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Rezensionen

Aminata Touré

Aminata Touré

Wir können mehr sein. Die Macht der Vielfalt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021. 272 S., 14 €

Aminata Touré.

Der sogenannte Vorbild-Effekt ist belegt: Wenn Frauen andere Frauen in bedeutsamen Positionen erleben, steigen ihr Selbstbewusstsein, ihr Potenzial und ihre Motivation. Für mehrfach marginalisierte Gruppen fehlen die Vorbilder häufig, zum Beispiel in der politischen Landschaft Deutschlands. Das Buch »Wir können mehr sein. Die Macht der Vielfalt« will genau diese Lücke füllen. Dessen Autorin, die Grünen-Politikerin Aminata Touré, kam 1992 in Neumünster als Kind von geflüchteten Eltern auf die Welt, seit 2017 sitzt sie im schleswig-holsteinischen Landtag. Bis zu ihren Teenager-Jahren lebte sie permanent mit der Gefahr, nach Mali abgeschoben zu werden. Dabei lebte sie dort nie. Ihre alleinerziehende Mutter brachte Touré und ihren Geschwistern früh bei, dass sie als Schwarze Jugendliche und junge Frauen mehr leisten müssen, um dieselbe Anerkennung zu bekommen wie ihre weißen Mitmenschen. Dass nicht-weiße Jugendliche im deutschen Schulsystem aufgrund rassistischer Einstellungen der Lehrkräfte benachteiligt werden und bei gleicher Leistung schlechtere Noten bekommen, wurde mehrfach wissenschaftlich belegt. Insofern hatte Tourés Mutter, die als Autorin eines der Kapitel im Buch auch selbst zu Wort kommt, recht. Tourés Sprache ist zugänglicher als viele Bücher, die man von Politiker:innen kennt. Das ist wertvoll, weil sie viel vom politischen Alltag erzählt – eine Welt, die für Außenstehende unzugänglich sein kann. Tourés Gedichte zwischen den Kapiteln liefern zudem Einblicke über ihre Innenwelt. Sibel Schick

Stefan Heym

Stefan Heym

Flammender Frieden. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. München: C. Bertelsmann 2021. 477 S., 24 €

Stefan Heym.

Lieutenant Bert Wolff, 1933 vor den Nazis geflohen, landet als amerikanischer Soldat in Algerien und kämpft gegen machtbesessene Nazis und korrupte Franzosen des Vichy-Regimes. Er verteidigte bereits im Spanischen Bürgerkrieg in der Internationalen Brigade seine Ideale einer linken Utopie und in Nordafrika geht der Kampf weiter. Als Vernehmungsoffizier sammelt er möglichst viele Informationen. Sein größter Feind aus Spanien ist wieder da: Major Ludwig von Liszt, überzeugter Faschist und Machtmensch, der die Ideale der Amerikaner voller Verachtung abtut: Sie denken »immer viel zu christlich«. In dem autobiografisch gefärbten Roman schildert Heym mit klarer und direkter Sprache, wie die teilweise doch etwas naiven Amerikaner vieles nicht verstehen, weil es nicht in ihr Weltbild passt. Heym stellt als allwissender Autor eine Fülle von Protagonisten vor, die mit langen Rückblicken in ihre Vergangenheit die Vielschichtigkeit ihres Charakters offenbaren. In komplexen Handlungssträngen entwickeln sich die Ereignisse langsam und verdeutlichen den Lesern die Verbindungen der Figuren untereinander. Dabei tummeln sich die skrupellosen Machtmenschen, für die nur das eigene Ego und der eigene Vorteil zählen, auf beiden Seiten. Eine Französin spielt eine zentrale Rolle, zwischen den vielen Männern steht sie für eine unglückliche Liebe zwischen Hass und Hingabe: »Nicht, dass sie Liszt nicht liebte – ihr Problem war, dass sie es tat.« – »Casablanca« lässt grüßen. Bernhard Robbens Übersetzung liest sich gut und flüssig. Der Roman spricht allgemein menschliche Probleme an und durch seine Botschaften ist er heute so aktuell wie bei seiner Erstveröffentlichung in den USA. Eine lohnende Lektüre, die zum Nachdenken anregt. Joachim Schwend

Iuditha Balint, Julia Dathe et al. (Hg.)

Iuditha Balint, Julia Dathe et al. (Hg.)

Brotjobs & Literatur. Berlin: Verbrecher Verlag 2021. 240 S., 19 €

Iuditha Balint, Julia Dathe et al. (Hg.).

