anzeige
anzeige

Rezensionen

Anke Stelling: Grundlagen-forschung

Anke Stelling: Grundlagen-forschung

Anke Stelling: Grundlagen-forschung. 191 S.

In Anke Stellings Erzählungen wird genau abgewogen. Erwartungen werden verglichen mit dem, was die Realität bereithält. Eine Möglichkeit wird gegen die andere gesetzt und Ängste werden gegen Hoffnungen gehalten. Ihre Protagonisten sind meist Frauen und Mütter in den mittleren Jahren. In einer Erzählung denkt eine Frau über ihre Jugend im letzten Jahrhundert nach, während der sogenannten sexuellen Revolution, um dann festzustellen, dass die sexuelle Freiheit noch immer ziemlich begrenzt ist. Denn auch jetzt folgen Attraktivität und Begehren den geltenden Schönheitsidealen. In einer anderen Erzählung wird eine Single-Frau von ihren Sehnsüchten und Selbstzweifeln so vereinnahmt, dass sie sich nicht traut, ein neues Leben anzufangen. In einer weiteren Geschichte gelingt bei einer Frau zwar die Familiengründung, aber auch hochschwanger stellt sie ihr Glück immer wieder in Frage. Wie kaum eine zweite Autorin verhandelt Stelling die Lebenswirklichkeit von Familien. Dabei geht es um Rollenbilder, die hinterfragt werden, und um Abstiegsängste. Ihr erster Erzählband versammelt Texte aus den letzten zwanzig Jahren. Einigen frühen Erzählungen merkt man die Lust am Experiment an – von denen nicht jedes glückt. In den späteren Texten wird der klarsichtige und ungeschönte Blick deutlicher, der auch ihre Romane auszeichnet. Wer »Grundlagenforschung« zur Hand nimmt, schaut einer Autorin zu, wie sie mit jeder Geschichte besser wird. Sandra, die Single-Frau, deren Verzagtheit gegenüber dem Leben sich immer mehr zur Nervosität steigert, traut sich zum Schluss doch und küsst einen Mann. Der allerdings weicht ihr geschickt aus und sie muss an ein Sprichwort ihrer schwäbischen Großmutter denken: »Am Schluss wird zsammazählt«. Ob die Nacht mit dem Mann am Ende als Plus- oder Minuspunkt in die große Rechnung eingehen wird, weiß sie allerdings auch nicht. Tino Dallmann

Julia Deck: Privateigentum

Julia Deck: Privateigentum

Julia Deck: Privateigentum. 144 S.

Charles und Eva Caradec führen ein Leben, das nach außen hin perfekt wirkt. Beide nicht mehr ganz jung, aber attraktiv; wohlhabend dank einer Arbeit, die immer etwas vage bleibt, ziehen sie in ein eigenes Haus in der Pariser Vorstadt. Ein Edel-Öko-Spießertum, umgeben von Bioläden, Kompost und erneuerbaren Energien. Doch ihre Nachbarn machen den Caradecs schon bald die Idylle zur Hölle. Erst fallen die Lecoqs nur durch ihr unangenehmes Verhalten auf, durch laute Partys und gehässige Bemerkungen. Dann wird ein aufdringlicher roter Kater massakriert aufgefunden. Schließlich aber verschwindet die aufreizende Annabelle Lecoq zusammen mit dem kleinen Sohn samt Hund spurlos. Die französische Autorin Julia Deck spinnt ihre Ich-Erzählerin Eva Caradec in ein immer dichter werdendes Netz von Unbehaglichkeiten ein. Schon bald nach ihrem Umzug verliert die gewandte und beruflich erfolgreiche Frau den Boden unter den Füßen. Ist sie dem Leser zu Beginn wegen ihrer übergroßen Selbstbeherrschung noch unsympathisch, nimmt sie im Verlauf der Geschichte mit zunehmend bröckelnder Fassade menschlichere Züge an. »Privateigentum« ist Evas innerer Monolog, den sie an ihren psychisch labilen Mann richtet. Die vorherrschende indirekte Rede liest sich stellenweise etwas unlebendig, passt aber zur Ich-Erzählerin, die sich krampfhaft bemüht, die Fäden ihres Lebens in der Hand zu behalten. Am Ende bleiben – trotz eines befreienden Knalls – einige Fragen offen. Andrea Kathrin Kraus

Bildungsreise – Folge vier: Kartografie

Bildungsreise – Folge vier: Kartografie

Bildungsreise – Folge vier: Kartografie. 382 S.

Aus somalischer Perspektive auf Äthiopien schauen: Nuruddin Farahs Roman »Maps« wurde als erster Teil einer Trilogie 1986 auf Englisch veröffentlicht, 1992 ins Deutsche übersetzt und spielt, wie die meisten Bücher des Autors, hauptsächlich in Somalia. Er beginnt jedoch im Ogaden, einem Gebiet zwischen Äthiopien und Somalia, in dem die meisten Bewohner Somalis sind, das aber dennoch einen Teil Äthiopiens bildet. Dort wächst Askar fast symbiotisch mit seiner Ziehmutter Misra auf, die ihm seine verstorbenen Eltern ersetzt. Misra stammt aus Äthiopien und kann aus Wasser, Blut und Fleisch die Zukunft wahrsagen. Askars Kindheit verläuft zwischen Verkleidungsspiel und Koranschule, umgeben von einem – immerhin nicht ihn – prügelnden Onkel und dem verhassten Koranlehrer, deren abwechselnde nächtliche Besuche Misra ertragen muss. Als somalische Freiheitskämpfer den Ogaden aus äthiopischer Vorherrschaft zurückerobern wollen und der Krieg immer näher rückt, wird Askar in die Hauptstadt Somalias, Mogadiscio, geschickt, wo er bei seinem Onkel Hilaal, einem gut kochenden Universitätsdozenten, und dessen Frau Salaado, einer gut Auto fahrenden Lehrerin, unterkommt. Ausgiebige, kontroverse Gespräche, besonders über Politik, das Ringen um nationale Identität der Länder Afrikas und den Konflikt zwischen Somalia und Äthiopien, sind mit ihnen Teil des Alltags. Landkarten sind in »Maps« ein Schlüsselgegenstand, seit Askar eine erste Karte nach seiner Beschneidung im Kindesalter geschenkt wurde: Auf ihnen werden nicht nur Truppenrouten, sondern auch, einem Spiegel ähnlich, das Selbst verortet. Kurz bevor er sich zwischen einem Studium und dem Dienst an der Waffe entscheiden muss, taucht Misra in Mogadiscio auf – und wird beschuldigt, die somalischen Kämpfer an das äthiopische Militär verraten zu haben. Farahs Stärke liegt im sensiblen Blick für Unterdrückung und Ungleichheit, vor allem die der Geschlechter. Dafür muss man etwas vage Metaphern und einige leicht ermüdende, mythologisierende Traumsequenzen verkraften.  Alexandra Ivanova

Bildungsreise – Folge 2: Krieg und Frauen

Bildungsreise – Folge 2: Krieg und Frauen

Bildungsreise – Folge 2: Krieg und Frauen. Das Wunderhorn 2012. 290 S.

