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Rezensionen

Pilar Quintana

Pilar Quintana

Abgrund. Roman. Aus dem kolumbianischen Spanisch von Mayela Gerhardt. Berlin: Aufbau 2022. 245 S., 22 €

Pilar Quintana.

»Meine Mama sagt, von allen Müttern in der Klasse ist deine die hübscheste.« – Das hört Claudia, die achtjährige Ich-Erzählerin, von ihrer Schulfreundin. Hübsch ist auch der Urwald aus Zimmerpflanzen in der Wohnung von Claudias Eltern, schön sind die Trompetenbäume, auch wenn Claudias Mutter von deren Blüten Heuschnupfen bekommt, weshalb sie wochenlang im Bett bleibt. Schön sind die Frauen auf den Zeitschriften, mit deren Lektüre Claudias Mutter sich die Zeit vertreibt. Schön ist Gonzalo, mit dem Claudias Mutter hinter dem Rücken ihres Mannes eine Affäre beginnt. Schön sind die Berge, in denen Claudias Familie den Sommer verbringt, schön ist die hochgiftige Korallenotter, die der Hausverwalter köpft und in den Abgrund wirft. Schön war Claudias Puppe Paulina, ehe auch sie in den Abgrund fiel. Nur – die versierten Lesenden ahnen es bereits – Claudias Vater ist hässlich, »kahl und alt«, und Claudia kommt ganz nach ihm: Sie war »das hässlichste Baby im ganzen Krankenhaus«. Schönheit ist nur ein Diskurs, den die kolumbianische Autorin Pilar Quintana in ihrem hochkomplexen und spannungsreichen Roman »Abgrund« verhandelt. Die Kraft der Natur und die Brutalität der Architektur ziehen sich durch den Text, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Weitergabe familiärer Wunden und vor allem jenes Thema, das Quintana bereits in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman verhandelte: Mutterschaft. Diese Vieldeutigkeit transportiert der spanische Titel ungleich besser: »Los abismos« bezeichnet auch »Kluft« und »Hölle«, »verwirren« und »versinken« stecken darin. Es ist Pilar Quintanas Kunstfertigkeit anzurechnen, dass die Lesenden selbst entscheiden müssen, wer hier versinkt: Claudias Mutter in der Unfähigkeit, ihre Rolle auszufüllen, Claudias Vater im Zwang der Ernährerrolle oder die achtjährige Claudia in einer Kindheit, die ihr keinerlei emotionalen Halt zu bieten vermag. Katharina Bendixen

Angela Steidele

Angela Steidele

In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Berlin: Insel Verlag 2021. 326 S., 24 €

Angela Steidele.

Mit der Biografie »In Männerkleidern« legt der Insel Verlag ein Buch neu auf, dessen Protagonistin im November 1721 hingerichtet wurde. Vor 300 Jahren also, in der Frühen Neuzeit, einer Epoche radikaler Umwälzungen, in der sich vieles veränderte und die Menschen immer wieder neue Blickwinkel auf scheinbar Altbewährtes entdeckten – auch wenn daraus nicht automatisch mehr Toleranz erwuchs. Das musste auch Catharina Linck, deren ereignisreiches Leben Angela Steidele unter die Lupe nimmt, am eigenen Leib erfahren. Sie wuchs in großer Armut auf, begann als Fünfzehnjährige, Männerkleider zu tragen, im Stehen zu pinkeln und in der Welt herumzureisen. Dabei gab sie sich fantasievolle Männernamen, beglückte zahlreiche Frauen mit einem Lederdildo, kämpfte als Musketier, wurde schon einmal fast als Deserteur hingerichtet und heiratete eine andere Frau, deren Mutter den seltsamen Schwiegersohn schließlich anzeigte. Angela Steidele schildert diesen Lebensweg in schlichter, extrem fesselnder Sprache und unterfüttert ihn mit meisterhaft recherchierten Details. Wie nebenbei erfährt man einiges über die religiösen Verhältnisse, das harte Leben preußischer Soldaten und das komplizierte Rechtssystem der damaligen Zeit. Die Autorin folgt nicht nur dem roten Faden Catharina Lincks (oder Anastasius Rosenstengels, wie sie sich anfangs nennt), sondern webt einen ganzen erzählerischen Teppich, um die Lebensverhältnisse und den Zeitgeist greifbar zu machen. Dabei berührt sie zwar auch die Frage, ob Catharina Linck nun queer, lesbisch oder trans gewesen sein mag. Allerdings geht es vor allem um die Erlebnisse einer Persönlichkeit, deren faszinierendes Moment Steidele ohne großes Kategorisieren hervorzuheben versteht. Alexandra Huth

Elizabeth Wetmore

Elizabeth Wetmore

Wir sind dieser Staub. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné. Frankfurt/Main: Eichborn 2021. 319 S., 22 €

Elizabeth Wetmore.