Wie wird einer Autor, und vor allem: Wie bleibt sie es? Dieser Frage geht eine neue Anthologie nach, in der 19 Autorinnen Auskunft darüber geben, mit welchen Tätigkeiten sie ihre literarische Arbeit finanzieren. In den seltensten Fällen ist das der Buchverkauf. Häufiger sind es Lese- oder Workshophonorare, oft auch das Gehalt als Gabelstaplerfahrer oder Gestalttherapeutin. Die Texte in »Brotjobs & Literatur« reichen von überraschenden Lebensgeschichten bis hin zu zynisch-fröhlichen Tagebucheinträgen, immer wieder geraten die Herkunft und damit das eigene Verhältnis zur Arbeit in den Blick. Unter den versammelten Autorinnen sind glücklicherweise genug, für die Arbeit keineswegs »eher eine Art von Bezug oder Bezüglichkeit, die Möglichkeit, etwas zu geben oder mich in Verbindung zu setzen« (Swantje Lichtenstein) darstellt, sondern eine mal freudvolle, mal entfremdete Tätigkeit, ohne die sie kein Dach überm Kopf besäßen. Entbehrungsreich ist das Autorendasein für fast alle Beitragenden, und manch einer »rechnet sich, um nicht gänzlich die Lust daran zu verlieren, natürlich sein symbolisches Kapital schön«, wie Sabine Scho es mit sympathischer Offenheit beschreibt. Den Mythos, dass die Kunst in ihrer Größe diese Entbehrungen schon irgendwie aufwiegt, zerschlägt Scho dankenswerterweise: Schließlich verdienen an der Literatur beispielsweise Agentinnen oder Literaturhausleiter durchaus akzeptabel. In einem beliebigen Job zu arbeiten und sich dabei sein ökonomisches Kapital schönzureden, ist allerdings auch keine Lösung, und es ist auch nicht zu erwarten, dass das bedingungslose Grundeinkommen die Widersprüche des Spätkapitalismus auflösen wird. Vielleicht bringt Thorsten Krämer es auf den Punkt, indem er eine Parole ausgibt, die weit über den Literaturbetrieb hinausreicht: »Nicht ›Mehr Geld für Kultur!‹, sondern: ›Ein anderer Arbeitsmarkt!‹« Dem wäre noch einiges hinzuzufügen. Aber ich muss jetzt los. Geld verdienen. Katharina Bendixen

Frank Kreisler

Frank Kreisler

Wand an Wand mit einer Leiche. True Crime Leipzig. Mit Fotografien von Christiane Eisler. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2022. 173 S., 14 €

Frank Kreisler.

Die nicht ganz so blühenden Landschaften der ostdeutschen Nachwendezeit sind ein gut beackertes Feld. Die kurze Freiheit, in der man träumen konnte, verwandelte sich in den ultimativen Abfuck: Treuhandtrauma und Massenarbeitslosigkeit, sterbende Städte, Alk, Frust, faschistische Pogrome und Baseballschlägerjahre und der arrogante Hochmut der »Besser-Wessis«. Frank Kreislers Reportagen über authentische Kriminal- und Gerichtsfälle im Leipzig der frühen Neunziger atmen in allen Details die allgemeine Depression der Zeit. Da ist ein Vermieter aus Aschaffenburg, der ein Haus Luxus-sanieren will und mit Hilfe eines Leipziger Privatdetektivs den hartnäckigen Bleibewillen der letzten Mietpartei durch drei Schlägertypen zertrümmern lässt, die nachts einbrechen, die Wohnung verwüsten und die Geschädigten schwer verletzen und ausrauben. Da sind immer wieder Geschichten von Arbeitslosen, Vorbestraften und Gescheiterten im Dauersuff. Von Frauen, die von Männern brutal misshandelt werden, so wie Juliane Schwarzer, die ihr Lebensgefährte 1994 in der Demmeringstraße aus dem Fenster warf. Und da ist der Selbstbetrug, wie der des Anti-Helden der Titelstory, gefangen im unauflösbaren Widerspruch von der glitzernden Welt des Erfolgs zu den kümmerlichen Möglichkeiten der grauen Realität. »Doch irgendwann fiel der berühmte Tropfen in das Fass, der es zum Überlaufen brachte.« Den recht kurz gehaltenen Texten, die das Verbrechen, seine Motivlage, die Ermittlung und das juristische Verfahren umreißen, hätte an einigen Stellen durchaus mehr Ausführlichkeit gutgetan. Auch wirkt der literarische Stil mit seinem übermäßigen Einsatz von umgangssprachlichen Redewendungen, die sich teilweise wie aus einer Boulevardzeitung der geschilderten Zeit lesen, ein bisschen befremdlich. Aber für Fans des Genres vielleicht nicht. Thorsten Bürgermann

Jérôme Leroy und Max Annas

Jérôme Leroy und Max Annas

Terminus Leipzig. Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Hamburg: Edition Nautilus 2022. 127 S., 16 €

Jérôme Leroy und Max Annas.