Maaza Mengiste wird in Addis Abeba geboren und ist früh auf der Flucht bis nach New York, wo sie heute auf Englisch Romane und journalistische Essays über äthiopische Geschichte schreibt. Ins Deutsche übersetzt wurde bislang ihr Debüt »Unter den Augen des Löwen«. Ihr zweiter Roman »The Shadow King« brachte ihr den Vergleich mit Toni Morrison und eine Nominierung für den Booker Prize ein. Beide Romane handeln von Äthiopien im 20. Jahrhundert, die Protagonisten reichen sich von Buch zu Buch die Hand. »The Shadow King« spielt überwiegend im Jahr 1935, in dem Mussolinis Armee in Äthiopien einmarschiert, um eine alte Niederlage in »Abessinien« zu rächen und die lang ersehnte Kolonie auf dem afrikanischen Kontinent nach faschistischem Prinzip zu errichten. Dieser Versuch misslingt, die Jahre italienischer Pseudo-Herrschaft sind 1940 zu Ende. Doch die Gewalt traumatisierte, wie Mengiste zeigt, Äthiopiens Bevölkerung nachhaltig. Im Jahr 1974, zentral für »Unter den Augen des Löwen« und Endstation von »The Shadow King«, begannen die Tumulte, die auf die Befreiung von der Feudalherrschaft zielten, aber in Terror endeten. Mengistes Protagonistin Hirut durchlebt besonders den Krieg mit Italien in »The Shadow King« auf schmerzliche Weise. Im feudalen System Äthiopiens nimmt sie den Rang einer Magd ein, für die nicht mehr als der Objektstatus vorgesehen ist, der sich durch Peitschenhiebe ihrer eifersüchtigen Dienstherrin Aster wie auch die sexuelle Gewalt ihres Dienstherrn Kidane manifestiert. Zur Subjektwerdung Hiruts kommt es dann, ausgerechnet, in einer Armee unter Kidanes Führung zur Verteidigung des äthiopischen Hinterlandes. Hirut entwickelt zum ersten Mal eine positive – wenngleich fragwürdige – Identität als Soldatin. Mengistes erklärtes Anliegen mit »The Shadow King« war es, über Frauen im Krieg zu schreiben und ihnen damit eine aktive Rolle in der an sich problematischen Geschichte der Siege und Niederlagen der Völker Äthiopiens zu geben. Eine Reflexion über die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen des Kriegs und Hiruts Soldatinnen-Dasein fehlt neben der teils langatmig-deskriptiven Glorifizierung der äthiopischen militärischen Verteidigung. Alexandra Ivanova

Das Wunderhorn

Florence Brokowski-Shekete: Mist, die versteht mich ja!

Florence Brokowski-Shekete: Mist, die versteht mich ja!

Florence Brokowski-Shekete: Mist, die versteht mich ja!. 250 S.

Brokowski-Sheketes Leben ist eigentlich nicht außergewöhnlich. Sie wächst als Pflegetochter einer liebevollen, alleinstehenden Frau in Buxtehude auf, spielt gerne mit den Nachbarskindern, kommt in die Schule, macht ihr Abitur und beschließt, Lehrerin zu werden. Aber weil »Flori«, wie ihre Pflegemutter sie nennt, Schwarz ist und nigerianische Wurzeln hat, ist es eben doch ein von vielen Schwierigkeiten begleitetes Leben. Die in ebenso emotionaler wie klarer Sprache geschriebene Geschichte eines kleinen Mädchens, das zur Jugendlichen und zur Frau wird; das sich in Deutschland zu Hause fühlt und dem dennoch immer wieder vermittelt wird, anders zu sein. »Es ist nicht immer lustig, im Supermarkt zwischen Obst und Gemüse eine Kurzfassung der eigenen Biografie zu präsentieren, die dann womöglich auch noch hinterfragt wird.« Trotzdem dreht sich in »Mist, die versteht mich ja!« längst nicht alles um gesellschaftliche Vorurteile und strukturellen Rassismus, gleichwohl die Autorin vielfältige Erfahrungen mit beidem macht. Florence Brokowski-Shekete geht mit viel Geduld und Humor auf Spurensuche. Sie schildert Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen, Perspektiven und Reaktionen – und liefert damit den sensiblen Bericht einer Identitätsfindung, die nicht aufgrund von Herkunft, sondern mithilfe von Empathie und Liebe gelang. Alexandra Huth

Ian McEwan: Erkenntnis und Schönheit

Ian McEwan: Erkenntnis und Schönheit

Ian McEwan: Erkenntnis und Schönheit. 179 S.

»Ich verkümmere regelrecht, weil ich niemanden habe, mit dem ich über Insekten reden kann.« Hach ja, die Probleme junger Männer! Der englische Schriftsteller Ian McEwan zitiert diesen Satz aus einem Brief des jungen Charles Darwin in seinem Essayband »Erkenntnis und Schönheit – Über Wissenschaft, Literatur und Religion«. Das Diogenes-typische schöne Leinenbändchen versammelt vier Vorträge, die McEwan (u. a. »Abbitte« sowie zuletzt »Maschinen wie ich« und »Die Kakerlake«) seit 2003 in Oxford, Santiago de Chile, Athen und Stanford gehalten hat, sowie einen Artikel, der 2006 im Guardian erschien. Vom Leben Darwins (gelesen »wie einen Roman«) geht es über Einstein und Newton (über Bande gespielt mit Voltaire) hin zur Frage, wer der erste moderne Mensch ist (»die mitochondriale Eva oder Alan Turing?«) und weiter zum Erkennen und Benennen des Ichs in der Literatur und dessen Lokalisierung durch die Naturwissenschaft zur »Endzeitstimmung« (mit oder ohne Johannes-Offenbarung). Dabei können sich Parallelen schon mal vor der Unendlichkeit schneiden: »Liest man Berichte über die systematischen, nicht intrusiven Beobachtungen von Bonobos …, kann man sehen, wie sie sämtliche große Themen des englischen Romans des neunzehnten Jahrhunderts ausagieren.« Ha! McEwan ermutigt: »So wie wir mit Freunden um den Küchentisch sitzen und über eine Fernsehserie reden, einen Song, einen Film, ohne selbst Schauspieler, Komponist oder Regisseur zu sein, so sollten wir uns auch die wissenschaftliche Tradition zu eigen machen und dieses Fest organisierter Neugier feiern, diese grandiose Errungenschaft akkumulierter Kreativität.« Dass dieser Satz erstmals an einem 1. April im Guardian erschien, verbuchen wir mal unter »englischer Humor«. Und der ist ja bekanntlich eine ganz eigene Wissenschaft. Benjamin Heine

Martina Lisa, Chris Michalski (Hg.): wer hier ist – eine Anthologie

Martina Lisa, Chris Michalski (Hg.): wer hier ist – eine Anthologie

Martina Lisa, Chris Michalski (Hg.): wer hier ist – eine Anthologie. 54 S.