»Valentine« heißt Elizabeth Wetmores Debütroman im Original und verweist auf den Tag der Liebenden, den 14. Februar. An diesem Tag im Jahr 1976 wird die 14-jährige Gloria Ramírez in Odessa, Texas von einem Mann brutal vergewaltigt. Körperlich und seelisch zerschlagen schleppt sie sich über eines der sonnenverbrannten, staubigen Ölfelder, die das Leben der Menschen in diesem Landstrich bestimmen. Auf einer abgeschiedenen Farm kommt ihr Mary Rose Whitehead zu Hilfe, die Glorias Peiniger mit einer Winchester und viel Mut vertreibt. »Wir sind dieser Staub« schildert die Tat und ihre Folgen aus weiblicher Perspektive. Der etwa von Debra Ann, einem verwahrlost wirkenden Mädchen, dessen Mutter die Stadt vor einigen Monaten fluchtartig verlassen hat. Oder aus der Sicht der wesentlich älteren Corrine Shepard, die ihren Ehemann vermisst, der sich – schwer krebskrank – das Leben nahm. Durch die Augen dieser und weiterer Frauen lernt der Leser einen Ort kennen, in dem Liebe nur als Ausnahme existiert. Das System der Ölfelder – die gefährliche Arbeit, das schnelle Geld – fördert Brutalität. Es beutet seine Arbeiter aus; viele von ihnen gehen physisch wie psychisch zugrunde. Die dort herrschende indirekte Gewalt lassen die Männer ganz direkt an den Frauen aus, zu Hause, in der Bar, auf einer einsamen Straße. Elizabeth Wetmore wuchs in Odessa auf, als junge Frau kehrte sie der Stadt den Rücken. In ihrem ersten Roman, geschrieben mit 52, widmet sie sich intensiv dem Ort ihrer Herkunft – mit Figuren, die vom Schmerz getrieben sind, und einer Landschaft, deren Versehrtheit diesen Schmerz widerspiegelt. Andrea Kathrin Kraus

Tatjana Böhme-Mehner

Tatjana Böhme-Mehner

Leipziger Mörderquartett. Meßkirch: Gmeiner-Verlag 2021. 249 S., 12 €

Tatjana Böhme-Mehner.

Anna Schneider ist Musikredakteurin und wird bei einem Konzert Augenzeugin, als ein Bratscher von einem Scheinwerfer erschlagen wird. Anna wittert die lang ersehnte Enthüllungsgeschichte, die sie nun ganz groß rauskommen lässt. Sie erforscht die Zusammenhänge und Hintergründe, tatkräftig unterstützt vom Gewandhaus-Bratschisten Habakuk C. Brausewind und einer Mordkommissarin. Glücklicherweise haben Anna und Habakuk viele Freunde in der Musikszene und sammeln immer mehr Hintergrundinformationen. Der tote Bratscher entstammte einer berühmten Leipziger Musikerfamilie, doch seine Homosexualität passte so gar nicht zu dem familiären Selbstverständnis; vor allem seine Mutter, ehemalige Opernsängerin und Grande Dame der Szene, störte sich daran. Zudem war er ein krankhafter Egomane mit extremem Kontrollwahn und niedriger »Frustrationsschwelle«, der seiner Zerstörungswut freien Lauf ließ, wenn etwas nicht in seine Pläne passte. Der Autorin gelingt es, die Spannung langsam zu steigern und die Leser immer wieder mit neuen Informationen auf falsche Fährten zu schicken. Sprachlich überreizt sie gelegentlich mit unpassenden Formulierungen und Wendungen. Die ausführlich beschriebenen persönlichen Probleme der Charaktere lenken von der eigentlichen Geschichte ab und tragen nichts zu deren Entwicklung bei. Anna Schneider und Habakuk Brausewind kommen sich im Laufe ihrer gemeinsamen Ermittlungen immer näher. Zum Schluss nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung, fast ohne Zutun von Anna, Habakuk und der Kommissarin. Der Roman ist eine entspannende und amüsante Lektüre, insbesondere für Leipziger und ganz besonders für solche, die sich schon immer für die Musikszene und deren Hintergründe und Abgründe interessiert haben. Joachim Schwend

Suzanne Maudet

Suzanne Maudet

Dem Tod davongelaufen. Wie neun junge Frauen dem Konzentrationslager entkamen. Aus dem Französischen von Ingrid Scherf. Hrsg. Patrick Andrivet & Pierre Sauvanet. Berlin: Assoziation A 2021. 127 S., 16 €

Suzanne Maudet.

April 1945, das KZ-Außenlager Leipzig-Schönefeld wird evakuiert, der Todesmarsch gen Osten beginnt. Neun junge Frauen aus Frankreich, den Niederlanden und Spanien wagen die Flucht in die Freiheit, um »dem finalen Massaker zu entkommen«. 1944 wurden sie von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald und Leipzig-Schönefeld gebracht, wo sie für die Rüstungsfirma HASAG arbeiten mussten. Nun können sie hinter Oschatz fliehen, ihr Fußmarsch nach Westen beginnt, den Amerikanern entgegen. Maudet schildert mit distanzierter Selbstironie die Flucht der halb verhungerten jungen Frauen, verdreckt, in zerlumpten Kleidern und »Holzpantinen«. Der Wunsch nach Freiheit ist größer als ihre physischen Qualen, und sie wissen, dass sie nur gemeinsam überleben können. Trotz gesprengter Brücke überqueren sie die Mulde – denn in Colditz warten schon die Amerikaner, »die Hände voll mit Schokolade, Zigaretten, Keksen«. Auf ihrem Marsch treffen sie verschiedene Menschen: amtliche Würdenträger, die die Polizei rufen, Bauern, die sie verjagen, und wieder andere, die ihnen Essen kochen und sie in der Scheune schlafen lassen, darunter auch Wehrmachtssoldaten. Sie werden als »Jüdinnen« bezeichnet und so könne man sie behandeln, wie man will. Der Bericht ist ein »lebendiges und authentisches Dokument und auf geheimnisvolle Weise optimistisch«. Das Böse hier ist die SS, »dieses teuflische Spinnennetz«. Ursprünglich sollte der Titel »Ohne Hass, aber kein Vergessen« lauten – ein passender Ansatz für das heutige Europa, damit der »Geist des Hasses und Unsegens« sich nicht weiter verbreitet. Das kleine Buch regt zum Nachdenken an und vielleicht auch zu einem Besuch der Gedenkstätte in Leipzig-Schönefeld. Joachim Schwend

Oleg Senzow

Oleg Senzow

Haft. Aus dem Russischen von Claudia Dathe. Berlin und Dresden: Voland & Quist 2021. 432 S., 26 €

Oleg Senzow.