Die unangepasste Christine Steiner, Commissaire bei der französischen Antiterroreinheit DGSI, kämpft mit vielen Problemen: Alkohol, Kokain, Beruhigungsmittel, psychischen Problemen, die durch Enthüllungen aus ihrer Vergangenheit verschlimmert werden. Ein Einsatz gegen die internationale rechtsextreme Szene geht böse aus, sie wird vom Dienst suspendiert und schlittert doch gleich in den nächsten Fall: Ein Foto lässt sie Schlimmes ahnen. Sie macht sich auf den Weg nach Leipzig und gerät dort in einen blutigen Krieg zwischen rechtsextremen »Todesschwadronen« und inzwischen harmlosen, weil alt gewordenen Revolutionären aus der bundesdeutschen RAF-Szene der 1970er Jahre. Mit interessanter Erzähltechnik schrieben die Autoren jeweils abwechselnd ein Kapitel, manche Ereignisse werden im inneren Monolog aus verschiedenen Blickwinkeln der Protagonisten und mit Kommentaren eines allwissenden Erzählers berichtet. Der düstere »Roman noir« in der Sprache der Altlinken ist nichts für zartbesaitete Leser oder für Sprachästheten; es geht gegen »die üblichen Reaktionäre, Nazis und Spacken«, um »neobraune Idioten« und die Zahl der »Arschlöcher« ist so hoch wie die der »Bullen«. Die Spannung steigt stetig, die inneren Konflikte der Kommissarin lassen ihr brutales Vorgehen fast verständlich werden. Der Vergleich mit der Schlacht um »Fort Alamo« im texanischen Unabhängigkeitskrieg drängt sich auf. Das Ende wird nicht verraten. Der positive, wenn auch düstere Gesamteindruck wird beeinträchtigt durch ein ziemlich schlampiges Lektorat im Bereich von Grammatik und inhaltlichen Widersprüchen. Der Roman thematisiert überspitzt die Bedrohung der rechtsextremen, fremdenfeindlichen deutsch-französischen »Action Europe Blanche«, die gegen »linke Zecken« kämpft. Joachim Schwend

Alida Bremer

Alida Bremer

Träume und Kulissen. Salzburg: Jung und Jung 2021. 352 S., 24 €

Alida Bremer.

Wieder geht es mit Alida Bremer an die Adria. Nach »Olivas Garten« siedelt die seit 1986 in Deutschland lebende Autorin auch ihren zweiten Roman in ihrer Herkunftsregion Dalmatien an. Ein Apotheker entdeckt im Hafen von Split einen toten Mann, ein Fischer bringt die Leiche zur Polizei. Mehrere drückend heiße Sommertage im Jahr 1936 ermittelt Kommissar Mario Bulat vor sich hin. Die Stadtbewohner, Industrielle, Marktfrauen, Notare, Dienstmädchen, Kellner, Buchhändlerinnen und Kinder, machen sich derweil ihren eigenen Reim auf den Mord. Den wiederum braucht es, um von den Feindschaften zwischen Königstreuen, Freimaurern, italienischen Faschisten und kroatischen Nationalisten zu erzählen. Und auch deutsche Filmteams in Split, unter ihnen Kommunisten sowie Gestapo-Spitzel, sind alarmiert vom Mord an dem aufstrebenden Reeder. Der nämlich verdiente sein Geld damit, Menschen bei der Flucht vor dem NS-Regime zu helfen. Die mit römischer Geschichte und Tratsch gesättigte Stadt scheint über den Mord oft mehr zu wissen als der Kommissar. Als Krimi nimmt sich das Buch ohnehin nicht ganz so ernst. Dafür schillert auf jeder Seite Lokalkolorit. In einer der Hauptrollen dabei: die Küche Dalmatiens. Pasta mit allem, was das Meer hergibt, Gulasch mit Njoki, Fladen mit Mangold und Knoblauch. Doch trotz dieser Gaumenfreuden wird fast die Hälfte des Personals am Ende des Romans die Stadt verlassen haben. »Das jugoslawische Königreich wirkte bisweilen wie ein Umschlagplatz, auf dem keine Handelswaren, sondern politische Ideen, nationale Spinnereien, Abenteurer, Agenten und Flüchtlinge verladen wurden.« Auf sehr kurzweilige Art erzählt »Träume und Kulissen« von einem vielsprachigen Split, das heute so nicht mehr existiert. Ulrike Schult

Johanna Weinhold

Johanna Weinhold

Die betrogene Generation: Der Kampf um die DDR-Zusatzrenten. Berlin: Ch. Links 2021. 238 S., 18 €

Johanna Weinhold.