Begonnen hatte es mit einem offenen Aufruf im August dieses Jahres auf diversen Online-Kanälen. Der Hochroth Verlag Leipzig ermutigte Schreibende »mit migrantischem Hintergrund«, ihre Kurztexte einzureichen. Einen Bezug zu Leipzig sollten die Verfasserinnen oder das Geschriebene haben. Das Ergebnis: eine dünne Anthologie, an der neun Autorinnen und Autoren beteiligt sind, untermalt von der melancholischen Analogfotoserie »Freibad«. Politisch sind die Texte – mal ganz explizit, mal eher im Persönlichen verborgen. Ein eindringliches Gedicht über die zerarbeiteten Väter, die nach Deutschland auswanderten, von Irina Nekrasov/a, der innere »Monolog eines zwanghaften Aufschiebers« von Gyan Zetina oder die Schilderungen kindlicher Erinnerung an die Sommer in Ungarn von Iosif C Holzer. In »Socken stopfen« sinniert Maria Bujanov über Platz: »ohne Loch klingt wie die Negation einer Negation / und doch bleibt eigentlich noch viel weniger übrig als nichts – / vielleicht trotzdem ein Raum zum Füllen«. Gegenstand sind das Hierbleiben, das Dortgewesensein und das weite Spektrum dazwischen. Die Auswahl zeigt vor allem, wie heterogen migrantische Stimmen und Geschichten sind. Was sie verbindet, verrät der Titel der Sammlung: da sein und sich durch Sprache verlautbar machen. »Ich warte auf dich, bis die Pandemie überstanden ist und wir wieder Tischkicker im Peter K. spielen«, heißt es im Gedicht von Xoşewîst. Der Titel von Kaśka Brylas Beitrag lautet »April«. Ein Monat, der den meisten nachhaltig in Erinnerung bleiben wird. Auch das Virus hat Einzug gehalten in diese Sammlung neuer Literatur und mit ihm seine Begleiterscheinungen: Schlange stehen beim Bäcker, Unverständnis ob der Sorglosigkeit anderer, Stirnrunzeln bei der Phrase »Krise als Chance«. Lucia Baumann

Hélène Jousse: Die Hände des Louis Braille

Hélène Jousse: Die Hände des Louis Braille

Hélène Jousse: Die Hände des Louis Braille. 304 S.

In ihrem Roman »Die Hände des Louis Braille« verwebt die französische Autorin Hélène Jousse das Leben des Louis Braille – die unglücklichen Verkettungen, die zu seinem Erblinden geführt haben, seinen unermüdlichen Wissensdurst und das damit verbundene Verlangen nach einer Form der Vermittlung von Sprache – mit dem Wirken der erfolgreichen Drehbuchautorin Constanze. Diese will Brailles Leben in einem Drehbuch festhalten, dessen Szenen sich in Jousses’ Roman abwechseln mit Eintragungen, die sie in ihrem Notizbuch vornimmt. Ausgehend von der Dorfschule und mit Unterstützung ihm nahestehender Personen gelangt Braille bis nach Paris in das Institut für junge Blinde, das ihn schließlich zur Erfindung der Blindenschrift führt. Brailles Eltern und Förderer ebenso wie Personen, die Constanze selbst umgeben, bevölkern den Roman. Allen voran Thomas – enger Freund und Auftraggeber des Drehbuchs – und Aurélien, ein junger Doktorand, der Constanze für die Recherche zur Seite gestellt wird. Der Wechsel zwischen Drehbuchszenen und Notizbucheinträgen erlaubt der Autorin, die biografischen Fakten darzustellen und die fiktionalen Anreicherungen zu markieren. In ihren Eintragungen beschreibt Constanze Eindrücke, Wahrnehmungen und Begegnungen aus ihrer Perspektive, im späteren Verlauf wird außerdem ein Briefwechsel eingebunden: Anfangs kreisen ihre Gedanken vor allem um das Drehbuch und Braille, in der Retrospektive erfährt man mehr über ihre Lebensumstände. Mit dem Wissen, dass Autorin Jousse ausgebildete Bildhauerin ist, erschließen sich einige Schilderungen noch einmal neu. So wie die Szene, in welcher der junge Braille eine Strafe im Karzer des Instituts absitzt, vom Hausmeister zur Verkürzung der Zeit Ton zugesteckt bekommt und daraus die Gesichter geliebter Personen modelliert. Jousse gelingt die eindrucksvolle Darstellung einer Person, deren Namen viele kennen, über deren Leben aber die wenigsten etwas wissen. Maria Grzeschniok

Grit Kalies: Raumzeit

Grit Kalies: Raumzeit

Grit Kalies: Raumzeit. 220 S.

