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Rezensionen

Hervé Guibert

Hervé Guibert

Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin: August Verlag 2021. 280 S., 20 € / Zytomegalievirus. Krankenhaustagebuch. Aus dem Französischen und mit einem Kommentar von Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin: August Verlag 2021. 80 S., 10 € / Verrückt nach Vincent / Reise nach Marokko. Aus dem Französischen von JJ Schlegel. Berlin: Albino Verlag 2021. 180 S., 20 €

Hervé Guibert.

Vor 30 Jahren starb der schwule französische Autor, Fotograf, Filmemacher und Kritiker Hervé Guibert; er war an AIDS erkrankt und nahm sich das Leben, bevor die Krankheit ihm ein Ende setzte. Vier seiner Werke wurden nun neu aufgelegt beziehungsweise erstmals auf Deutsch übersetzt. Die beiden aufeinander Bezug nehmenden Erzählungen »Verrückt nach Vincent« und »Reise nach Marokko«, übersetzt von JJ Schlegel, erschienen in einem Band im Albino Verlag. Dass dieser auf ein Vor- oder Nachwort verzichtet hat, ist schade, denn gerade diesen Werken, in denen mit einer auf Kinder und Jugendliche gerichteten Sexualität kokettiert wird, Grenzen mäßig konsensuell überschritten und, teils mit rassistischem Vokabular, Orient-Projektionen aufgerufen (und dekonstruiert) werden, hätte eine Form der Einordnung gutgetan. Zum Einstieg in Guiberts Werk, das zu lesen sich definitiv lohnt, empfehlen sich eher die Veröffentlichungen des August Verlags, die lakonisch, dringlich, zärtlich die Themen AIDS und Freundschaft, Tod und Krankenhausrealität verhandeln (und dabei mit einem von Wildtieren stammenden Virus, der Angst, die Geliebten anzustecken, und der Hoffnung auf einen Impfstoff beim Lesen eine Art Déjà-vu produzieren); und auch das bereits 2017 bei Diaphanes erschienene, von Katrin Thomaneck übersetzte Buch »Meine Eltern« soll hier genannt sein. In all diesen autofiktionalen, teils tagebuchhaften Werken Guiberts sind es seine Sprachgewandtheit (und die seiner Übersetzer:innen), seine traurige, komische Selbstironie und verzweifelte Übertreibung (eine »astronomische Menge Blut« wird abgezapft, einem »fanatischen Zitronenkonsum« sich hingegeben) sowie die Bereitschaft zur Offenlegung seiner selbst, die ihren literarischen Reiz ausmachen, Rausch und Nähe provozieren. Dass Guibert sein eigenes Leben und Sterben so schonungslos als Material für seine Werke nutzt, hat allerdings die Kehrseite, dass auch die der anderen mitverarbeitet werden. (...) Anna Kow

Marlen Pelny

Marlen Pelny

Liebe / Liebe. Wien: Haymon Verlag 2021. 216 S., 19,90 €

Marlen Pelny.

»Ich fühlte mich belagert und eingekreist von einem fiebrigen Etwas, das sich klebrig an mich presste und nicht mit sich reden ließ.« Sascha findet keine Sprache für das, was ihr geschieht. Sie wächst in einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt auf, mit einer Mutter, die zwar physisch da, ansonsten aber komplett abwesend ist, die meiste Zeit am Fenster steht und Ausschau nach dem Vater hält. Es herrschen aggressive Sprachlosigkeit und stumme Gewalt. Niemand erklärt irgendetwas und Sascha stürzt in eine Verzweiflung, die sie nicht begreift. Warum tun die Besuche bei Papa immer so weh und warum tut Mutter nichts, auch dann nicht, wenn der Vater zurückkommt und aus den schmerzlichen Besuchen eine allabendliche Tortur wird – Papas »Gute-Nacht-Kuss«? Sie hat es doch gesehen. »Liebe / Liebe« ist eine brutale wie zarte Erkundung dessen, was sich hinter diesem Wort alles verbergen kann. Die Trennung im Titel ist programmatisch. Denn nachdem Sascha mit 14 Jahren zu ihrem Großvater kommt, fängt sie an zu begreifen – was ihr geschehen ist und dass es auch anders geht. Sie findet eine liebevolle neue Familie bei dem Großvater, der ebenfalls einen Wandel hinter sich hat, mit dem Hund Rosa und ihrer Freundin Charlie. Weit weg von der Vergangenheit, die sie dann doch einholt und mit der sie als junge Erwachsene noch einmal konfrontiert wird. Marlen Pelny hat eine Coming-of-Age-Geschichte geschrieben, über verletzte Heldinnen, die den Mut aufbringen, mit den Narben der Vergangenheit zu leben. Sie schafft eine durchdringende wie poetische Sprachwelt, die nah an ihrer Figur ist. Auch wenn manchmal zu viel Pathos mitschwingt und die Bewältigung der Vergangenheit Spuren einer fast filmischen Action-Inszenierung trägt, mit Selbstjustiz, Rache und klarer Trennung zwischen Gut und Böse, ist es eine im besten Sinne verstörende Lektüre über familiäre Abgründe, die zugleich ermutigen will, Wege heraus zu finden Martina Lisa

Blai Bonet

Blai Bonet

Das Meer. Aus dem Katalanischen von Frank Henseleit. Köln: Kupido 2021. 273 S., 27,80 €

Blai Bonet.