»Gefühlte Härten« sind in einem Rechtsstaat nicht geregelt. Nicht nur deshalb haben 27 Berufs- und Personengruppen der ehemaligen DDR keinen Platz im westdeutschen Rentensystem. Die in Leipzig lebende Fachjournalistin Johanna Weinhold gibt den Betroffenen eine Stimme. Denn längst sind ihre Geschichten untergegangen in den ständig wiederholt kopierten Sachständen und Gutachten jahrelang geführter Prozesse auf unterschiedlichen Instanzen. Die betroffenen Personen waren nicht allesamt Systemnahe. Sie gehören zu den zehn Prozent der ehemaligen Arbeitnehmenden in der DDR, deren Ansprüche aus der freiwilligen Zusatzrente entweder ganz gestrichen oder mindestens erheblich gekürzt wurden. Dies betrifft unter anderem Balletttänzerinnen, Reichsbahner, Bergmänner, in der DDR geschiedene Frauen und ja, auch Mitarbeiterinnen des MfS. In Interessensgruppen kämpfen sie seit dreißig Jahren um Anerkennung. Weinhold gibt ausgewählten Vertreterinnen dieser betroffenen Gruppen das Wort. Ihr Sachbuch über »Die betrogene Generation« ist in großen Teilen ein Interviewband. Darin beleuchtet sie die Leben und einzelnen Schicksale exemplarisch und bringt deren Situationen klug und umfassend informiert auf den Punkt. Noch spannender wird es, wenn die Autorin mit dem Psychologen Michael Linden den Bogen zur heutigen Politikverdrossenheit schlägt und die auch in dieser Debatte vorherrschende posttraumatische Verbitterungsstörung thematisiert. Denn diese Anpassungsstörung, die sich auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung in Wut, Frust und Radikalisierung niederschlägt, wird erwiesenermaßen transgenerational weitergegeben. Hier lässt sich nur hoffen, dass dieser Neuzugang in der Bibliothek des Deutschen Bundestages kein Platzhalter bleibt. Immerhin wurden dort im Mai 2021 Anträge zur Änderung des Rentenrechts schon wieder abgelehnt. Marcel Hartwig

Janice P. Nimura

Janice P. Nimura

Die Blackwell-Schwestern. Wie die ersten Ärztinnen der USA die Frauen in die Medizin brachten. Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Harlaß. München: Nagel & Kimche 2021. 463 S., 26 €

Janice P. Nimura.

Heute erinnert in Manhattan nur eine kleine Gedenktafel an die Sensation, die sich dort 1857 ereignete: Elizabeth und Emily Blackwell eröffneten das erste von Frauen geleitete und ausschließlich mit weiblichem Personal besetzte Krankenhaus für Frauen. Elizabeth hatte 1849 als erste Frau in den USA den Abschluss in Medizin erhalten, Emily es ihr 1854 gleichgetan. Janice P. Nimura zeichnet die Lebenswege der Schwestern en détail nach. Sie zeigt, mit welchen Widrigkeiten beruflich ambitionierte Frauen im 19. Jahrhundert konfrontiert waren, erlaubt Einblicke in das medizinische Establishment und macht daraus spannende Lektüre. In einer chronologischen Nacherzählung, ergänzt durch Briefe, arbeitet Nimura die Überzeugungen und Ängste der Vorreiterinnen heraus. Heraus sticht die Erkenntnis, dass die Blackwell-Schwestern keineswegs daran interessiert waren, die Frauenbewegung als solche voranzubringen. Es ging ihnen nicht um Gleichberechtigung. Für Elizabeth war Medizin eher Mittel zum Zweck. Sie glaubte, dass jedes menschliche Wesen danach streben sollte, nach seinen Möglichkeiten den besten Dienst an Gott zu tun. Als Hausweibchen hinter dem eigenen intellektuellen Potenzial zurückzubleiben, kam also für sie nicht in Frage. Ebenso wenig der Besuch eines Frauencolleges. Die Schwestern setzten sich unermüdlich dafür ein, dass Frauen eine ebenso fundierte medizinische Ausbildung zuteilwerden konnte wie Männern. Durch ihren lebenslangen Einsatz wurden sie von ambitionierten jungen Frauen zu öffentlichen Personen, die bedeutenden Anteil daran hatten, dass der Bereich der medizinischen Ausbildung für Frauen weitgehend geöffnet wurde. Nele Thiemann

Susanne Kerckhoff

Susanne Kerckhoff

Die verlorenen Stürme. Berlin: Verlag Das kulturelle Gedächtnis 2021. 232 S., 22 €

Susanne Kerckhoff.