Wer schon an Stephen W. Hawkings »Kurzer Geschichte der Zeit« gescheitert ist, wird vor einem Roman mit dem Titel »Raumzeit« womöglich zurückschrecken. Das wäre schade, denn er fände darin die Erklärung für sein Scheitern. Und versagte sich zugleich eines der unterhaltsamsten Bücher zum Physikerstreit um die Allgemeine und Spezielle Relativitätstheorie. Die Autorin Grit Kalies hat neben Physikalischer Chemie auch Literatur studiert, derzeit lehrt sie als Professorin an der HTW Dresden. Gute Voraussetzungen also, einen Stoff, der sonst eher Blüten in der Science-Fiction-Literatur treibt, in die Gegenwart universitärer Ränke und Eitelkeiten zurückzuholen. Hauptfigur in dieser Komödie der Irrungen ist Richard Weiß, der an einem Vortrag zur Raumzeit arbeitet, mit dem er sich um eine Festanstellung am Institut für Physikgeschichte bewerben will. Das Dumme ist nur, dass Richard die Raumzeit für ein Phantom hält. Er, ein Verfechter der Thermodynamik, hat längst begriffen, dass beide Relativitätstheorien erhebliche Mängel aufweisen, die mit immer absurderen Hilfskonstruktionen übertüncht und deren Kritiker seit über 100 Jahren ins Abseits gestellt werden. Richard empfindet zunehmenden Widerwillen gegen das, was er in wenigen Stunden vortragen soll. Senta zieht alle Register, um ihren Mann davon abzuhalten, in seiner Vorlesung mit dem ganzen Raumzeit-Spuk abzurechnen. Denn sie ist schwanger, und Richards befristete Anstellung steht auf der Kippe. Richards Zorn gipfelt in einer imaginären Gerichtsverhandlung gegen Raumzeit und Relativitätstheorie. Die Raumzeit selbst ist nicht erschienen, doch Kläger und Verteidiger fetzen sich nach Strich und Faden. Als er schließlich vor dem Auditorium steht, ist er fest entschlossen, der ehrfürchtigen Meute seine Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Ob Einstein am Ende nackt dasteht und die ihm folgenden Theorien als Hirngespinste entlarvt werden, mag jeder Leser selbst herausfinden. Thomas Böhme

David Mellem: Die Erfindung des Countdowns

David Mellem: Die Erfindung des Countdowns

David Mellem: Die Erfindung des Countdowns. 288 S.

Für Hermann dreht sich alles um die Rakete. Angesteckt von Jules Verne kennt er schon als Jugendlicher im siebenbürgischen Schäßburg nur ein Ziel: den bemannten Flug zum Mond. Alles andere bleibt Nebensache: die Liebe, Kinder, zwei Weltkriege. David Mellem verfolgt in »Die Erfindung des Countdowns« den Lebensweg des Weltraumvisionärs Hermann Oberth. Nachdem seine Raketenidee als Dissertation nicht angenommen wurde, weil eine Reise zum Mond in der Zwischenkriegszeit noch nicht auf der Agenda stand, biederte er sich bei den Nazis an, um wenigstens eine Raketenwaffe entwickeln zu können. Er glaubt, seine Waffe könne den Krieg beenden, und blendet die katastrophalen Folgen ihrer Nutzung völlig aus – Oberth sieht nur das Entwicklungspotenzial der Maschine. Auch auf die menschlichen Kosten einer solchen Vision fokussiert Mellem. Er zeigt Oberths Frau, die folgt, wohin die Wissenschaft ruft, die eine Familie gründet, immer wieder ein Heim schafft und schließlich ins Zweifeln darüber gerät, für wen sie das alles tut. In ihrem Mann erkennt sie einen Fanatiker, der fruchtlosen Träumen folgt, der sie und seine Kinder nicht wahrnimmt. Eindrücklich stellt Mellem dar, wie es Oberth nur für kürzeste Zeitspannen gelingt, seine Konzentration auf etwas zu richten, das jenseits seiner Forschung liegt. Er versteht seine Mitmenschen oft nicht, weil sie sich nicht mithilfe physikalischer Gesetzmäßigkeiten erschließen lassen. Dass Mellem einen Physiker in den Mittelpunkt seines Romans stellt, kommt nicht von ungefähr. Bevor er am Deutschen Literaturinstitut an seinem Erstling feilte, promovierte er selbst in Physik. In »Die Erfindung des Countdowns« verbindet er beides fachgerecht. Protagonist Oberth beeindruckt als Figur der Technikgeschichte und als tragische Figur des Romans. Nele Thiemann

Bildungsreise – Folge 1: Jana Zehle und Antje Mönnig: Meine Stadt – My City – የእኔ ከተማ / Fitsame Teferra Wold

Bildungsreise – Folge 1: Jana Zehle und Antje Mönnig: Meine Stadt – My City – የእኔ ከተማ / Fitsame Teferra Wold

Bildungsreise – Folge 1: Jana Zehle und Antje Mönnig: Meine Stadt – My City – የእኔ ከተማ / Fitsame Teferra Wold. 50 S.

Addis Abeba bedeutet in Äthiopiens Landessprache Amharisch »Neue Blume«, Leipzig soll, so wird immer wieder behauptet, vom slawischen Wort für »Linden« kommen (was vermutlich nicht stimmt). Neben dieser botanischen Gemeinsamkeit gibt es noch eine: Das Wappentier beider Städte ist der Löwe. Mehr weiß ich nicht, als ich mich auf meine Reise ins literarische Äthiopien mache – was sicherlich kein Zufall ist, sondern Resultat einer kolonialen, weißen und eurozentrischen Perspektive auf die Welt. Die will ich abschütteln, ich will wissen, was mir entgeht. Zu meinem Glück zeugt von der Städteverbundenheit ausgerechnet ein mehrsprachiges inklusives Buch, und zwar für sehende und nicht-sehende, neugierige und auch ehemalige Kinder: In »Meine Stadt – My City – የእኔ ከተማ« von den Leipzigerinnen Jana Zehle und Antje Mönnig führt (genau!) ein Löwe namens Liju durch Leipzig und Addis Abeba, und zwar nach Berichten und mit ertastbaren Bildern von Schülergruppen aus beiden Städten. Im Minibus von Entoto zum Sedest Kilo, in der Bimmel am Uni-Riesen vorbei. Die Kinder, die Lidjotsch, aus Leipzig essen gern Eierkuchen, die Addis-Abeba-Lidjotsch mögen das weiche Fladenbrot Injera. Und alle Lidjotsch mögen Eis! Mit Liju an meiner Seite erspüre ich auch Kleidungsstoffe von hier und dort, taste Stadtumrisse und glitzernde Roboter, während ich der Geschichte auf Amharisch, Deutsch, Englisch und in Braille folge. Da ich die amharische Schrift aus Äthiopien verstehen möchte, werfe ich auch einen Blick in »Mein erstes amharisches Bildwörterbuch«. Mithilfe der lateinischen Lautumschrift lerne ich viele erste Wörter von Körperteilen bis zur Uhrzeit kennen und das komplexe Alphabet. Habte Books, erst in Addis Abeba, jetzt in Berlin, hat sich vor allem diverseren Büchern für Kinder mit Wurzeln in Ländern Afrikas verschrieben – viel zu entdecken gibt es da aber für alle. Beim nächsten Mal führt die Reise dann in einen der sprachgewaltigen Romane der in Addis Abeba geborenen US-amerikanischen Autorin Maaza Mengiste, die 2020 auf der Shortlist für den Man Booker Prize stand. Apropos sprachgewaltig: Birra-birro heißt Schmetterling. Alexandra Ivanova

Kristen Roupenian: Milkwishes

Kristen Roupenian: Milkwishes

Kristen Roupenian: Milkwishes. 80 S.