In diesem Jahr ist erstmals eine deutsche Übersetzung von Blai Bonets 1958 erschienenem katalanischem Roman »El Mar« veröffentlicht worden, und schon nach den ersten Seiten fragt man sich: Warum zur Hölle erst jetzt?! Vielleicht eine Bestätigung des kulturpessimistischen Gejammers jener Miesepeter, die in Anbetracht des massenhaft verlegten und rezipierten Schnotters an zeitgenössischer Popliteratur lieber zu den Klassikern aus einer idealisierten Vergangenheit greifen, als die kulturindustrielle Gehirnwäsche noch keine totalitäre Reichweite hatte? Mag sein. In jedem Fall aber wird uns ein Meisterwerk geschenkt, das man unbedingt lesen sollte und immer wieder lesen möchte. Etwas ganz Großes, bei dem der Vergleich mit Pasolini oder der radikalen französischen Literatur durchaus angemessen ist – hier scheint eine Qualität des Heiligen auf, die nichts mit der armseligen Bigotterie der institutionalisierten Religionen zu tun hat. Im Rausch der Lektüre erlebt man in einem der Zeit enthobenen Anti-»Zauberberg« Leiden und Sehnsüchte schwer kranker Jugendlicher in einer mallorquinischen TBC-Klinik während der faschistischen Okkupation. Diese siechen körperlich dahin, ersticken an ihren psychischen Traumata, versuchen im fiebrigen Delirium Gott, ihre Schuld, den Schmerz, das Leben und den Tod zu ergründen, aber zugleich bemerken sie auch ihre heranwachsenden Körper und kommen sich erotisch näher. Nichts ist dabei klar, die außergewöhnliche Sprache überwältigt mit poetischen Landschaftsbildern, dunklen Rückblicken, erratischen Spekulationen und opaken inneren Monologen, in der sich eine ekstatische Intensität verdichtet, die am Kern der Existenz rührt. Thorsten Bürgermann

Ciani-Sophia Hoeder

Ciani-Sophia Hoeder

Wut und Böse. München: Hanser 2021. 206 S., 18 €

Ciani-Sophia Hoeder.

Die Wut meiner Mutter bahnte sich ihren Weg durch den gesamten Laden, und das Gesicht ihres Gegenübers wurde hart, kalt und distanziert. Niemand hörte mehr zu.« So erinnert sich Ciani-Sophia Hoeder in »Wut und Böse« daran, wie ihre Mutter einst zu Recht wütend wurde, ihre Emotion aber als Ausrede diente, ihr nicht zuzuhören. Diese Delegitimierung der Wut und ihre Folgen für Betroffene ziehen sich als roter Faden durch das Buch. Hoeder ist die Gründerin des Rosamag, des ersten deutschsprachigen Magazins für Schwarze FLINTA* (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche sowie nichtbinäre und trans oder agender Personen). Ihr erstes Buch »Wut und Böse« handelt vom Potenzial und Stigma von Wut. Sie nimmt den abwertenden Umgang mit Wut von Frauen und mehrfach marginalisierten Gruppen auseinander und ordnet ihn diskriminierungskritisch ein: So könne sich zum Beispiel eine lächelnde Frau nicht gegen sexuelle Belästigung wehren. Unter sechs Gesichtspunkten nimmt Hoeder die unterschiedlichen Fragen, die Wut betreffen, unter die Lupe. Biologisch, psychologisch und politisch ordnet sie die Wut als Emotion und Tool ein. Anschließend geht sie auf die Spurensuche weiblicher Wut und wütender weiblicher Vorbilder, wie zum Beispiel Rosa Parks. Intersektionalfeministisch macht sie die Beziehung zwischen Wut und Diskriminierung sichtbar. »Wut und Böse« ist ein Aufruf, Wut umzudefinieren und aufzuwerten. Dafür macht Hoeder in klarer und zugänglicher Sprache für die Lesenden verständlich, wozu Wut gut und notwendig ist. Sie schildert ihre persönlichen Erfahrungen und die anderer, ordnet diese mit Hilfe von Expertinnen und wissenschaftlichen Studien politisch ein. Das 14 Seiten starke Quellenverzeichnis ist zudem eine gute Sammlung von Texten zum Thema. Sibel Schick

Joseph Ponthus

Joseph Ponthus

Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik. Aus dem Französischen von Mira Lina Simon und Claudia Hamm. Berlin: Matthes & Seitz 2021. 239 S., 22 €

Joseph Ponthus.

Der französische Schriftsteller Joseph Ponthus erzählt in seinem autofiktionalen Text »Am laufenden Band« keine gute Geschichte – weder in Inhalt noch Form. Er schreibt vielmehr freie, ja wilde Stakkatoverse über seine Erfahrungen bei einer Zeitarbeitsfirma. Lesende tauchen ein in den Kosmos von Fisch-, Tofufabrik und Schlachthof. Es geht um Kollegialität, Frust, Müdigkeit, Monotonie, Kälte und die paradoxe Angst, zu versagen und den knechtenden Job zu verlieren. »Es gibt die Rückenschmerzen und die Erschöpfung, aber auch die Freude.« Arbeit prägt jeden von uns, Arbeit muss durchgehalten werden. Außerdem hängen mit der Arbeit bekanntlich die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsverhältnisse zusammen. Verhältnisse, mit denen es mancherorts nicht zum Besten steht. Seine bedrückenden Erfahrungen würzt Ponthus allerdings nur sparsam mit Klage und Marx, dafür etwas reichlicher mit melancholischem Humor, Apollinaire und Perec. Ein ambivalenter, ein kluger Schachzug. Nein, das Thema Arbeit und Arbeiterliteratur ist noch nicht durch – das wenigstens scheint die Meinung des Autors gewesen zu sein, der man sich nur anschließen kann. Solche Ausführungen braucht es in Zeiten, in denen über bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert wird, nach wie vor. Leider ist Ponthus im Februar 2021 an Krebs verstorben. »Am laufenden Band« ist vielleicht kein schönes Buch – besonders und besonders empfehlenswert ist es dafür umso mehr. Juliane Zöllner

Tsitsi Dangarembga

Tsitsi Dangarembga

Überleben. Aus dem Englischen von Anette Grube. Berlin: Orlanda 2021. 376 S., 24 €

Tsitsi Dangarembga.