Wie die Nazis aufhalten? Was soll auf unserm Flugblatt stehen? Warum versagen die Eltern? Ist das Bürgertum schuld oder die SPD? Das sind Fragen, die links fühlende 17-Jährige vor und nach der Katastrophe stellen. Eine Klasse von Berliner Primanerinnen und ihre Freunde durchleben »Die verlorenen Stürme« von Susanne Kerckhoff – 1947 erschienen und in der Neuausgabe als »Widerstandsroman« aus jugendlicher Perspektive gelobt. Freilich, der Widerstand beschränkt sich auf Plakatieren im Wahlkampf, ein Scharmützel mit SA-Burschen und Renitenz gegen völkischen Unrat in der Schule. Wichtiger sind die nervösen Debatten der jungen Aktivisten und Aktivistinnen, glatt sortiert von Kommunistin bis Liberaldemokrat. Sie sehen Tod und Verderben kommen, klagen Mitläufer und Gleichgültige an. Die schlechteste (und interessanteste) Figur macht ein Erfolgsschriftsteller, der Parteien und Engagement verabscheut; sein Eskapismus wird am Ende gegeißelt. Das besorgt die Tochter des Autors in der Einsicht, dass Jugend sich radikalisieren muss, damit nicht nur die Rechte radikal ist. Die arglose Schwärmerin Marete wird zur überzeugten Sozialistin. Revolutionäre Arbeitslose und Künstler, Marx-Lektüre, Tucholsky-Lieder stählen ihren Idealismus. Bezeichnend die Szene, in der das vom Vater verbannte Mädchen von einer Tante trotzig den Kauf der »Weltbühne« verlangt – ausgeschlossen für eine gutbürgerliche Familie. So erwartbar sind alle Markierungen in der mit 25 leeren Seiten gestreckten Ausgrabung, die nicht spart an Ausrufezeichen, Pathos und Melodram. Die Dürftigkeit der literarischen Gestaltung ist wohl auch zeittypisch, ebenso das einheitsparteiliche Mantra (»wir mit unseren blauen Hemden«) vom Aufbau des neuen Deutschland. Solche Mode hat sich erledigt. Der ganze expressionistisch behauchte Bildungsroman ist schlecht gealtert. Sven Crefeld

Joris-Karl Huysmans

Joris-Karl Huysmans

Die Schwestern Vatard. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Berlin: Friedenauer Presse 2021. 269 S., 20 €

Joris-Karl Huysmans.

Allein schon, wie er einen Starkregen toben lässt; wie er das Rangieren von Lokomotiven als höllisches Spektakel inszeniert; wie er seitenlang den Nippes der »Ramschreligion« oder die Ödnis von Familienfotos besichtigt; wie er ein Parfüm als »Kräutersoße« verspottet; und wie oft die Peitsche des Semikolons knallt, sein bevorzugtes Satzzeichen. Großartige, kompromisslose Literatur von 1879: Bei diesem Huysmans gerät man aus dem Häuschen. Alles an seinem Zweitling »Die Schwestern Vatard« ist zu feiern. Zunächst die Entdeckung, dass jener Roman aus Zolas Schule endlich auf Deutsch zu haben ist. Sodann die Schönheit der Broschur, die gepfefferte Übersetzung, das elegante Nachwort, der fingierte Artikel, mit dem Huysmans sich selbst porträtierte (und kritisierte). Ein Like noch für seinen Satz: »Einem Mann aus Leipzig werde ich mich immer näher fühlen als einem aus Marseille.« Das Buch folgt dem Programm des Naturalismus, indem es proletarisches Leben ohne sittsame Schonung zeigt, Schockwörter inklusive. Zwei junge Frauen der Pariser Unterschicht tragen die Handlung, ihre Triebe und Träume sind eng umrissen. Sie arbeiten in einer Buchbinderei, die ein faszinierender Mikrokosmos ist; Céline sucht nebenher Amüsement und Liebschaften, Désirée wartet auf kleinbürgerliches Glück. Überhaupt wird viel auf Männer und ihre Entschlüsse gewartet, es regnet ständig, Alkohol fließt reichlich. Selten Trost geben schäbige Kaschemmen und Stundenhotels, eine Kirmes und billige Varieté-Theater. Solchen 08/15-Stoff wandelte Huysmans mit ätzendem Sarkasmus zum grellen Milieubild, das seine Gabe des malerischen Blicks beweist. Erst 2019 fand er mit der »Pleïade«-Ausgabe zur Kanon-Ehre in Frankreich; nun stellen ihn auch die »Schwestern« ins beste Licht. Sven Crefeld

Volker Reinhardt

Volker Reinhardt

Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit. Eine Biographie. München: C. H. Beck 2022. 608 S., 32 €

Volker Reinhardt.