Ryan, der längst ein erwachsener Mann ist, wird die Bilder seiner Kindheit nicht los. Erinnerungen treffen ihn plötzlich wie Nadelstiche – ihr Gesicht hat er genau vor Augen, das blonde Haar der Freundin schimmerte goldweiß, die Augen waren hellblau und in ihrem Gesicht stach eine Narbe hervor. Doch an ihren richtigen Namen kann sich Ryan nicht erinnern. Weil sie Löwenzahnblätter ständig »Milkwishes« nannte und andere ihr das nachmachten, hieß das Mädchen für alle nur noch Milkwishes. Es ertrank in einem Brunnen. In ihrem Erzählband legt Roupenian erneut Schauergeschichten vor. Schon in ihrem gefeierten Debütband »Cat Person«, dessen Titelstory im Zuge der Metoo-Debatte millionenfach im Netz geteilt wurde, flirtete sie mit dem Horror-Genre und untersuchte Kipppunkte in Beziehungen. Der Schrecken zwischenmenschlicher Beziehungen steht auch in ihrem neuen Erzählband im Fokus. Das schmale Bändchen erzählt vor allem von Familien: Einmal wollen Kinder in einem abstrusen Spiel ihre Eltern dazu bringen, eine Qualle zu essen, ein anderes Mal muss ein Mann mitansehen, wie seine Frau nach dem Tod der gemeinsamen Tochter zusehends den eigenen Wahnvorstellungen verfällt. Und schließlich geht es auch um Ryan, den der Tod der Freundin aus Kindheitstagen verfolgt. Überhaupt spielt der Tod eine große Rolle in den Geschichten. Mal als Kinderstreich, mal als Erlösung, aber immer auch als traumatische Erfahrung. Jede der Erzählungen überzeugt durch einen klaren Stil und einen melancholischen Ton. Kristen Roupenian erzählt von Verlust, aber auch von dunklen Fantasien und Einbildungen. Genau hier liegt die psychologische Präzision der Erzählungen. Denn alle Figuren müssen für sich entscheiden, wie viel Raum sie dem Schrecken und dem Tod in ihren Gedanken einräumen. Tino Dallmann

JJ Bola: Sei kein Mann

JJ Bola: Sei kein Mann

JJ Bola: Sei kein Mann. 176 S.

Lieber Hanser-Verlag, warum verschrecken Sie Ihr Zielpublikum durch schlecht übersetzte Titel? »Sei kein Mann« mit dem noch viel schlimmeren Untertitel »Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist« garantiert eine Leserschaft, die Ihrer Titelwahl keineswegs widersprechen wird. Warum also weiterblättern? Weil JJ Bola seine Leser einlädt, über ihr geschlechtliches Rollenbild nuancierter, instruktiver und aufschlussreicher nachzudenken, als es dieser Titel vermuten lässt. »Mask Off: Masculinity Redefined«, so das Original, fragt: »Was bedeuten unsere Auffassungen von Männlichkeit und die kulturellen Normen, in die sie eingebettet sind, für Jungs, die in der heutigen Zeit zu Männern heranwachsen?« Der autobiografisch informierte Leitfaden für junge Leser nimmt einen feministischen Blick auf das kulturelle Geschlecht ein und begreift das gegenwärtige Mannsein als defizitär. In Diskussionen über Vergewaltigungskultur, männliche Privilegien und Intersektionalität erkennt Bola, dass für eine echte Veränderung »der Kampf gegen die toxische Männlichkeit Teil einer kollektiven kulturellen und gesellschaftlichen Transformation und Bewusstseinswende sein« muss. Motiviert ist dieses Buch durch eine persönliche Erfahrung kultureller Differenz: Aufgewachsen in einer kongolesischen Gemeinschaft, wird Bola eines Tages für die dort normierte Kultur des Händchenhaltens unter Männern auf offener Straße von Männern für einen Schwulen gehalten. Bola sieht, wo andere das Dogma einer heterosexuellen Norm erkennen, eine Schieflage im Männlichkeitskonstrukt. Der Londoner Jugendarbeiter unterlegt seine Gedanken mit eindringlichen Erfahrungsberichten und persönlichen Schlussfolgerungen. Marcel Hartwig

Marguerite Andersen: Ich, eine schlechte Mutter / Liat Elkayam: Aber die Nacht ist noch jung / Simone Hirth: Das Loch

Marguerite Andersen: Ich, eine schlechte Mutter / Liat Elkayam: Aber die Nacht ist noch jung / Simone Hirth: Das Loch

Marguerite Andersen: Ich, eine schlechte Mutter / Liat Elkayam: Aber die Nacht ist noch jung / Simone Hirth: Das Loch. 191 S.

»›Wir haben alle Schuldgefühle‹, wispert ihr Nachumi ins Ohr, ›ist doch klar. Warum konnte mein Körper das Kind nicht halten? Was hab ich falsch gemacht?‹« Nicht nur Schuldgefühle machen der Protagonistin von Liat Elkayams Roman »Aber die Nacht ist noch jung« zu schaffen, nachdem sie ihr Kind acht Wochen zu früh auf die Welt gebracht hat. Da sind auch die Desinfektionsroutinen der neonatologischen Station, und vor allem ist da der »Wettstreit um die beste und aufopferndste Mutter«. In quälender Ausführlichkeit erzählt Elkayam, was es heißt, in einer fremden Umgebung in die Mutterrolle finden zu müssen. Eine Rolle, für die der gesellschaftliche Diskurs hauptsächlich abwertende Urteile bereithält: Helikoptermutter, Karrierefrau, regretting mother oder MILF, also eine mother I’d like to fuck? Dass all diese Bilder wenig mit der Realität zu tun haben, zeigen glücklicherweise von Jahr zu Jahr mehr Bücher. Im Rückblick, aber fast noch intensiver als Elkayam, erzählt die kanadische Literaturwissenschaftlerin Marguerite Andersen von ihrer Mutterschaft. »Ich, eine schlechte Mutter« heißt ihr Langgedicht, durch das sich ihre Zerrissenheit zwischen der Liebe zu ihren Kindern und dem Wunsch nach beruflicher Selbstverwirklichung zieht, und schon am Titel ist abzulesen, dass auch Marguerite Andersen sich an Stereotypen abarbeitet – und vorsichtig versucht, sich davon zu distanzieren. Diese Distanz herzustellen, gelingt der Protagonistin von Simone Hirths skurrilem Briefroman »Das Loch«. Ihr Kind ist erst wenige Wochen alt, als sie anfängt, wütende Briefe zu schreiben – an Jesus und Madonna, an den österreichischen Bundeskanzler und einen Frosch. Mit jeder Menge Humor sprengt Hirth das aufoktroyierte Rollenmodell und schlägt den damit verbundenen Schuldgefühlen ein Schnippchen. Katharina Bendixen

Nanni Balestrini: Der Verleger

Nanni Balestrini: Der Verleger

Nanni Balestrini: Der Verleger. 152 S.