Hierzulande ist Simbabwe aufgrund der Dauerregentschaft Robert Mugabes bekannt, der Jahrzehnte nach dem Sturz des von der Apartheid gezeichneten Rhodesien das Land als greiser Diktator an den Rand des Kollaps brachte. Im dritten Teil von Tsitsi Dangarembgas Trilogie über eine Simbabwerin, die sich nun im mittleren Alter durchs Leben schlägt, werden die desaströsen und gewaltvollen Zustände vor Ort zum Gegenstand einer gerade durch ihre Alltagsnähe deprimierenden Story: Tambudzai, die in tribalen Dorfstrukturen aufwuchs, im Unabhängigkeitskrieg kämpfte, sich zur Akademikerin hochgearbeitet hat, ist trotzdem arbeitslos oder permanent davon bedroht. Sie lebt erst mittellos in einem schäbigen Hostel in Harare, nach einem Nervenzusammenbruch bei ihrer Schwester auf dem Land. Getrieben von ihrem starken Willen, wieder auf die Beine zu kommen, nimmt sie, die sich selbst nur depersonalisiert anspricht, jede Entbehrung und Demütigung in Kauf: »Du musst dich mit dem begnügen, was du hast, und damit, um wie viel besser es ist als dort, wo du gewesen bist.« Schließlich findet sie einen neuen Job bei einer hippen, gegreenwashten Tourismusagentur, die für reiche Europäer pseudoauthentischen Urlaub im urbanen Ghetto oder im exotischen Dorf anbietet. Tambudzai muss für ein bisschen bürgerlichen Wohlstand alles vermarkten, was ihre Identität als schwarze Frau mit stammeskulturellen Wurzeln ausmacht – bis ihre Selbstverleugnung erneut mit den Realitäten kollidiert. Der episodische Charakter der stilistisch leider nicht immer ganz überzeugenden, aber vom Sujet her sehr lesenswerten Geschichte gewährt zwar eine breite Varianz an realistischen Einblicken in die Antagonismen der modernen simbabwischen Gesellschaft, er ist gleichwohl aber auch die große erzählerische Schwäche des dadurch zerfallenden Romans. Thorsten Bürgermann

Claire-Louise Bennett

Claire-Louise Bennett

Kasse 19. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Berlin: Luchterhand 2023. 304 S., 22 €

Claire-Louise Bennett.

Wer Bücher für ihren Plot liest, ist hier an der falschen Adresse. Wer für Bücher und ebenso wegen ihnen lebt, findet in Claire-Louise Bennett eine zuverlässige Komplizin. Die Wahl-Irin widersetzt sich für »Kasse 19« allen Erwartungen, die der gegenwärtige Bildungsroman aufruft. Zugleich schreibt sie somit »den« modernen Bildungsroman. Ihre Methode ist jedoch kein Formexperiment der Moderne, vielmehr geht es hier um die Erfahrbarkeit des Schreibens und das Schreiben als Erfahrung. Das Buch gibt die Gedankenwelt eines heranwachsenden Mädchens wieder, ihr Entdecken der Literatur, ihre ersten Schritte als Autorin. Es kartografiert das Schreiben als Gedankenstrom. Autofiktionales vermischt sich mit Kurzprosa, Literaturkritik und Auflistungen. In mehreren Vignetten folgen die Lesenden der Protagonistin, die im Roman abwechselnd in der ersten Person – mal Singular, mal Plural – erzählt oder nur als »sie« erscheint. Ihre Gedankenwelt ist ein Sog: In »Kasse 19« entstehen Wortneuschöpfungen, verwirren sich innere Monologe, werden zu Dialogen, spiegeln sich Gedanken und Gedankensprünge. Die Erzählsprache des Romans ahmt das Entdecken der Befähigung nach, sich selbst auszudrücken: Zu Beginn erscheint die Prosa als hastige Notizen und Gedankenströme, sie reift erst über die Leseerfahrung der Protagonistin und mit ihrem Entdecken weiterer Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Schließlich entsteht eine sichere Stimme, die gegen Ende des Buches schockiert, überrascht und sofort zum Wiederlesen animiert. Passenderweise stellt Claire-Louise Bennett als Credo einen Auszug aus Ingeborg Bachmanns »Malina« voran: »Ausdruck ist Wahn, entspringt aus unserem Wahn« – und für diesen hätte Luchterhand keine bessere Übersetzerin engagieren können als Eva Bonné. Marcel Hartwig

Stéphane Courtois, Galia Ackerman (Hg.)

Stéphane Courtois, Galia Ackerman (Hg.)

Schwarzbuch Putin. München: Piper 2023. 512 S., 26 €

Stéphane Courtois, Galia Ackerman (Hg.).

Ein Schwarzbuch ist Anklageschrift, Sündenregister und Kriminalakte. Es gibt Dutzende Schwarzbücher zu Ideologien, Staaten oder Religionen – nur wenige zielten auf eine Person. Der Gewaltherrscher und Kriegstreiber Putin verdient diese negative Auszeichnung zweifellos. In »seinem« Schwarzbuch findet sich neben dem langen Kerbholz kühl kalkulierter Verbrechen ein krasses Psychogramm, das allen Illusionen über rationale Verständigung mit diesem Regime ein Ende setzen sollte. Die Herausgeber des sehr informativen Sammelbandes sprechen von »Wahnvorstellungen« und »Phantasmen« eines gekränkten, hasserfüllten Mannes, der an sein Gerede über die Mission einer »Russischen Welt« glaube. Putin sei der Meister der Bewirtschaftung von Ressentiments und Traumata seines Volkes, meint der Historiker Karl Schlögel. In und mit dem blassen Ex-Geheimdienstoffizier bildete sich eine Giftmischung aus KGB-Methoden, mafiöser Bandenstruktur, totalitärem Machtwillen und reaktionären Narrativen. Dass Putin jegliche liberale Ordnung zum Kampf herausfordert, beeindruckt auch hierzulande viele Verächter der Demokratie, die auf ihren Führer warten – heim ins Zarenreich, sozusagen. Die 24 gut portionierten Essays beleuchten innere und äußere Aspekte einer neo-imperialen Diktatur, deren Wesen die Unterdrückung, Aggression und Expansion ist. Im Detail werden die Angriffe beschrieben, bei denen der Westen hätte aufwachen müssen: Grosny, Georgien, Krim, Syrien, Donbass … Der Ausblick des Buches prophezeit bald fällige Machtkämpfe in Moskau, denn Putin dürfe seine sträfliche Unterschätzung der Ukraine nicht eingestehen. Er sei inkompetent und werde scheitern, sei aber bereit, dabei Russlands Zukunft zu zerstören. Die Hoffnung auf »dynamische neue Kräfte« nach seinem Sturz bleibt diffus. Sven Crefeld