Wie kein anderer Philosoph und Schriftsteller steht François-Marie Arouet (1694–1778), der sich Voltaire nannte, für die Aufklärung. Auch die Deutschen haben ihn bewundert und verehrt – obwohl uns der Typus des Intellektuellen, den er verkörpert, im Grunde fremd, sogar suspekt ist. Denn im Gegensatz zu seinen deutschen Kollegen philosophierte Voltaire nicht einsam in einer Dachkammer vor sich hin, Monsieur wohnte in Schlössern, liebte kluge Frauen und vermehrte seinen Reichtum durch riskante Finanzgeschäfte. Seine Feinde bekämpfte er unerbittlich und mit allen Mitteln. Aber wenn es sein musste, machte er seinen Kotau vor Staatsmacht und Kirche. Anders als Kant, Fichte, Hegel hat Voltaire kein eigenes philosophisches System geschaffen, dafür zwei Versepen, fünf Geschichtswerke, fast fünfzig Theaterstücke; dazu kommen unzählige Briefe und Kampfschriften. Seine Arbeitskraft war ebenso unermesslich wie sein Ehrgeiz und seine Egozentrik. Wer sein erstaunliches Leben und Werk näher kennenlernen möchte, findet in Volker Reinhardts gut lesbarer Biografie, was sie oder er braucht, zumindest fürs Erste. Sagen wir so: Wir erfahren zwar vieles, zum Beispiel, was sich in all den Dramen und Novellen abspielt, aber letztlich nicht so viel. Wie hat es Voltaire eigentlich geschafft, zu einer intellektuellen Weltmacht zu werden? Wie funktionierte sein europaweites Netzwerk, das es ihm ermöglichte, diese Macht auszuüben? Das hätten wir gerne genauer gewusst. Was soll’s, auf alle Fälle macht Reinhardt Lust auf mehr: nämlich Voltaires Werke selbst zu lesen. Und das ist weiß Gott nicht das Schlechteste, was sich über eine Biografie sagen lässt. Olaf Schmidt

Markus Thielemann

Markus Thielemann

Zwischen den Kiefern. Greifswald: Katapult 2021. 304 S., 20 €

Markus Thielemann.

Kasimir, der halbgare Nihilist, ist beseelt vom Hass auf alles Zivilisatorische. Seine jugendliche Tochter Mia kennt die Welt nur über ihren Vater, der ihr ein unerbittlicher Erzieher war. »Kasimir tat ständig Dinge, die sie nicht verstand.« Die letzten zehn Jahre verbrachten die beiden isoliert vom Treiben der Menschen in der »Wildnis«. Wenn sie nicht in seinem Sinn agierte, sperrte er sie in eine Holzkiste. Plötzlich entdeckt Mia (aufgewachsen ohne Mutter) den friedlich schlummernden Sören (aufgewachsen ohne Vater) im Wald. Besonders seine Ohrläppchen haben es ihr im weiteren Verlauf des Romans angetan. Sören ist frisch entkommen aus den liebevollen Fängen seiner künstlernden Mutter. Nach einigen Prüfungen auf Herz und Nieren wird Sören Mitglied der zweiköpfigen Familie, die dem Terror der Zivilisation mittels rabiater Tierbefreiung, Abfackeln von Getreide und Ähnlichem die Harke zeigt. Den Kopf voller Schwurblerquark, wird Mias Vater schnell Sörens persönlicher Mephisto. Obgleich alles im Wendland der Gegenwart spielt, scheinen manche Ereignisse ordentlich an den Haaren herbeigezogen. Alles scheint einzig auf den großen Showdown hin ausgelegt. Dass eine Kleinfamilie viele Jahre im Wald und auf der Heide ungestört ihr Unwesen treiben kann, ist unwahrscheinlich: Wo sind die Bullen mit ihren Wärmebildkameras, wenn man sie braucht? Vielleicht hat ja die Lesegeneration Greta/Luisa ihren Spaß daran. Oder ist es ein Fall von Schreibschulenfluch, der für die Mätzchen im Roman (krude Botschaften englischsprachiger Internettrolle, getollschocktes Erzählen und filmähnliches Finale) erantwortlich zeichnet? Ein komisches Buch, zu viele formale Schlenker und eine Story, die im brasilianischen Regenwald funktionieren könnte, nicht jedoch in der Kulturlandschaft des Wendlands. Frank Willmann

Lucy Fricke

Lucy Fricke

Die Diplomatin. Berlin: Claassen 2022. 254 S., 22 €

Lucy Fricke.