Ein Mann wird leblos unter einem Strommast in Segrate bei Mailand gefunden. Namenlos und doch bekannt im Italien der siebziger Jahre: Der Verleger. Sein Tod erschüttert die Gesellschaft. Der Roman von Nanni Balestrini basiert auf dem Leben und Sterben des kommunistischen Politikers und linken Aktivisten Giangiacomo Feltrinelli, der als einer der einflussreichsten Verleger der europäischen Nachkriegszeit gilt. 17 Jahre nach dem einschneidenden Ereignis treffen sich vier ehemalige Gefährten des legendären Buchproduzenten – sie wollen einen Film über ihn drehen. Sie erinnern sich, diskutieren – und werden sich einfach nicht einig. Zwei Erzählstränge führen durch die Geschichte. In den ungerade nummerierten Kapiteln finden sich zeitgenössische Dokumente: der Obduktionsbericht, polizeiliche Ermittlungsakten und Artikel zum Tod des Verlegers. Die anderen Kapitel beschreiben die Treffen der Wegbegleiter und den Versuch, ihr Filmprojekt weiterzuentwickeln. In Balestrinis Schreiben spiegelt sich das Lebensgefühl der Zeit: Freiheit und Revolution. Satzzeichen, außer sporadisch eingefügte Fragezeichen, gibt es nicht. Absätze sind scheinbar wahllos gesetzt, schon am Anfang des Buches werden Elemente des Endes vorweggenommen, oberflächliche Schilderungen stehen im Wechsel mit seitenlangen Beschreibungen. Das Buch scheint genauso chaotisch wie die politische Landschaft im Italien der siebziger Jahre. Mit seinem Roman liefert der Autor einen wichtigen Einblick in den Kampf der Linken und die Veränderung ihrer Bewegung nach dem Tod von Feltrinelli. Lea Heilmann

Yval Rubovitch: Mit Sportgeist gegen die Entrechtung

Yval Rubovitch: Mit Sportgeist gegen die Entrechtung

Yval Rubovitch: Mit Sportgeist gegen die Entrechtung. 162 S.

Die Geschichte des jüdischen Sportvereins Bar Kochba in Leipzig beginnt 1919 und endet 1938. Nach einigen Darstellungen seiner Geschichte gibt es nun endlich einen Überblick über jüdischen Sport in Leipzig, in dessen Mittelpunkt Bar Kochba und andere Vereine stehen. Der Historiker Yuval Rubovitch schrieb die Geschichten und Biografien ehemaliger Mitglieder unter Mitarbeit der langjährigen Direktorin des Leipziger Sportmuseums, Gerlinde Rohr, auf. Nach der Gründung des Turnvereins 1919 fand das erste jüdische Sportfest im Januar 1920 in der Kongresshalle am Zoo mit 2.500 Teilnehmern statt. Das Interesse war da und der Wille, die körperliche Betätigung nicht aufs Turnen allein zu beschränken, so kam es 1920 zur Gründung des Jüdischen Turn- und Sportvereins. Nun standen auch Boxen, Leichtathletik, Tennis und Schwimmen auf dem Plan. Anfang 1921 wurde ein Areal im Leipziger Norden an der Dübener Landstraße gekauft. Das Buch zeigt erstmals Fotografien, wie der Sportplatz entstand. Es war der einzige Platz, auf dem Juden nach 1933 Sport treiben oder sich erholen konnten. Nach 1938 ging er ins Eigentum der Stadt über, ein Zwangsarbeiterlager der Leipziger Brotfabrik entstand. Später wurde der Sportplatz von der BSG Aktivist Nord genutzt. Nach der Wende verfiel der Platz und 2016 entsorgte der damalige Besitzer alle Spuren der Vergangenheit. Seit diesem Jahr erinnert eine Stele an die Geschichte des Platzes. Das Buch gibt zudem Einblicke in die aktive Erinnerungsarbeit – zu der unter anderem interkulturelle Jugend-Fußballturniere gehören. Britt Schlehahn

Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer (Hg.): Die Wunderkammer der deutschen Sprache

Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer (Hg.): Die Wunderkammer der deutschen Sprache

Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer (Hg.): Die Wunderkammer der deutschen Sprache. das kulturelle Gedächtnis 2019. 320 S.

Ein langer Untertitel darf gern als Indiz für inhaltslose Übertreibung genommen werden. Das ist bei dieser Sammlung allerdings nicht der Fall, denn die Wunderkammer zwischen zwei Buchdeckeln bildet tatsächlich ein Füllhorn an »Wortschönheiten, Kuriositäten, Alltagspoesie und Episoden« und ist mithin voll von Anlässen für Entdeckungen. Wer erinnert sich noch, dass die Grimmschen Märchen keineswegs immer mit »dann leben sie noch heute« enden? Wer weiß, woher das Eisbein seinen Namen hat, was die Homophonie (»malen und mahlen«) von der Homografie (»Bein-Haltung und Be-Inhaltung«) und diese beiden wiederum von der Polysemie unterscheidet? Wer hat schon einmal Johann Christoph Adelungs erstes Großwörterbuch deutscher Sprache bestaunt, den Anfängen feministischer Sprachkritik nachgeforscht oder sich gefragt, warum der Eidam mittlerweile Schwiegersohn heißt und die Funeralie Beerdigungsfeier? Die kurzweiligen Sprünge durch die Jahrhunderte und Dialekte sind so unsystematisch wie unterhaltsam: Wir erfahren von der Dichterin Sibylla Schwarz und den Stadien kindlichen Spracherwerbs, lernen einige Termini der Buchdrucker (zum Beispiel: »Hose«, »Hochzeit«, »Schweizer Degen«), hören von der Rolle der Hochfahrenheitsmiene in Fontanes Werk, von den Fachsprachen in den Subkulturen der Jäger, Seemänner und Landstreicher sowie von den bescheuertsten Titeln für Groschenromane. Die bis hierhin erfolgte Aufzählung lässt erahnen, dass sich dabei eine gewisse Listenhaftigkeit nicht umgehen lässt. Die wunderschönen Illustrationen und die aufwendige Gestaltung des Bands inklusive Karten, Grafiken, Tabellen und Bildgedichten schafft dies dann aber doch. Und trägt so erheblich zum Vergnügen beim Blättern bei. Franziska Reif

das kulturelle Gedächtnis

Bettina Hesse (Hg.): Die Philosophie des Singens

Bettina Hesse (Hg.): Die Philosophie des Singens

Bettina Hesse (Hg.): Die Philosophie des Singens. 272 S.