D Hunter

D Hunter

Auf uns gestellt. Armutsklasse, Trauma und Solidarität. Aus dem Englischen von Isabelle Suremann. Hamburg: Edition Nautilus 2023. 256 S., 20 €

D Hunter.

»Auf uns gestellt« erzählt davon, wie Menschen zerstört werden. Von herrschaftlichen Strukturen und den davon bereits Beschädigten, die diese Beschädigung an ihre Nächsten und Nachkommen weitergeben. Was dadurch entsteht, ist weniger ein Kreislauf als ein Geflecht der Gewalt, in dem Handlungen, die dem (gemeinschaftlichen) Überleben und dem Erhalt der eigenen Würde dienen, und Handlungen, die die Gewaltgeschichte fortschreiben, manchmal ein und dasselbe sind. D Hunter, der in Verhältnissen »unterhalb der Arbeiterklasse« aufwuchs, fing in der Psychiatrie an zu lesen; sein erstes, im Selbstverlag herausgebrachtes Buch »Chav Solidarity« stieß auf große Resonanz. »Auf uns gestellt« kombiniert Theorie und persönliche Erfahrung zu einer Form der Autoethnografie. Dabei verweigert sich Hunter einer Einordnung in Gut und Böse – sowohl, was die Menschen in seinem Leben, als auch, was ihn selbst angeht. Sein Buch fordert heraus, nicht nur wegen der darin geschilderten Brutalität, sondern auch weil der Autor das Konzept der individuellen Verantwortung, der Individualität als Ideal überhaupt, begründet in Frage stellt. Seine These lautet, dass die strukturelle und konkrete Gewalt, der Angehörige der Armutsklasse ausgesetzt sind, bewusste Entscheidungen nahezu verunmöglicht. Das Gefängnissystem trägt indes nicht zur Heilung bei, sondern verfestigt die Logik der Unterdrückung. Hunter sieht die einzige Lösung daher im Ansatz der transformativen Gerechtigkeit, einem Community-basierten Konzept, das Sicherheit, Reparation und kollektive Transformation ohne Anrufung der Staatsmacht zu erlangen versucht. Seine Frage lautet nicht: »Wie kommt es, dass jemand kriminell und/oder gewalttätig wird?«, sondern: »Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, dass man es nicht werden muss, und wie sehr haben diese Bedingungen mit der Ungleichverteilung von Ressourcen in unserer Gesellschaft zu tun?« Unbedingt lesenswert. Anna Kow

Penelope Mortimer

Penelope Mortimer

Bevor der letzte Zug fährt. Aus dem Englischen von Kristine Kress. Zürich: Dörlemann 2023. 225 S., 26 €

Penelope Mortimer.

Eine Frau hat ihre Söhne zum Internat begleitet und ist nebst Einkäufen zurück in ihren Londoner Vorort gefahren. Das Haus ist leer, Tochter Angela winkte soeben von einer wegfahrenden Vespa. Die Hauptfigur gießt sich einen Drink ein und beginnt ein Selbstgespräch. »Natürlich mussten wir heiraten«, sagt sie. »Vermutlich hätten wir trotzdem glücklich werden können. Aber wir waren es nie. Ich glaube, wir hassen uns.« Ruth Whiting, 37 Jahre alt, wird langsam verrückt ob ihres Alltags. Sie ist einsam und nur zu sich selbst ehrlich. Das Leben in der Idylle verdammt zur Unfreiheit. Die Männer der Kommune arbeiten in der Londoner City und kommen nur am Wochenende heim, die Kinder wachsen in Internaten auf. Geld und Bewegungsradius der Frauen sind limitiert und überwacht. Die Nachmittage sind länger als die Nächte. Sherry hilft nur mäßig. Penelope Mortimer schrieb Drehbücher, drei Romane und eine Autobiografie, zog sechs Kinder groß und war zweimal verheiratet. 1958 veröffentlichte sie 40-jährig ihren zweiten Roman unter dem Titel »Daddy’s Gone A-Hunting«, ins Deutsche übertragen von Kristine Kress als »Bevor der letzte Zug fährt«. Aus den Selbstgesprächen Ruths und den Dialogen mit ihrem stets genervten Ehemann, ihrer rebellischen 18-jährigen Tochter und der in Babysprache plappernden Nachbarin entsteht eine albtraumhafte Realität in lieblicher Landschaft. Bittersüß zynisch in modernes Deutsch übertragen, erzählt uns der Roman ein halbes Jahr des Lebens einer Frau, die sich scheinbar aufgegeben hat. Doch Angela wird ungewollt schwanger. Ruth erkennt die Chance, ihrem Kind einen anderen Weg zu ebnen. Sie erwacht. Ein emanzipatorisches Buch, zeitlos und beglückend in seiner Direktheit Anne Hahn

Jón Kalman Stefánsson

Jón Kalman Stefánsson

Dein Fortsein ist Finsternis. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. München: Piper 2023. 540 S., 25 Euro

Jón Kalman Stefánsson.