Fred ist seit 20 Jahren Diplomatin, sehr erfahren, trotzdem fällt es ihr schwer, den Tag der Deutschen Einheit auszurichten: erst in Montevideo, dann in der Türkei. Während der Vorbereitungen wird im sicheren Uruguay die Tochter von prominenter Presse-Elite entführt. Fred kümmert sich, dennoch wird ihr Verhalten als mangelhaft eingestuft. Es folgt die Versetzung in die Türkei. Auch hier kümmert sich das Personal um ihre emotionalen Lagen und Bedürfnisse, mittels Steaks, Granatapfelsaft und treffenden Worten. Denn Fred reist nunmehr ohne MAP, den »man at the pool«. Hier wird sie der Unmenschlichkeit und Duldsamkeit ihrer eigenen und der türkischen Regierung gewahr. Beide lassen Unschuldige verhaften. Eine aktivistische Künstlerin und ihr Sohn sind diejenigen, die Freds diplomatisches Geschick herausfordern, auch der Journalist, der in Montevideo ihre Karriere hätte zu Fall bringen können, bedarf Freds Verstand und Armen. Am Ende werden überzeugend Regeln gebrochen und Systeme ausgehebelt, weil eine ihre Macht für die Gerechtigkeit zu nutzen weiß. Frickes Sprache ist nah an den Figuren. Wie bereits in »Takeshis Haut« dringt Fricke in eine Berufswelt in all ihrer Komplexität und ihren Verantwortlichkeiten ein. Wie bereits in ihren vier vorhergehenden Romanen schreibt Fricke über Klasse: Sie spürt deren Einschreibungen in Körper, Verhalten und Gedankenwelt auf und schreibt sie als selbstverständlichen Anteil ihrer Figurenwelten und -konstellationen. Fricke ist ein politisch wichtiges und eindringliches Buch gelungen, das aufzeigt, dass Regeln genutzt und umspielt werden können. Suse Schröder

Katharina Bendixen

Katharina Bendixen

Taras Augen. München: Mixtvision 2022. 384 S., 17 €

Katharina Bendixen.

Die Leipziger Autorin Katharina Bendixen hat einen gesellschaftskritischen Jugendroman veröffentlicht, der in den Verwirrungen zwischen zwei Teenagern eine mitreißende Geschichte über Freundschaft und Liebe, Angst und Vertrauen, Scham und Eskapismus, Herrschaft und Widerstand entfaltet. Zusammen aufgewachsen, hatten sie schon immer eine besondere Beziehung zueinander, als Alun aus Missverständnis und Eifersucht Tara zutiefst kränkte und der Kontakt abbrach, bevor ihre Liebe richtig aufgehen konnte, weil ein Chemiewerk in der Nähe explodierte und die beiden Nachbarn trennte. Seitdem lebt Alun in einer Großtstadt und schämt sich für das, was er Tara angetan hat. Während er in Gedanken an sie Streetartfliesen mit ihren Augen klebt, liefert er sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem totalitären Überwachungssystem. »Verschwinden kann jeder, der vom Verschwinden redet, und die Securities, die dieses Verschwinden organisieren, sitzen drei Schritte von mir entfernt. Aber wissen diese Securities überhaupt, was in der Gelben Zone abgeht?« Weil das Ausmaß des GAUs vertuscht wird und finanzielle Not ihre Familie dazu zwang, ist Tara »freiwillig« zu ihrem alten Zuhause in die »Gelbe Zone« zurückgekehrt. Während sie schwer an der kontaminierten Umwelt erkrankt, beginnt sie Alun zu verzeihen. Die zärtliche Wiederannäherung der beiden wird durch die geschickte Montage wechselnder Perspektiven mit Cliffhangern, räumlichen Sprüngen und elliptischen Auslassungen durchweg spannend erzählt. Ihr feines Gespür für Charaktere stellt Bendixen dabei ebenso in der Zeichnung der Freunde unter Beweis, an deren Seite das getrennte Paar dramatische Entwicklungen durchlebt. »Taras Augen« ist jedoch nicht zuletzt deshalb ein großes und wichtiges Jugendbuch, weil es sehr anschaulich das Dystopische in unserer realen Gegenwart aufzeigt und somit zum kritischen Denken anregt. Thorsten Bürgermann

Ulrike Draesner

Ulrike Draesner

doggerland. München: Penguin Verlag 2021. 182 S., 38 €

Ulrike Draesner.