Philosophen haben sich, wenn überhaupt, des Themas Singen eher beiläufig angenommen. Erst Nietzsche (»Lerne singen, oh meine Seele«) wähnte im Gesang ein besonderes Ausdrucksmittel. Bettina Hesse, Autorin, Dozentin und außerdem sängerisch in verschiedenen Ensembles aktiv, versucht nun mit 21 Autorinnen, sich einer Philosophie des Singens anzunähern. Das geschieht, aus ganz verschiedenen Blickwinkeln und ein wenig unsystematisch, irgendwo zwischen Stimme und Laut auf der einen und Musik und Kunst auf der anderen Seite. Die Beiträge drehen sich um Aspekte von Stimme, Aufführung, Körperlichkeit und Gesang als Ereignis. Da Stimme die Voraussetzung fürs Singen ist, steht sie oft im Mittelpunkt, die Beiträge assoziieren zum existentialistischen (Ur-)Schrei des Babys, zur emotionalen Kraft von Musik oder zum Geräusch im Allgemeinen, was bisweilen zu weit vom Thema wegführt, etwa zum Summen im Bienenstock. Spannend sind dagegen die Einblicke über die kulturellen Grenzen des Gesangs hinweg, zu ukrainischem Obertongesang etwa, zu Flamenco, Parlando oder: zur Pause. Singen kann außerdem durch seine Performativität oder den Versammlungscharakter einer singenden Gruppe etwas Politisches anhaften – man denke an die singend herbeigeführte Unabhängigkeit von Lettland, Estland und ­Litauen oder den Maidan. Wenn allerdings ein Chor gehorsamst den Anweisungen von vorne folgt – im Dienst einer höheren Sache –, ist das Spiel mit der Doppeldeutigkeit der Wortgruppe die Stimme erheben eher platt als treffend. Ebenfalls platt sind die im Band hin und wieder anzutreffenden esoterischen Tendenzen, bei denen Singen als Brücke zur Selbsterkenntnis dient, wenn das singende Ich sich quasi mit sich selbst verbindet. Oder so. Dabei will sicher niemand das verbindende Element des Gesangs bestreiten, sei es beim heiligen Ritual oder eben im Chor.  Franziska Reif

Thomas Frenzel (Hg.): Breitkopf & Härtel

Thomas Frenzel (Hg.): Breitkopf & Härtel

Thomas Frenzel (Hg.): Breitkopf & Härtel. 504 S.

Zum großen Jubiläum hat sich der älteste Musikverlag der Welt, der heute an seinem Gründungsort Leipzig noch einen Nebensitz hat, einen prachtvollen Bildband selbst zum Geschenk gemacht: »Breitkopf & Härtel – 300 Jahre europäische Musik- und Kulturgeschichte«. Auch wenn der Titel reichlich unbescheiden klingt: Unter anderem mit den Gesamtausgaben der Werke Johann Sebastian Bachs, Händels, Mozarts, Schuberts, die der Verlag seit Mitte des 19. Jahrhunderts herausgibt, hat er sich unauslöschlich in die Musik- und damit auch Kulturgeschichte eingeschrieben. Gerade darum aber hätte es dem Haus gut gestanden, seine Geschichte von unabhängigen Historikern aufarbeiten zu lassen, anstatt sich hemmungslos in Eigenlob zu ergehen. Gewiss, das Verlagsarchiv in Leipzig böte mit mehr als dreihundert Regalmetern ganzen Heerscharen von Buchhistorikern für Jahre Beschäftigung. »Wer soll die Fülle an Material ordnen und wie dabei vorgehen?«, fragen die beiden Verlagschefs zu Anfang ihrer »Begrüßung« – und beantworten die Frage gleich selbst: »Warum in der Ferne (nach einem Autor) suchen, wo das Gute so nah liegt?« So wurde Thomas Frenzel, langjähriger Lektor des Verlags, mit der Chronik betraut. Bei allem Fleiß und aller Sachkenntnis (beides sei Frenzel fraglos zugestanden) konnte dabei natürlich kein seriöses Geschichtswerk herauskommen, sondern (das geben die Herausgeber auch unumwunden zu) bloß ein »Lese- und Bilderbuch«. Und das bringt so manche Fragwürdigkeit mit sich. »Unbedingt«, heißt es weiter in der Einführung, »musste dem Impuls widerstanden werden, sich dem letzten Jahrhundert der Verlagsgeschichte zuungunsten anderer Abschnitte der Historie besonders ausführlich zu widmen: Hier galt es abzuwägen zwischen dem Umstand, dass bisherige Jubiläumsveröffentlichungen die Behandlung jüngstvergangener Firmenereignisse naturgemäß noch nicht leisten konnten, und der Gefahr, die Geschehnisse im ›Dritten Reich‹, in der Nachkriegszeit (…) ungebührlich in den Vordergrund zu rücken«. Nun, jenem gefährlichen Impuls haben die Macher des Bandes wirklich bravourös widerstanden. Auch der »Gefahr«, die Geschehnisse im Dritten Reich »ungebührlich in den Vordergrund zu rücken«, sind sie glücklich entronnen. Es ist nämlich nur sehr knapp und an unauffälliger Stelle davon die Rede. Die Schwierigkeiten, unter Kriegsbedingungen weiterzuarbeiten, die Zerstörung der Verlagsgebäude in der schrecklichen Bombennacht 1943, als das Grafische Viertel und damit die Buchstadt Leipzig in Trümmer sank, finden breite Erwähnung. Dass Verlagsleiter Hellmuth von Hase 1936 dem »Reichskulturwalter« Hans Hinkel nahelegte, die Rechte des traditionsreichen Musikverlags Edition Peters an Breitkopf & Härtel zu übertragen, wird zwar nicht übergangen, zugleich aber dieser infame Versuch einer Übernahme des Konkurrenten nicht gerade an die große Glocke gehängt. Ein weiteres Problem eines solchen »Lese- und Bilderbuchs« besteht darin, dass der Leser in dem ganzen Sammelsurium ziemlich allein gelassen wird. So stößt er beispielsweise auf Seite 368 auf die Einleitung zu einer Neuausgabe von Richard Wagners antisemitischem Aufsatz »Das Judenthum in der Musik« von 1939, in dem das fatale Machwerk als »völkische Bekenntnisschrift und seherische Mahnung und Warnung« bejubelt wird. Es gibt keinerlei Zuordnung oder Kommentierung. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Breitkopf & Härtels Verdienste und Bedeutung bleiben unbestritten; auch verschweigt der Verlag seine Verstrickung im Dritten Reich nicht geradezu. Aber man scheut doch letzten Endes davor zurück, sich der eigenen jüngeren Vergangenheit zu stellen. Das ist bedauerlich. Olaf Schmidt