In einem Fjord im Norden Islands leben zwei Handvoll Menschen, die wir alle kennenlernen. Ausgehend von einem namenlos bleibenden Ich-Erzähler, der sein Gedächtnis verloren hat und mit einem teuflischen Gegenüber diese Geschichten vorantreibt. Da gibt es einen jungen Mann, der mit einer Schrotflinte auf LKWs geschossen hat und deshalb ins Gefängnis muss. Oder den alten Mann, der ohne Brille gefährliche Manöver am Steuer fabriziert. Oder die alte Frau, die von ihrer verstorbenen Nachbarin träumt und mit deren Botschaft bei diesem halbblinden Alten auftaucht und zur Bekräftigung ihrer Botschaft von den sexuellen Vorlieben des vormaligen Paares erzählt. Sex kommt sonst meist nur in der Fantasie der Figuren vor. Wir erleben einhundertzwanzig Jahre Fast-Liebesgeschichten, munter durch die Zeit gesprungen. Ein Pfarrer besucht eine Bäuerin, die überraschend einen Artikel über Regenwürmer geschrieben hat. Natürlich ist er verheiratet, und sie auch. »Sie tritt aus dem Haus, und es geschieht etwas mit der Welt, als sie lächelt.« Leider wird viel gelächelt im neuen Roman Jón Kalman Stefánssons. Verkorkste Liebesdramen ähneln sich – ein Sohn liebt wie einst sein Vater eine Frau, die bereits vergeben ist und ihre Familie nicht verlassen will – ein schmaler Rücken wird erneut bewundert oder mehrfach betont, eine habe Hände aus Licht, wie die andere das Lächeln, das die Welt verändert. Jón Kalman Stefánssons Romane waren bisher schon morbide, jetzt liefert er zu 500 Seiten Sehnsucht eine Playlist des Todes mit reichlich Refrains und Belehrung. Pétur, der Pfarrer, und Guðríður, die Hochlandfrau, sind das Liebespaar, bei dem man verweilen mag, mehr teilhaben wollte an ihrem heimlichen Glück und den wilden Ritten. Aber sie alle sind tot. Anne Hahn

Johannes Herwig

Johannes Herwig

Halber Löwe. Hildesheim: Gerstenberg 2023. 240 S., 18 €

Johannes Herwig.

Verantwortung – das ist eines dieser Erwachsenenwörter, die einen am Boden der Tatsachen festnageln. Verantwortung für ein Meerschweinchen zu übernehmen, kann schon manchmal nerven, aber was, wenn ein Menschenleben vom eigenen Handeln abhängt? Sascha, Ich-Erzähler und Protagonist in Johannes Herwigs neuem Jugendroman »Halber Löwe«, hängt am liebsten mit seinen Kumpels in einem Abrisshaus rum. Er ist sechzehn, die Sommerferien und das letzte Schuljahr liegen vor ihm. Es ist die Nachwendezeit in Leipzig, die Lebensläufe der Elterngeneration sind zerbrochen. Saschas alleinerziehende Mutter arbeitet als Krankenschwester im Schichtdienst, er kümmert sich währenddessen um seine kleine Schwester Jacky. Wenn Sascha mit seinen Freunden zusammen ist, denken sie sich Mutproben füreinander aus, immer am Rand (oder jenseits) des Legalen. Dann kommt kurz vor den Ferien Marcel neu in die Klasse. Ein stiller, merkwürdiger Typ, den Sascha unter seine Fittiche und mit zur Clique nimmt. Um akzeptiert zu werden, muss Marcel sich einer riskanten Aufgabe stellen. Die Folgen dieser Mutprobe ziehen Sascha den Boden unter den Füßen weg. Man folgt Sascha gern durch seine nicht einfache Welt. Trotz spürbarer Wut auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn benachteiligen, kümmert er sich um Schwächere wie Jacky oder Marcel und unterstützt seine Mutter, egal wie uncool andere das finden. »Halbstarke« nannte man mal junge Menschen, die nicht so recht wussten, wohin mit sich und ihrer Kraft. Sascha jedoch ist — mindestens — ein »halber Löwe«: ebenso gefährlich wie fürsorglich und am Ende auch sehr mutig. Andrea Kathrin Kraus

Die großen Brände

Die großen Brände

Ein Roman von 25 russischen Autoren. Deutsch von Rosemarie Tietze. Berlin: Die Andere Bibliothek 2022. 332 S., 44 €

Die großen Brände.

Wie bewiesen, brennen Bücher sehr gut, und es wäre in der Logik dieses heißen Schundromans, wenn am Ende ein grellgelber Schmetterling entschlüpfte, der einen letzten Funken aufs Papier springen lässt. Denn in der fiktiven Stadt Slatogorsk brennt fast alles: Wohnhäuser, das Theater, ein Archiv, Öltanker, der Pulverturm, ein Kleid und seine Besitzerin, eine Villa. Eine Bibliothek nicht, das geht wohl gegen die Berufsehre von schreibenden Pyromanen. Aber wer zündelt hier? Einst waren viele »Feuer und Flamme« für die Revolution, jetzt ist die neue sowjetische Ordnung da, doch das Durcheinander ist gewaltig. Eine ungeklärte Serie von Bränden in der russischen Provinz macht alle verrückt; es gibt Entführungen, Explosionen, Morde und immer wieder Rauch, Glut, Asche. Ein amüsantes Rätselspiel mit Tempo und Witz – wer die Hälfte kapiert, hat gut aufgepasst. Das Buch erschien 1926/27 in der populären Zeitschrift Ogonjok als Fortsetzungsroman. 25 Autoren traten an: heute große Namen wie Isaak Babel und Alexej Tolstoj, aber auch Avantgardisten und »proletarische « Schriftsteller, Satiriker und Journalisten. Sie hatten nur wenige Vorgaben (irgendwas mit Brand) und die Freiheit, die schrille Kolportage beliebig weiterzudrehen. Wir können nun mit Freude am Experiment verfolgen, wie Figuren und Motive eingeführt, später gewendet, vergessen oder liquidiert werden. Die Handlung ist sehr verworren, nie überblickt man das Ensemble aus Ganoven, Mätressen, Intellektuellen, Bürokraten, Volksleuten und Kommunisten. Nicht zu vergessen die mysteriösen Schmetterlinge – als Boten des Feuers flattern sie auch durch die B-Movie- artigen Illustrationen. Am Schluss wird mit dem Autorenkollektiv abgerechnet, der Ort Slatogorsk für »abgeschafft« erklärt. Genialer Trick! Sven Crefeld