145 Tage lang war der ukrainische Regisseur und Maidan-Aktivist Oleg Senzow im Hungerstreik. In dieser Zeit hat er Tagebuch und Kurzgeschichten geschrieben. 337 Seiten lang folgt man ihm bei seinen Analysen über Fußball, Literatur und Film sowie bei der detaillierten Beschreibung des russischen Strafvollzugssystems. Immer mit dem Bewusstsein, dass jeder weitere Tag einer ist, an dem Senzow dem Tod ein Stück näher rückt. Und auf ebendiesem Untergrund sticht jener Satz in seiner Schlichtheit hervor: »Ich war verwundert, als ich von meinem Anwalt hörte, dass nicht der ukrainische Staat die Kosten für seine Reisen und Honorare zahlt, sondern dass russische Regisseure zusammenlegen.« Eine Erkenntnis, die Oleg Senzow am vierzigsten Tag seines Hungerstreiks ereilt. Ein Staat, für den er letztlich auf der Krim und am Maidan gekämpft hat, zahlt nicht einmal die Reisekosten seines Anwalts. Man ist versucht zu glauben, dies könnte ein Wendepunkt im Denken, eine Abkehr von seiner Haltung bewirken. Aber es gibt keine Wendepunkte in den 145 Hungerstreiktagen, nur ein Festhalten an einem Vorhaben, das im Kern die Freilassung ukrainischer politischer Gefangener zum Ziel hat. Und wahrscheinlich ist es auch nicht möglich, nachdem einmal ein solcher Entschluss gefasst wurde, sich ohne Weiteres davon zu lösen. Die Umsetzung fordert ja die gesamte Kraft. Eindringlich und roh sind die Beschreibungen des Haftalltags in der russischen Strafkolonie »Eisbär« in Labytnangi am Polarkreis. Man kommt nicht umhin, Bewunderung allein für die konsequent geführten Tagebucheinträge zu empfinden, wirkt sich doch die vollkommene Absenz von Nahrung auch stark auf das psychische Befinden aus. In jedem Fall ein eindringliches Kapitel Widerstandsliteratur, das sich allein aufgrund seiner Vielschichtigkeit zu lesen lohnt. Kaśka Bryla

Clemens Meyer

Clemens Meyer

Stäube. Drei Erzählungen und ein Nachsatz. Mit Fotografien von Bertram Kober. Leipzig: Faber & Faber 2021. 128 S., 22 €

Clemens Meyer.

Unermüdliche Schaufelradbagger durchpflügen, verändern und zerstören Lebensräume, bestimmen den Alltag und das Schicksal mehrerer Generationen in Clemens Meyers neuem Buch. Drei Erzählungen und einen Nachsatz verkündet uns der Untertitel. Eine der Geschichten handelt von einem Höhlenforscher, der sich auf der Suche nach der Königin der Tiefe in den Stollen seines eigenen Forschungsobjekts verliert, die anderen beiden erzählen von Menschen, die in Tagebaugebieten leben. Figuren, die ihre Heimat nicht verlassen wollen, bis ihnen der Bagger buchstäblich den Boden unter den Füßen weggräbt, werden von Meyer in einer Sprache beschrieben, die dieses Gefühl des Kurz-vor-dem-Abgrund-Stehens in den Leser hineinbrennt. Das Bild auf dem Schutzumschlag – ein mächtiges Schaufelrad eines alten Kohlebaggers – stammt vom Fotografen Bertram Kober, dessen weitere Aufnahmen sich in einem eigenen Bildteil an die drei Erzählungen im Buch anschließen. Sie eröffnen kleine Welten, in denen industrielle Überreste dem Zerfall und dem Verschwinden trotzen und landschaftliche Folgeerscheinungen zum Symbol der Zerstörung werden. Die Fotografien schaffen zugleich eine Reflexionsphase zwischen den literarischen Texten und dem darauf folgenden literaturwissenschaftlichen Exkurs Meyers. In seinem Nachsatz über die Frage »Wozu Literatur?« nimmt der Autor dem Leser Anstrengungen zur Intertextualität in seinem Werk ab, indem er die Entwicklung des eigenen Schreibens anhand seines persönlichen Literaturkanons skizziert. Dies geschieht gleichzeitig auch als Gegenposition zur Tendenz, Bücher rein im Kontext der Autorenbiografie zu rezipieren. Literatur ist für Meyer die einzige Möglichkeit, »Steine zu erweichen, Felsen weinen zu lassen, Menschen zu verzaubern …« und Drachen durchs Erdreich ziehen zu lassen. Hanna Schneck

Aminata Touré

Aminata Touré

Wir können mehr sein. Die Macht der Vielfalt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021. 272 S., 14 €

Aminata Touré.

Der sogenannte Vorbild-Effekt ist belegt: Wenn Frauen andere Frauen in bedeutsamen Positionen erleben, steigen ihr Selbstbewusstsein, ihr Potenzial und ihre Motivation. Für mehrfach marginalisierte Gruppen fehlen die Vorbilder häufig, zum Beispiel in der politischen Landschaft Deutschlands. Das Buch »Wir können mehr sein. Die Macht der Vielfalt« will genau diese Lücke füllen. Dessen Autorin, die Grünen-Politikerin Aminata Touré, kam 1992 in Neumünster als Kind von geflüchteten Eltern auf die Welt, seit 2017 sitzt sie im schleswig-holsteinischen Landtag. Bis zu ihren Teenager-Jahren lebte sie permanent mit der Gefahr, nach Mali abgeschoben zu werden. Dabei lebte sie dort nie. Ihre alleinerziehende Mutter brachte Touré und ihren Geschwistern früh bei, dass sie als Schwarze Jugendliche und junge Frauen mehr leisten müssen, um dieselbe Anerkennung zu bekommen wie ihre weißen Mitmenschen. Dass nicht-weiße Jugendliche im deutschen Schulsystem aufgrund rassistischer Einstellungen der Lehrkräfte benachteiligt werden und bei gleicher Leistung schlechtere Noten bekommen, wurde mehrfach wissenschaftlich belegt. Insofern hatte Tourés Mutter, die als Autorin eines der Kapitel im Buch auch selbst zu Wort kommt, recht. Tourés Sprache ist zugänglicher als viele Bücher, die man von Politiker:innen kennt. Das ist wertvoll, weil sie viel vom politischen Alltag erzählt – eine Welt, die für Außenstehende unzugänglich sein kann. Tourés Gedichte zwischen den Kapiteln liefern zudem Einblicke über ihre Innenwelt. Sibel Schick