Tom David Uhlig et al.: Extrem unbrauchbar / Bernard E. Harcourt: Gegenrevolution / Jutta Ditfurth: Haltung und Widerstand

Tom David Uhlig et al.: Extrem unbrauchbar / Bernard E. Harcourt: Gegenrevolution / Jutta Ditfurth: Haltung und Widerstand

Tom David Uhlig et al.: Extrem unbrauchbar / Bernard E. Harcourt: Gegenrevolution / Jutta Ditfurth: Haltung und Widerstand. 2019. 304 S. 19 € / Bernard E. Harcourt: Gegenrevolution – 2019. 304 S.

»Wer noch überleben will, verliere keine Zeit, / Mut zur Tat für Jedermann, dann endet dieser Streit.« Selten waren die Zeiten für Skeptiker bestehender Verhältnisse schlechter bestellt als gegenwärtig. Rund 500 flüchtige Nazis werden mit Haftbefehl gesucht, die nazistische Gewalt bis hin zum Mord nimmt zu. Währenddessen scheint es einem CDU-Politiker gar am Holocaust-Gedenktag legitim, auf den Antisemitismus »vor allem unter Muslimen« hinzuweisen und deutsche Schuld zu relativieren. Und ein paar Randalierer werden vom Ministerpräsidenten höchstselbst zum »Terror von links« etikettiert. Was tun? Hinsehen, aufklären, widerstreiten. Exit Hufeisen: Die unselige Extremismustheorie, die Gleichsetzung von rechts und links, hält sich noch immer in der Öffentlichkeit. Dabei sollte sich herumgesprochen haben, dass die Wissenschaft sie als »extrem unbrauchbar« ablehnt. Da kommt gleichnamiges Buch zur rechten Zeit, auch wenn wenig Neues drinsteht: Die Gleichsetzung verharmlost die Gefahr durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Außerdem ist die Grundannahme einer gesellschaftlichen Mitte, die neutral oder politischer Normalmaßstab ist, nicht überzeugend, auch wenn alle davon reden. Das kann man schon lange wissen, weshalb es unverständlich ist, warum ein Vorgängerwerk wie »Ordnung.Macht.Extremismus« des Leipziger Forums für kritische Rechtsextremismusforschung als Referenz fehlt. Wer sich noch nicht mit der Materie auskennt, wird hier jedenfalls bedient. Anleitung zum Bürgerkrieg: »25 Menschen verloren Augen, fünf Hände, Hunderte wurden schwer verletzt. Die meisten Opfer sind Demonstrierende, aber … auch mehr als hundert Journalisten, 46 Minderjährige und 70 Passantinnen, die von einem Schlagstock, einer Granate oder einem Gummigeschoss getroffen wurden.« Die Statistik über die Polizeigewalt gegenüber den Gelbwestenprotesten in Frankreich schockiert (Stand: 12/2019, Quelle: Die Zeit). Sie ist ein weiterer Hinweis darauf, ­wie die Staaten die Militarisierung der Polizei vorantreiben. Auch in Deutschland ist der freundliche Helfer längst nicht mehr das Idealbild, das die Politik vom Cop hat. Den »Kampf der Regierungen gegen die eigenen Bürger« hat Bernard E. Harcourt am Beispiel der USA analysiert. Die Techniken der Aufstandsbekämpfung, die die Kolonialmächte einst gegenüber den Kolonisierten entwickelten, sind zum ­festen Repertoire des Polizeiapparats im Innern geworden. Schwer gepanzerte Kräfte mit ­Maschinengewehren und Panzern etwa ­begleiteten Demonstrationen von »Black Lives Matters«. Harcourt zeichnet die historische Genese verständlich nach, wie diese Logik Teil der Innenpolitik wurde. Es ist das Hauptziel der Aufstandsbekämpfung, eine passive Mehrheit bei der Stange zu halten, indem die kleine Gruppe der Protestierenden in Schach gehalten wird. Harcourt nennt als Grundsätze: »Erlange totale Informiertheit«, »Vernichte die aktive Minderheit« und »Erlange die Gefolgschaft der Gesamtbevölkerung«. Er rät dazu, die Zahl der Unbequemen zu ­vergrößern. »Haltung und Widerstand« empfiehlt ebenfalls Jutta Ditfurth. In ihren hellsichtigen Kapiteln ist zu erfahren, wie die fortschrittliche Seite der Gesellschaft in Deutschland geschwächt wurde, die alte und die vermeintlich neue Rechte wieder erstarkten. Ditfurth bleibt aber hier nicht stehen, sondern zeigt, wie tief völkisches Bewusstsein in der Gesamtbevölkerung wurzelt. Sie nimmt Kritisches bei den Umwelt- und Friedensbewegungen in den Blick, etwa die inhumane Botschaft, die sie in der Agenda bei Gruppen wie Extinction Rebellion sieht: Das grüne Bewusstsein befürwortet Menschenfeindlichkeit und weil es zu viele von uns gäbe, wäre es Zeit für die Selektion. Dem Antizionismus, oft genug Tarnung für Antisemitismus, ist ein Kapitel gewidmet, genauso wie den Motoren, die den deutschen Nationalchauvinismus angetrieben haben und antreiben, etwa die falsche Rede vom »Partypatriotismus«. Man erfährt von der erfahrenen Aktivistin aber auch von historischen Kämpfen – es waren auch Siege darunter –, die ­ermutigen sollen. Letztlich, so Ditfurth, bleibt es bei einem trotzigen Trotzalledem: »Haltung ist kritisches Bewusstsein, Verweigerung des Mitmachens und politische Haltung. Widerstand ist aus politischem Bewusstsein gespeiste Handlung, die Risiken eingeht und der das Kämpfen folgt.«  Tobias Prüwer

2019. 304 S., 19 € / Bernard E. Harcourt: Gegenrevolution –