Florian Bissig

Florian Bissig

Samuel Taylor Coleridge. Eine Biografie. Zürich: Dörlemann 2022. 272 S., 22 €

Florian Bissig: Samuel Taylor Coleridge.

Der Redner und politische Essayist Samuel Taylor Coleridge sei zu seiner Zeit erfolgreicher und beliebter gewesen als der Dichter. Überliefert sind dennoch die geschriebenen Gedichte, die Reden sind verstummt, die Essays veraltet. So wartet der Schweizer Übersetzer Florian Bissig auch mit der ersten Sammlung von 20 Gedichten Coleridges auf. Im zweisprachigen Band »In Xanadu« finden sich nicht nur die berühmten Poeme »Kubla Khan« und »Die Ballade vom alten Seemann«, sondern auch Coleridges eigentümliche Konversationsgedichte wie etwa »Frost um Mitternacht« oder seine kunstvollen Selbstdenunziationen als minderwertiger Dichter wie zum Beispiel »Schwermut: Eine Ode«. Versehen ist die Auswahl außer mit einem kontextualisierenden Vorwort überdies mit erhellenden Kommentaren zur Publikationsgeschichte der übersetzten Texte. Dass Coleridge getreu den romantischen Präferenzen gerne Dichter gewesen wäre, sich selbst aber – vor allem in seinen späteren Jahren – immer wieder als uninspiriert und untalentiert wahrgenommen hat, lenkt den Blick wieder auf den politischen und philosophischen Schriftsteller. Mit der ersten deutschsprachigen Biografie, die zusammen mit den Gedichtübersetzungen im Dörlemann Verlag erschienen ist, weckt Bissig eine Ahnung vom Leben des englischen Romantikers. Bissig liefert eines der besseren Beispiele dessen, was manche als »Schlafzimmerphilologie« abtun, gerade weil er nicht nur eine Coleridge-, sondern auch eine gut informierte Werkbiografie schreibt. Coleridge erscheint darin als politisch umtriebige und philosophisch ambitionierte Person, die immer wieder an der Welt und sich selbst scheitert. Dass der opiumkranke Coleridge auch Gedichte geschrieben hat und heute eben für diese bekannt ist, erscheint angesichts dessen beinahe nebensächlich. Aber um Gedichte – oder Texte ganz allgemein – ging es im Leben doch noch nie: Es geht jederzeit um Menschen. Und das ist der einzige Wermutstropfen des Bands (...) Fabian Schwitter

Manja Präkels

Manja Präkels

Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte? Essays. Berlin: Verbrecher 2022. 192 S., 19 €

Manja Präkels.

Mit klarer antifaschistischer und antirassistischer Haltung sind Manja Präkels’ vierundzwanzig Essays geschrieben. In ihrem neuen Buch »Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?« greift sie auf Erfahrungen aus den letzten Jahren der DDR, der Wende- und Nachwendezeit zurück und verwebt diese mit Ereignissen, die bis in die aktuelle Gegenwart reichen. Die Autorin betrachtet unter anderem eine »Nachbarschaft, deren Mischung die weltweiten Verteilungskämpfe und kriegerischen Konflikte der letzten Jahrzehnte abbildet«, die Bundesrepublik (»In den halbleeren Abteilen des Regionalzugs funken Fahrgäste vielsprachig in andere Provinzen der Welt hinaus«), Odessa und andere Orte. In den Essays zeigen sich die Kontinuitäten und Zusammenhänge zwischen dem Ende der DDR, der Vereinnahmung durch die BRD und heutigen Ressentiments und Hetzjagden deutlich. Präkels schaut genau, mit einem scharfen, differenzierenden Blick. Ihr zentraler Bezugspunkt ist die Provinz – die vergangene, in der Präkels selbst aufgewachsen ist; die gegenwärtig-abgehängte, auch die durch das Ankommen Geflüchteter und aus den Städten Zugezogener neu belebte. Und die Provinz als Konzept im globaleren Kontext. Präkels kennt sich aus, berichtet von ihren Lesetouren, Begegnungen mit Einheimischen, von ihrer Schlossschreiberinnenzeit mit Hund Scheriff in Rheinsberg und ihren Reisen in ehemalige Sowjet-Republiken. Sie schreibt Opfer-Geschichten, ohne Opfer zu schreiben, historische Lücken und selten gehörte Stimmen werden erzählt. Die Autorin zieht aus ihren Beobachtungen kluge Schlüsse, die in mir rumoren, mich als jüngere Brandenburgerin aus der Provinz retrospektiv neu schauen, Dinge anders begreifen lassen. »Wahrnehmung als Expander, umflirrt von all den Geistern der Vergangenheit und dem utopischen Leuchten der Möglichkeiten einer radikalen Veränderung der Verhältnisse.« Dieses präzise Schauen bündelt sich in Präkels’ dringlichen Texten, die Fragen in die Welt werfen, die widerhallen. Suse Schröder

Ivana Sajko

Ivana Sajko

Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer. Berlin/Dresden: Voland & Quist 2022. 180 S., 22 €

Ivana Sajko.