Stefan Heym

Stefan Heym

Flammender Frieden. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. München: C. Bertelsmann 2021. 477 S., 24 €

Stefan Heym.

Lieutenant Bert Wolff, 1933 vor den Nazis geflohen, landet als amerikanischer Soldat in Algerien und kämpft gegen machtbesessene Nazis und korrupte Franzosen des Vichy-Regimes. Er verteidigte bereits im Spanischen Bürgerkrieg in der Internationalen Brigade seine Ideale einer linken Utopie und in Nordafrika geht der Kampf weiter. Als Vernehmungsoffizier sammelt er möglichst viele Informationen. Sein größter Feind aus Spanien ist wieder da: Major Ludwig von Liszt, überzeugter Faschist und Machtmensch, der die Ideale der Amerikaner voller Verachtung abtut: Sie denken »immer viel zu christlich«. In dem autobiografisch gefärbten Roman schildert Heym mit klarer und direkter Sprache, wie die teilweise doch etwas naiven Amerikaner vieles nicht verstehen, weil es nicht in ihr Weltbild passt. Heym stellt als allwissender Autor eine Fülle von Protagonisten vor, die mit langen Rückblicken in ihre Vergangenheit die Vielschichtigkeit ihres Charakters offenbaren. In komplexen Handlungssträngen entwickeln sich die Ereignisse langsam und verdeutlichen den Lesern die Verbindungen der Figuren untereinander. Dabei tummeln sich die skrupellosen Machtmenschen, für die nur das eigene Ego und der eigene Vorteil zählen, auf beiden Seiten. Eine Französin spielt eine zentrale Rolle, zwischen den vielen Männern steht sie für eine unglückliche Liebe zwischen Hass und Hingabe: »Nicht, dass sie Liszt nicht liebte – ihr Problem war, dass sie es tat.« – »Casablanca« lässt grüßen. Bernhard Robbens Übersetzung liest sich gut und flüssig. Der Roman spricht allgemein menschliche Probleme an und durch seine Botschaften ist er heute so aktuell wie bei seiner Erstveröffentlichung in den USA. Eine lohnende Lektüre, die zum Nachdenken anregt. Joachim Schwend

Iuditha Balint, Julia Dathe et al. (Hg.)

Iuditha Balint, Julia Dathe et al. (Hg.)

Brotjobs & Literatur. Berlin: Verbrecher Verlag 2021. 240 S., 19 €

Iuditha Balint, Julia Dathe et al. (Hg.).

Wie wird einer Autor, und vor allem: Wie bleibt sie es? Dieser Frage geht eine neue Anthologie nach, in der 19 Autorinnen Auskunft darüber geben, mit welchen Tätigkeiten sie ihre literarische Arbeit finanzieren. In den seltensten Fällen ist das der Buchverkauf. Häufiger sind es Lese- oder Workshophonorare, oft auch das Gehalt als Gabelstaplerfahrer oder Gestalttherapeutin. Die Texte in »Brotjobs & Literatur« reichen von überraschenden Lebensgeschichten bis hin zu zynisch-fröhlichen Tagebucheinträgen, immer wieder geraten die Herkunft und damit das eigene Verhältnis zur Arbeit in den Blick. Unter den versammelten Autorinnen sind glücklicherweise genug, für die Arbeit keineswegs »eher eine Art von Bezug oder Bezüglichkeit, die Möglichkeit, etwas zu geben oder mich in Verbindung zu setzen« (Swantje Lichtenstein) darstellt, sondern eine mal freudvolle, mal entfremdete Tätigkeit, ohne die sie kein Dach überm Kopf besäßen. Entbehrungsreich ist das Autorendasein für fast alle Beitragenden, und manch einer »rechnet sich, um nicht gänzlich die Lust daran zu verlieren, natürlich sein symbolisches Kapital schön«, wie Sabine Scho es mit sympathischer Offenheit beschreibt. Den Mythos, dass die Kunst in ihrer Größe diese Entbehrungen schon irgendwie aufwiegt, zerschlägt Scho dankenswerterweise: Schließlich verdienen an der Literatur beispielsweise Agentinnen oder Literaturhausleiter durchaus akzeptabel. In einem beliebigen Job zu arbeiten und sich dabei sein ökonomisches Kapital schönzureden, ist allerdings auch keine Lösung, und es ist auch nicht zu erwarten, dass das bedingungslose Grundeinkommen die Widersprüche des Spätkapitalismus auflösen wird. Vielleicht bringt Thorsten Krämer es auf den Punkt, indem er eine Parole ausgibt, die weit über den Literaturbetrieb hinausreicht: »Nicht ›Mehr Geld für Kultur!‹, sondern: ›Ein anderer Arbeitsmarkt!‹« Dem wäre noch einiges hinzuzufügen. Aber ich muss jetzt los. Geld verdienen. Katharina Bendixen

Frank Kreisler

Frank Kreisler

Wand an Wand mit einer Leiche. True Crime Leipzig. Mit Fotografien von Christiane Eisler. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2022. 173 S., 14 €

Frank Kreisler.

