre Erfahrungen mit Rassismus und Sexismus – die zwei sind für sie fest miteinander verwoben. Zudem liefert Burke Einblicke über das Leben in der schwarzen US-amerikanischen Community, von Armut und Stigma, aber auch über sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Frauen innerhalb der Community, den kollektiven und persönlichen Umgang damit. Das Stichwort #MeToo (ich auch) soll ein Miteinander unter Betroffenen sexualisierter und anderweitiger Gewalt herstellen. Empathie ist die stärkste Heilung für Menschen mit Traumata, und es gibt keinen anderen Weg, um sicherzugehen, dass das Gegenüber dieses Trauma auch versteht – das ist nur durch eigene Erfahrung möglich, so Burke. Auch ihre Traumata werden im Buch sichtbar durch die Schilderungen der Gewalt, die ihr als Kind angetan wurde. Diese sind nicht nur körperlich, und so handelt auch ein Kapitel von der zerstörerischen Kraft des Wortes »hässlich«. »Unbound« setzt kein Vorwissen über die schwarze US-amerikanische Community voraus. Das Buch ist momentan nur auf Englisch erhältlich, die Sprache ist allerdings leicht und verständlich. Sibel Schick

Shinroku Shimokawa

Shinroku Shimokawa

Man kann keine Steine essen. Kochbuch eines japanischen Bildhauers. Stuttgart/Basel: Prima Publikationen 2021. 240 S., 35 €

Shinroku Shimokawa.

Die vier Jahreszeiten in den Fokus eines Kochbuchs zu stellen, ist nicht ungewöhnlich. Aber dass sich mit dieser Gliederung ausgerechnet ein Bildhauer ins Metier wagt, der sonst harten Steinen statt rohen Lebensmitteln eine neue Form gibt, lässt aufmerken. Kunst und Kochen also. Dass es sich bei der Speisenzubereitung als schöpferische Tätigkeit durchaus um eine bildende Kunstform handelt, mag manchem Banausen als kühne These erscheinen – doch Peter Granser, Verfasser des Vorworts, behält recht, denn sowohl beim Kochen als auch in der Kunst geht es um Formen, Farben und Materialität. Kein Wunder also, dass der Autor vor dem Angeln erst mal einen skulpturalen Grill baut. Essen in Japan bedeutet in jeder Hinsicht eine Erweiterung des kulinarischen Horizonts, gehört zur japanischen Küche doch weit mehr als Sushi und Ramen. Man erfährt zum Beispiel, dass Katsuobushi, das getrocknete Filet vom Bonito-Thunfisch, als das »härteste Lebensmittel der Welt« gilt. Und während Raps hierzulande oft nur zu Öl gepresst wird, beschreibt der Autor, wie sich auch Knospen und Stiel als Beilage zu grünem Spargel im Frühling verarbeiten lassen. Zum Teriyaki-Fisch empfiehlt er Adlerfarn, zum Gurkensalat Essig-Sojasauce. Und wer im Herbst gegrillten Fisch oder Salzpflaumen mit Reis zu Onigiri formt, hat damit ein typisch japanisches Essen zum Mitnehmen in der Hand. Beim Reiskochen rät Shinroku, Wassermenge und Garzeit individuell der Reissorte, deren Alter, dem zur Verfügung stehenden Herd und sogar dem Topf anzupassen. Neben der Zubereitung geht es in den kurzen Texten stets auch um die Art, jeder Speise den optimalen Rahmen zu geben: Bei Misosuppe übernimmt das Wan, eine lackierte Schale aus Holz, überzogen mit wertvollem Urishi-Lack. Sehr schöne, oft freigestellte Fotos von Shinroku zeigen anschaulich, wie die Gerichte im Original aussehen. Der 1979 in Tokio geborene Japaner hat übrigens an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart studiert. (...) Petra Mewes