»Weg-von-hier – das ist mein Ziel«, heißt es in Kafkas Kurzerzählung »Der Aufbruch«, die der deutschen Übersetzung von Ivana Sajkos drittem Roman »Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod« vorangestellt wird: »Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.« Auf so eine Reise begibt sich auch Sajkos Protagonist – ein gescheiterter, von Depressionen geplagter Schreibender, der sich an einem kroatischen Küstenort in den Zug nach Berlin setzt, um neu anzufangen, um (endlich wieder) zu schreiben, um all die Abgründe hinter sich zu lassen. Dass das Rattern des Zuges all das Grausame aus den Untiefen herholt, liegt auf der Hand: »Im Zug nach Berlin gibt es keine Zeit, obwohl es vorwärts geht, bewege ich mich zurück.« Wir folgen der atemlosen Fahrt des Protagonisten, beschrieben in kapitellangen Sätzen, nur durch Kommata getrennt, die wie Bahnschwellen den Rhythmus vorgeben, und ringen zusammen mit ihm nach Luft. Und dieses Ringen nach Luft ist zugleich ein Ringen um die Sprache, nach den richtigen Worten. Es ist eine schonungslose Reise, auf die uns Ivana Sajko in diesem schwarzen Buch schickt – schwarz wie das Notizbuch des Protagonisten. Eine genau komponierte, höchst politische und poetische Parabel, mit etlichen Bezügen und Zitaten – es geht viel um Gewalt, private, geerbte wie gesamtgesellschaftliche, um die Heuchelei der glatt geschliffenen Worte in Kongresshallen und die grausame europäische Flüchtlingspolitik, aber auch um das Schreiben: »vielleicht interessierte ich mich deshalb für Literatur (...), damit ich mich befreien konnte, damit ich in jedem Augenblick die Landschaft, die Sprache, das Schicksal, das Geschlecht ändern konnte« – und darin steckt auch die Hoffnung: im Finden der Sprache. Martina Lisa

Fiston Mwanza Mujila

Fiston Mwanza Mujila

Kasala für meinen Kaku & andere Gedichte. Klagenfurt: Ritter 2022. 250 S., 23 €

Fiston Mwanza Mujila.

Es wird gestorben, verstümmelt, gemordet und immer wieder gehofft in Fiston Mwanza Mujilas gut gesättigten Gedichten. Nachdem er ins Exil nach Europa ging, wurde er eine schreibende Stimme seines Geburtslandes Kongo. Das ist Privileg und Bürde gleichermaßen für ihn, der in vielen Kulturen zu Hause ist, vielleicht in keiner ganz — aber das kann für einen, der mit Sprache arbeitet, auch von Vorteil sein. Bereits der Titel des Buches, »Kasala für meinen Kaku und andere Gedichte«, eröffnet Sprachräume: Kasala bedeutet in Tschiluba, einer Sprache aus dem Südosten des Kongo, Anrufung oder Lobpreisung, und die Kaku ist die Urgroßmutter des Autors. Weil die Kaku in den Erzählungen der Region bis dahin immer männlich konnotiert war, kam dem kleinen Mujila die Urgroßmutter vor wie ein Mann. »Während ich das ihr gewidmete Gedicht komponierte, habe ich ganz bewusst beschlossen, mit dieser Zweideutigkeit zu spielen«, lesen wir am Ende des zweisprachigen Bandes im erhellenden Interview mit dem Autor. Leider ist das Buch nicht in Deutsch/Tschiluba, sondern in Deutsch/Französisch erschienen. Tschiluba hätte uns beim Lesen womöglich durch den Klang betört, uns einen erweiterten Zugang zu seinen Gedichten eröffnet. Doch auch in ihrer deutschen Übertragung sind die Gedichte ein großes, zuweilen im besten Sinne verstörendes Leseereignis, weil es Mujila gelingt, uns in eine ekstatische Welt zu führen, in der »jeder in seinem Winkel / die Kiefer zerschmettert / die Hosen voll« hat. Mujila beschwört historische Ereignisse herauf und spielt auf Begebenheiten in seiner kongolesischen Familie an. Er bezeichnet sich als »Verfechter der Opazität«, der Undurchsichtigkeit, und schafft damit freie Sicht auf Sprache und Geschichte. Frank Willmann

Jaroslav Rudiš

Jaroslav Rudiš

Durch den Nebel. Salzburg: Sonderzahl 2022. 103 S., 16 €. Transpanenzhinweis: Bei kreuzerbooks ist ein Buch von Jaroslav Rudiš erschienen.

Jaroslav Rudiš.

Jaroslav Rudiš vorzuwerfen, er schreibe schon wieder über Bahn, Bier und Böhmen, wäre so, als werfe man einem Zug Pünktlichkeit vor. Und wir schätzen die pünktlichen Züge sehr, ja, ja. Denn wir wissen, dass auch auf immergleichenGleisen jede Fahrt anders ist – je nachdem, wo man sitzt (oder steht …), wer einem gegenübersitzt, welche Zeitung man liest oder was der Typ irgendwo da hinten gerade in sein Telefon brüllt. Es ist immer ein bisschen anders, obwohl es immer dasselbe ist. Wir sitzen also mit Rudiš’ schmalem Büchelchen im Zug – und schauen mit ihm aus dem Fenster, wo die Werke des böhmischen Autors und damit auch »the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins« vorbeiziehen, das heißt: Europa, genauer Mitteleuropa. Wir sehen die wechselnden Landschaften und sehen die wechselhafte Geschichte, die den Gebäuden und den Ländern ins Gesicht geschrieben steht. »Durch den Nebel« ist in der Reihe der Stefan-Zweig-Poetikvorlesungen erschienen, zu denen jedes Jahr Autorinnen und Autoren nach Salzburg an die Paris-Lodron-Universität eingeladen werden, denen die »Vermittlung zwischen den Kulturen ein zentraler Aspekt ihrer künstlerischen Arbeit ist«. Bisher waren das zum Beispiel Feridun Zaimoglu, Terézia Mora, Michael Stavaric und Ann Cotten. Nun also Jaroslav Rudiš, dem – wie Stefan Zweig – »die europäische Idee ein wichtiger Bezugspunkt seines literarischen Schaffens« ist. Das weiß, wer Rudiš’ Werk kennt, und es zeigt sich en miniature vermeintlich unabsichtlich auf S. 94 des neuen Buches. Unter einem Foto, auf dem der Österreich-Ungarn-Reiseführer von Baedeker aus dem Jahr 1913 und der »European Rail Timetable« von 2021 zu sehen sind, steht dort geschrieben: »›Baedekers Österreich-Ungarn‹ und Kursbuch für die Welt«. Und das ist ganz richtig, denn Europa, das ist Jaroslav Rudiš’ Welt. Übrigens taugt »Durch den Nebel« längst nicht nur für Fans, Experten und Expertinnen von Rudiš’ OEuvre, sondern auch sehr gut als Einstieg in dessen Schaffen. Benjamin Heine