Die nicht ganz so blühenden Landschaften der ostdeutschen Nachwendezeit sind ein gut beackertes Feld. Die kurze Freiheit, in der man träumen konnte, verwandelte sich in den ultimativen Abfuck: Treuhandtrauma und Massenarbeitslosigkeit, sterbende Städte, Alk, Frust, faschistische Pogrome und Baseballschlägerjahre und der arrogante Hochmut der »Besser-Wessis«. Frank Kreislers Reportagen über authentische Kriminal- und Gerichtsfälle im Leipzig der frühen Neunziger atmen in allen Details die allgemeine Depression der Zeit. Da ist ein Vermieter aus Aschaffenburg, der ein Haus Luxus-sanieren will und mit Hilfe eines Leipziger Privatdetektivs den hartnäckigen Bleibewillen der letzten Mietpartei durch drei Schlägertypen zertrümmern lässt, die nachts einbrechen, die Wohnung verwüsten und die Geschädigten schwer verletzen und ausrauben. Da sind immer wieder Geschichten von Arbeitslosen, Vorbestraften und Gescheiterten im Dauersuff. Von Frauen, die von Männern brutal misshandelt werden, so wie Juliane Schwarzer, die ihr Lebensgefährte 1994 in der Demmeringstraße aus dem Fenster warf. Und da ist der Selbstbetrug, wie der des Anti-Helden der Titelstory, gefangen im unauflösbaren Widerspruch von der glitzernden Welt des Erfolgs zu den kümmerlichen Möglichkeiten der grauen Realität. »Doch irgendwann fiel der berühmte Tropfen in das Fass, der es zum Überlaufen brachte.« Den recht kurz gehaltenen Texten, die das Verbrechen, seine Motivlage, die Ermittlung und das juristische Verfahren umreißen, hätte an einigen Stellen durchaus mehr Ausführlichkeit gutgetan. Auch wirkt der literarische Stil mit seinem übermäßigen Einsatz von umgangssprachlichen Redewendungen, die sich teilweise wie aus einer Boulevardzeitung der geschilderten Zeit lesen, ein bisschen befremdlich. Aber für Fans des Genres vielleicht nicht. Thorsten Bürgermann

Jérôme Leroy und Max Annas

Jérôme Leroy und Max Annas

Terminus Leipzig. Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Hamburg: Edition Nautilus 2022. 127 S., 16 €

Jérôme Leroy und Max Annas.

Die unangepasste Christine Steiner, Commissaire bei der französischen Antiterroreinheit DGSI, kämpft mit vielen Problemen: Alkohol, Kokain, Beruhigungsmittel, psychischen Problemen, die durch Enthüllungen aus ihrer Vergangenheit verschlimmert werden. Ein Einsatz gegen die internationale rechtsextreme Szene geht böse aus, sie wird vom Dienst suspendiert und schlittert doch gleich in den nächsten Fall: Ein Foto lässt sie Schlimmes ahnen. Sie macht sich auf den Weg nach Leipzig und gerät dort in einen blutigen Krieg zwischen rechtsextremen »Todesschwadronen« und inzwischen harmlosen, weil alt gewordenen Revolutionären aus der bundesdeutschen RAF-Szene der 1970er Jahre. Mit interessanter Erzähltechnik schrieben die Autoren jeweils abwechselnd ein Kapitel, manche Ereignisse werden im inneren Monolog aus verschiedenen Blickwinkeln der Protagonisten und mit Kommentaren eines allwissenden Erzählers berichtet. Der düstere »Roman noir« in der Sprache der Altlinken ist nichts für zartbesaitete Leser oder für Sprachästheten; es geht gegen »die üblichen Reaktionäre, Nazis und Spacken«, um »neobraune Idioten« und die Zahl der »Arschlöcher« ist so hoch wie die der »Bullen«. Die Spannung steigt stetig, die inneren Konflikte der Kommissarin lassen ihr brutales Vorgehen fast verständlich werden. Der Vergleich mit der Schlacht um »Fort Alamo« im texanischen Unabhängigkeitskrieg drängt sich auf. Das Ende wird nicht verraten. Der positive, wenn auch düstere Gesamteindruck wird beeinträchtigt durch ein ziemlich schlampiges Lektorat im Bereich von Grammatik und inhaltlichen Widersprüchen. Der Roman thematisiert überspitzt die Bedrohung der rechtsextremen, fremdenfeindlichen deutsch-französischen »Action Europe Blanche«, die gegen »linke Zecken« kämpft. Joachim Schwend

Alida Bremer

Alida Bremer

Träume und Kulissen. Salzburg: Jung und Jung 2021. 352 S., 24 €

Alida Bremer.