Christopher Buehlman

Christopher Buehlman

Der schwarzzüngige Dieb. Aus dem amerikanischen Englisch von Urban Hofstetter und Michael Pfingstl. Stuttgart: Klett-Cotta 2022, 518 S., 26 €

Christopher Buehlman.

Fluchen und Flachsen ist sein Hobby. Wenn er nicht gerade seine Mitmenschen um Goldschmuck und Geldkatzen erleichtert, verliert sich Kinsch N Schannack in Sprachspielereien. Der kleingewachsene Dieb hat das Glück gepachtet und ist vieler Zungen mächtig. Allerdings steht er bei seiner Gaunergilde tief in der Kreide, weshalb er in Spelunken zur seltsamen Vogelfreiheit verdammt ist: Man darf ihn schlagen und er muss ein Bier ausgeben. Da kommt der Riesenangriff, der die Welt erschüttert, eigentlich gerade recht. Seine abgefahrene High-Fantasy-Story hat Christopher Buehlman in ein bunt geschecktes Gewand gehüllt. Natürlich geht es wendungsreich zu, wenn Schannack seine Schulden abarbeitend einer Kämpferin samt mysteriösem Kriegsraben hilft, eine Thronerbin zu finden. Mit von der Partie ist eine Hexenadeptin, unsanfte Motivationsschübe besorgt eine Gilden-Attentäterin. Das klingt so, als ob man solches schon vielfach gelesen hätte. Aber Buehlman hat mehr auf Lager – neben starken Frauen. Mal erzählt er atmosphärisch dicht, mal fast in rasenden Stichpunkten: was an seiner Figur des Ich-Berichters liegt. Denn der ist ein Schlingel, unstet und durch einen eigenen ethischen Wertekompass geprägt. Chaotisch-neutral würde der im Rollenspiel heißen. Und so einer berichtet nicht in geruhsam verästelten Satzkonstruktionen. Immer wieder wendet er sich direkt an die Lesenden, erklärt dies, kommentiert das, nimmt Sachen vorweg. Zwischen Lakonie und Zynismus bewegt er sich bei diesem Aus-der-Rolle-Fallen, dass es eine pure Lesefreude ist. Hier wird man nicht mit verkünstelt blumiger Sprache malträtiert, die einer neuen »Edda« gleichkommen will. Es geht fetzig zu, ist lustig, derb und manchmal auch zart. Wie im richtigen Leben eben – nur in einer anderen Welt. Tobias Prüwer

Olga Ravn

Olga Ravn

Die Angestellten. Aus dem Dänischen von Alexander Sitzmann. Berlin: März 2022. 144 S., 20 €

Olga Ravn.

Olga Ravns zweiter Roman, der erste in – hervorragender – deutscher Übersetzung, schlägt Wellen in der Bücherwelt. Diese schlanke Publikation aus Dänemark sollte gelesen werden. Dafür keine Zeit zu haben, ist keine Entschuldigung. Verfasst mit dem Feingefühl einer wahren Dichterin, zieht Ravn altbewährte Tropen des Sci-Fi-Genres neu auf und verfasst eine Allegorie auf unsere Arbeitswelt. Grundlage dabei ist die Frage nach dem Potenzial künstlicher Intelligenz, Menschen so zu imitieren, dass wir sie vielleicht nicht einmal mehr von uns unterscheiden können. Was aber, wenn beide miteinander existieren und auf etwas Fremdes stoßen, das ebenfalls menschlich scheint? Der Text sammelt die Zeugenaussagen der Arbeitscrew auf einem Raumschiff, die unbekannte Objekte sichergestellt hat – auf diese reagieren humanoide wie menschliche Angestellte intensiv. Die Leitung des Schiffes sammelt, katalogisiert und kommentiert die Aussagen der Crew in einer buchdicken Akte – die Ereignisse spitzen sich zu einem dramatischen Höhepunkt zu. Die Textfragmente mögen zunächst schwer zugänglich sein, doch geht von ihnen ein faszinierender Sog aus. Obgleich der Roman eine Übung in Verdichtung und bewusst eingesetzter Ellipsen ist, so ist er doch auch wirksam in seiner figurativen Sprache. »Die Angestellten« ist ein Buch, das man nicht nach seinem Cover beurteilen sollte. Weshalb hier sowohl für die englische als auch die deutsche Ausgabe nicht das modernistische Design der Originalausgabe lizensiert wurde, ist mir schleierhaft. Denn Ravns Buch ist das bewusste Resultat der Interaktion zwischen der Autorin und den sozialkritischen wie zukunftsorientierten Kunstwelten Lea Guldditte Hestelunds und Barbara Krugers. Doch ohne sie bleiben am Ende Bilder im Kopf, die sowohl die Magie als auch das Geheimnis dieses Romans ausmachen. Marcel Hartwig