Wieder geht es mit Alida Bremer an die Adria. Nach »Olivas Garten« siedelt die seit 1986 in Deutschland lebende Autorin auch ihren zweiten Roman in ihrer Herkunftsregion Dalmatien an. Ein Apotheker entdeckt im Hafen von Split einen toten Mann, ein Fischer bringt die Leiche zur Polizei. Mehrere drückend heiße Sommertage im Jahr 1936 ermittelt Kommissar Mario Bulat vor sich hin. Die Stadtbewohner, Industrielle, Marktfrauen, Notare, Dienstmädchen, Kellner, Buchhändlerinnen und Kinder, machen sich derweil ihren eigenen Reim auf den Mord. Den wiederum braucht es, um von den Feindschaften zwischen Königstreuen, Freimaurern, italienischen Faschisten und kroatischen Nationalisten zu erzählen. Und auch deutsche Filmteams in Split, unter ihnen Kommunisten sowie Gestapo-Spitzel, sind alarmiert vom Mord an dem aufstrebenden Reeder. Der nämlich verdiente sein Geld damit, Menschen bei der Flucht vor dem NS-Regime zu helfen. Die mit römischer Geschichte und Tratsch gesättigte Stadt scheint über den Mord oft mehr zu wissen als der Kommissar. Als Krimi nimmt sich das Buch ohnehin nicht ganz so ernst. Dafür schillert auf jeder Seite Lokalkolorit. In einer der Hauptrollen dabei: die Küche Dalmatiens. Pasta mit allem, was das Meer hergibt, Gulasch mit Njoki, Fladen mit Mangold und Knoblauch. Doch trotz dieser Gaumenfreuden wird fast die Hälfte des Personals am Ende des Romans die Stadt verlassen haben. »Das jugoslawische Königreich wirkte bisweilen wie ein Umschlagplatz, auf dem keine Handelswaren, sondern politische Ideen, nationale Spinnereien, Abenteurer, Agenten und Flüchtlinge verladen wurden.« Auf sehr kurzweilige Art erzählt »Träume und Kulissen« von einem vielsprachigen Split, das heute so nicht mehr existiert. Ulrike Schult

Johanna Weinhold

Johanna Weinhold

Die betrogene Generation: Der Kampf um die DDR-Zusatzrenten. Berlin: Ch. Links 2021. 238 S., 18 €

Johanna Weinhold.

»Gefühlte Härten« sind in einem Rechtsstaat nicht geregelt. Nicht nur deshalb haben 27 Berufs- und Personengruppen der ehemaligen DDR keinen Platz im westdeutschen Rentensystem. Die in Leipzig lebende Fachjournalistin Johanna Weinhold gibt den Betroffenen eine Stimme. Denn längst sind ihre Geschichten untergegangen in den ständig wiederholt kopierten Sachständen und Gutachten jahrelang geführter Prozesse auf unterschiedlichen Instanzen. Die betroffenen Personen waren nicht allesamt Systemnahe. Sie gehören zu den zehn Prozent der ehemaligen Arbeitnehmenden in der DDR, deren Ansprüche aus der freiwilligen Zusatzrente entweder ganz gestrichen oder mindestens erheblich gekürzt wurden. Dies betrifft unter anderem Balletttänzerinnen, Reichsbahner, Bergmänner, in der DDR geschiedene Frauen und ja, auch Mitarbeiterinnen des MfS. In Interessensgruppen kämpfen sie seit dreißig Jahren um Anerkennung. Weinhold gibt ausgewählten Vertreterinnen dieser betroffenen Gruppen das Wort. Ihr Sachbuch über »Die betrogene Generation« ist in großen Teilen ein Interviewband. Darin beleuchtet sie die Leben und einzelnen Schicksale exemplarisch und bringt deren Situationen klug und umfassend informiert auf den Punkt. Noch spannender wird es, wenn die Autorin mit dem Psychologen Michael Linden den Bogen zur heutigen Politikverdrossenheit schlägt und die auch in dieser Debatte vorherrschende posttraumatische Verbitterungsstörung thematisiert. Denn diese Anpassungsstörung, die sich auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung in Wut, Frust und Radikalisierung niederschlägt, wird erwiesenermaßen transgenerational weitergegeben. Hier lässt sich nur hoffen, dass dieser Neuzugang in der Bibliothek des Deutschen Bundestages kein Platzhalter bleibt. Immerhin wurden dort im Mai 2021 Anträge zur Änderung des Rentenrechts schon wieder abgelehnt. Marcel Hartwig

Janice P. Nimura

Janice P. Nimura

Die Blackwell-Schwestern. Wie die ersten Ärztinnen der USA die Frauen in die Medizin brachten. Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Harlaß. München: Nagel & Kimche 2021. 463 S., 26 €

Janice P. Nimura.

Heute erinnert in Manhattan nur eine kleine Gedenktafel an die Sensation, die sich dort 1857 ereignete: Elizabeth und Emily Blackwell eröffneten das erste von Frauen geleitete und ausschließlich mit weiblichem Personal besetzte Krankenhaus für Frauen. Elizabeth hatte 1849 als erste Frau in den USA den Abschluss in Medizin erhalten, Emily es ihr 1854 gleichgetan. Janice P. Nimura zeichnet die Lebenswege der Schwestern en détail nach. Sie zeigt, mit welchen Widrigkeiten beruflich ambitionierte Frauen im 19. Jahrhundert konfrontiert waren, erlaubt Einblicke in das medizinische Establishment und macht daraus spannende Lektüre. In einer chronologischen Nacherzählung, ergänzt durch Briefe, arbeitet Nimura die Überzeugungen und Ängste der Vorreiterinnen heraus. Heraus sticht die Erkenntnis, dass die Blackwell-Schwestern keineswegs daran interessiert waren, die Frauenbewegung als solche voranzubringen. Es ging ihnen nicht um Gleichberechtigung. Für Elizabeth war Medizin eher Mittel zum Zweck. Sie glaubte, dass jedes menschliche Wesen danach streben sollte, nach seinen Möglichkeiten den besten Dienst an Gott zu tun. Als Hausweibchen hinter dem eigenen intellektuellen Potenzial zurückzubleiben, kam also für sie nicht in Frage. Ebenso wenig der Besuch eines Frauencolleges. Die Schwestern setzten sich unermüdlich dafür ein, dass Frauen eine ebenso fundierte medizinische Ausbildung zuteilwerden konnte wie Männern. Durch ihren lebenslangen Einsatz wurden sie von ambitionierten jungen Frauen zu öffentlichen Personen, die bedeutenden Anteil daran hatten, dass der Bereich der medizinischen Ausbildung für Frauen weitgehend geöffnet wurde. Nele Thiemann

Susanne Kerckhoff

Susanne Kerckhoff

Die verlorenen Stürme. Berlin: Verlag Das kulturelle Gedächtnis 2021. 232 S., 22 €

Susanne Kerckhoff.

Wie die Nazis aufhalten? Was soll auf unserm Flugblatt stehen? Warum versagen die Eltern? Ist das Bürgertum schuld oder die SPD? Das sind Fragen, die links fühlende 17-Jährige vor und nach der Katastrophe stellen. Eine Klasse von Berliner Primanerinnen und ihre Freunde durchleben »Die verlorenen Stürme« von Susanne Kerckhoff – 1947 erschienen und in der Neuausgabe als »Widerstandsroman« aus jugendlicher Perspektive gelobt. Freilich, der Widerstand beschränkt sich auf Plakatieren im Wahlkampf, ein Scharmützel mit SA-Burschen und Renitenz gegen völkischen Unrat in der Schule. Wichtiger sind die nervösen Debatten der jungen Aktivisten und Aktivistinnen, glatt sortiert von Kommunistin bis Liberaldemokrat. Sie sehen Tod und Verderben kommen, klagen Mitläufer und Gleichgültige an. Die schlechteste (und interessanteste) Figur macht ein Erfolgsschriftsteller, der Parteien und Engagement verabscheut; sein Eskapismus wird am Ende gegeißelt. Das besorgt die Tochter des Autors in der Einsicht, dass Jugend sich radikalisieren muss, damit nicht nur die Rechte radikal ist. Die arglose Schwärmerin Marete wird zur überzeugten Sozialistin. Revolutionäre Arbeitslose und Künstler, Marx-Lektüre, Tucholsky-Lieder stählen ihren Idealismus. Bezeichnend die Szene, in der das vom Vater verbannte Mädchen von einer Tante trotzig den Kauf der »Weltbühne« verlangt – ausgeschlossen für eine gutbürgerliche Familie. So erwartbar sind alle Markierungen in der mit 25 leeren Seiten gestreckten Ausgrabung, die nicht spart an Ausrufezeichen, Pathos und Melodram. Die Dürftigkeit der literarischen Gestaltung ist wohl auch zeittypisch, ebenso das einheitsparteiliche Mantra (»wir mit unseren blauen Hemden«) vom Aufbau des neuen Deutschland. Solche Mode hat sich erledigt. Der ganze expressionistisch behauchte Bildungsroman ist schlecht gealtert. Sven Crefeld

Joris-Karl Huysmans

Joris-Karl Huysmans

Die Schwestern Vatard. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Berlin: Friedenauer Presse 2021. 269 S., 20 €

Joris-Karl Huysmans.

Allein schon, wie er einen Starkregen toben lässt; wie er das Rangieren von Lokomotiven als höllisches Spektakel inszeniert; wie er seitenlang den Nippes der »Ramschreligion« oder die Ödnis von Familienfotos besichtigt; wie er ein Parfüm als »Kräutersoße« verspottet; und wie oft die Peitsche des Semikolons knallt, sein bevorzugtes Satzzeichen. Großartige, kompromisslose Literatur von 1879: Bei diesem Huysmans gerät man aus dem Häuschen. Alles an seinem Zweitling »Die Schwestern Vatard« ist zu feiern. Zunächst die Entdeckung, dass jener Roman aus Zolas Schule endlich auf Deutsch zu haben ist. Sodann die Schönheit der Broschur, die gepfefferte Übersetzung, das elegante Nachwort, der fingierte Artikel, mit dem Huysmans sich selbst porträtierte (und kritisierte). Ein Like noch für seinen Satz: »Einem Mann aus Leipzig werde ich mich immer näher fühlen als einem aus Marseille.« Das Buch folgt dem Programm des Naturalismus, indem es proletarisches Leben ohne sittsame Schonung zeigt, Schockwörter inklusive. Zwei junge Frauen der Pariser Unterschicht tragen die Handlung, ihre Triebe und Träume sind eng umrissen. Sie arbeiten in einer Buchbinderei, die ein faszinierender Mikrokosmos ist; Céline sucht nebenher Amüsement und Liebschaften, Désirée wartet auf kleinbürgerliches Glück. Überhaupt wird viel auf Männer und ihre Entschlüsse gewartet, es regnet ständig, Alkohol fließt reichlich. Selten Trost geben schäbige Kaschemmen und Stundenhotels, eine Kirmes und billige Varieté-Theater. Solchen 08/15-Stoff wandelte Huysmans mit ätzendem Sarkasmus zum grellen Milieubild, das seine Gabe des malerischen Blicks beweist. Erst 2019 fand er mit der »Pleïade«-Ausgabe zur Kanon-Ehre in Frankreich; nun stellen ihn auch die »Schwestern« ins beste Licht. Sven Crefeld

Volker Reinhardt

Volker Reinhardt

Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit. Eine Biographie. München: C. H. Beck 2022. 608 S., 32 €

Volker Reinhardt.

Wie kein anderer Philosoph und Schriftsteller steht François-Marie Arouet (1694–1778), der sich Voltaire nannte, für die Aufklärung. Auch die Deutschen haben ihn bewundert und verehrt – obwohl uns der Typus des Intellektuellen, den er verkörpert, im Grunde fremd, sogar suspekt ist. Denn im Gegensatz zu seinen deutschen Kollegen philosophierte Voltaire nicht einsam in einer Dachkammer vor sich hin, Monsieur wohnte in Schlössern, liebte kluge Frauen und vermehrte seinen Reichtum durch riskante Finanzgeschäfte. Seine Feinde bekämpfte er unerbittlich und mit allen Mitteln. Aber wenn es sein musste, machte er seinen Kotau vor Staatsmacht und Kirche. Anders als Kant, Fichte, Hegel hat Voltaire kein eigenes philosophisches System geschaffen, dafür zwei Versepen, fünf Geschichtswerke, fast fünfzig Theaterstücke; dazu kommen unzählige Briefe und Kampfschriften. Seine Arbeitskraft war ebenso unermesslich wie sein Ehrgeiz und seine Egozentrik. Wer sein erstaunliches Leben und Werk näher kennenlernen möchte, findet in Volker Reinhardts gut lesbarer Biografie, was sie oder er braucht, zumindest fürs Erste. Sagen wir so: Wir erfahren zwar vieles, zum Beispiel, was sich in all den Dramen und Novellen abspielt, aber letztlich nicht so viel. Wie hat es Voltaire eigentlich geschafft, zu einer intellektuellen Weltmacht zu werden? Wie funktionierte sein europaweites Netzwerk, das es ihm ermöglichte, diese Macht auszuüben? Das hätten wir gerne genauer gewusst. Was soll’s, auf alle Fälle macht Reinhardt Lust auf mehr: nämlich Voltaires Werke selbst zu lesen. Und das ist weiß Gott nicht das Schlechteste, was sich über eine Biografie sagen lässt. Olaf Schmidt

Markus Thielemann

Markus Thielemann

Zwischen den Kiefern. Greifswald: Katapult 2021. 304 S., 20 €

Markus Thielemann.

Kasimir, der halbgare Nihilist, ist beseelt vom Hass auf alles Zivilisatorische. Seine jugendliche Tochter Mia kennt die Welt nur über ihren Vater, der ihr ein unerbittlicher Erzieher war. »Kasimir tat ständig Dinge, die sie nicht verstand.« Die letzten zehn Jahre verbrachten die beiden isoliert vom Treiben der Menschen in der »Wildnis«. Wenn sie nicht in seinem Sinn agierte, sperrte er sie in eine Holzkiste. Plötzlich entdeckt Mia (aufgewachsen ohne Mutter) den friedlich schlummernden Sören (aufgewachsen ohne Vater) im Wald. Besonders seine Ohrläppchen haben es ihr im weiteren Verlauf des Romans angetan. Sören ist frisch entkommen aus den liebevollen Fängen seiner künstlernden Mutter. Nach einigen Prüfungen auf Herz und Nieren wird Sören Mitglied der zweiköpfigen Familie, die dem Terror der Zivilisation mittels rabiater Tierbefreiung, Abfackeln von Getreide und Ähnlichem die Harke zeigt. Den Kopf voller Schwurblerquark, wird Mias Vater schnell Sörens persönlicher Mephisto. Obgleich alles im Wendland der Gegenwart spielt, scheinen manche Ereignisse ordentlich an den Haaren herbeigezogen. Alles scheint einzig auf den großen Showdown hin ausgelegt. Dass eine Kleinfamilie viele Jahre im Wald und auf der Heide ungestört ihr Unwesen treiben kann, ist unwahrscheinlich: Wo sind die Bullen mit ihren Wärmebildkameras, wenn man sie braucht? Vielleicht hat ja die Lesegeneration Greta/Luisa ihren Spaß daran. Oder ist es ein Fall von Schreibschulenfluch, der für die Mätzchen im Roman (krude Botschaften englischsprachiger Internettrolle, getollschocktes Erzählen und filmähnliches Finale) erantwortlich zeichnet? Ein komisches Buch, zu viele formale Schlenker und eine Story, die im brasilianischen Regenwald funktionieren könnte, nicht jedoch in der Kulturlandschaft des Wendlands. Frank Willmann

Lucy Fricke

Lucy Fricke

Die Diplomatin. Berlin: Claassen 2022. 254 S., 22 €

Lucy Fricke.

Fred ist seit 20 Jahren Diplomatin, sehr erfahren, trotzdem fällt es ihr schwer, den Tag der Deutschen Einheit auszurichten: erst in Montevideo, dann in der Türkei. Während der Vorbereitungen wird im sicheren Uruguay die Tochter von prominenter Presse-Elite entführt. Fred kümmert sich, dennoch wird ihr Verhalten als mangelhaft eingestuft. Es folgt die Versetzung in die Türkei. Auch hier kümmert sich das Personal um ihre emotionalen Lagen und Bedürfnisse, mittels Steaks, Granatapfelsaft und treffenden Worten. Denn Fred reist nunmehr ohne MAP, den »man at the pool«. Hier wird sie der Unmenschlichkeit und Duldsamkeit ihrer eigenen und der türkischen Regierung gewahr. Beide lassen Unschuldige verhaften. Eine aktivistische Künstlerin und ihr Sohn sind diejenigen, die Freds diplomatisches Geschick herausfordern, auch der Journalist, der in Montevideo ihre Karriere hätte zu Fall bringen können, bedarf Freds Verstand und Armen. Am Ende werden überzeugend Regeln gebrochen und Systeme ausgehebelt, weil eine ihre Macht für die Gerechtigkeit zu nutzen weiß. Frickes Sprache ist nah an den Figuren. Wie bereits in »Takeshis Haut« dringt Fricke in eine Berufswelt in all ihrer Komplexität und ihren Verantwortlichkeiten ein. Wie bereits in ihren vier vorhergehenden Romanen schreibt Fricke über Klasse: Sie spürt deren Einschreibungen in Körper, Verhalten und Gedankenwelt auf und schreibt sie als selbstverständlichen Anteil ihrer Figurenwelten und -konstellationen. Fricke ist ein politisch wichtiges und eindringliches Buch gelungen, das aufzeigt, dass Regeln genutzt und umspielt werden können. Suse Schröder