Ein paar Jahre ist es her, da war dort, wo heute die niederländischen Boote in der Nordsee nach Kabeljau fischen, noch gar keine Nordsee. Da tummelten sich Urmenschen und Mammuts, Säbelzahntiger und ihr Scheiß und Gestank auf trockenen Böden, zwischen Wäldern, Höhlen und Schluchten. Und dann wurde es kalt, und dann warm. Und dann kam irgendwann die Flut. Und dann, noch etwas später – ein Wimpernschlag in der Geschichte – kommt die gebürtige Münchnerin Ulrike Draesner auf die Idee, den erdgeschichtlichen Unwahrscheinlichkeiten, die unserer Gegenwart vorausgingen, ein Denkmal zu setzen. Nicht so sehr die steinzeitliche Nordsee als vielmehr die sie besiedelnden Organismen macht die Autorin zum Schauplatz ihrer lyrischen Erkundungen. Draesner begleitet ihre fernen Vorfahren in diesem »Langgedicht« (so nennt sie es selbst) auf dem Weg zum ersten Werkzeug, zur Sprache. Begleitet sie zur Jagd und beim allmählichen Verlernen tierischer Instinkte, bei der Geburt ihres Nachwuchses. Flankiert wird diese Mammutaufgabe von einer etymologischen Spielfreude und Präzision. Phonetische, semantische Bezüge zwischen der deutschen und der englischen Sprache schimmern an den Seitenrändern und inmitten der Zeilen, kursiv und in Klammern. Assoziativ, originell und trotzdem jederzeit nachvollziehbar ist dieses Buch geraten. Fast beiläufig dekonstruiert sie zusätzlich die allzu gängige Mär vom naturgemäß jagen den Mann, dem die archaische teigknetende Hausfrau gegenübersteht. Dagegen die »doggerland«-Frauen: »Waren sie es, die begannen, Tiere zu zähmen?« Die Sprache jedenfalls bleibt hier ungezähmt oder wird überhaupt erst ausgewildert. Jonas Galm

Dominika Słowik

Dominika Słowik

Tal der Wunder – Der Esoteriker, die Genossin und der Arsch im Heiligenschein. Aus dem Polnischen von Alexandra Tobor. Greifswald: Katapult 2022. 480 S., 26 €

Dominika Słowik.

Zuckrowka heißt die kleine Stadt in einem Tal irgendwo in Polen. Das war es auch schon mit den Orientierungshilfen, denn Dominika Słowik spielt mit uns. Munter springen die Kapitel ihres zweiten Romans durch die Jahrzehnte, Zeitangaben lauten vage: »Kurz vor Neujahr begannen in unserer Stadt nachts geheimnisvolle Spuren im Schnee aufzutauchen.« Die jugendliche Ich-Erzählerin lebt in der Villa ihrer Großmutter, einer Ex-Genossin, die sich nach Amerika abgesetzt hat und alle paar Jahre mal anruft. Die Mutter schreibt an einer geheimnisvollen Arbeit, der Vater sitzt auf dem heimischen Sofa und schaut Tier-Dokus, seine Nachwendejobs als Hellseher und Wünschelrutengänger sind nicht mehr gefragt. Als im Schnee Spuren auftauchen und die siebzehnjährige Magda nachts auf den Dächern der Stadt unbekleidet zu singen beginnt, entblättert sich im Rückblick die antagonistische Entwicklung Zuckrowkas. Genossin Saretzka, die Großmutter unserer Erzählerin, agierte als Herrscherin über den Ort (zum Beispiel setzte sie die Errichtung eines Keramikwerkes durch) gegen den Priester, der ihr mit Mitteln des Glaubens (Wundererscheinungen) gegenübertrat. Die »kleine Saretzka« und ihre Freunde Micha und Hans stolpern in der Jetztzeit als Hilfsdetektive durch die Ereignisse. Als am Himmel über Zuckrowka der Arsch im Heiligenschein steht, Werwolf-Gerüchte kursieren und ein toter Journalist aus dem Waldtümpel gefischt wird, kulminieren die Geschehnisse. Der Leserin bleibt das Lachen im Halse stecken, so sezierend schaut Dominika Słowik auf das wunderharrende postkommunistische Leben ihrer Mitmenschen. Überbordend, witzig, liebevoll zu ihren Protagonisten und spannend bis zur letzten Zeile – ein Meisterwerk! Anne Hahn

Nino Haratischwili

Nino Haratischwili

Das mangelnde Licht. Roman. Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2022. 832 S., 34 €

Nino Haratischwili.

Fotografien, die schmerzhafte Erinnerungen wachrufen, bilden das Gerüst des neuen Romans von Nino Haratischwili. Die Ich-Erzählerin Keto nimmt die Leser während eines Ausstellungsbesuchs mit in ihre georgische Vergangenheit, die von Fremdbestimmung und dem Gefühl des Ausgeliefertseins geprägt ist. Mit ihrem Blick auf die Fotografien geht sie von Wand zu Wand zurück zu ihrer langjährigen, engen Freundschaft mit den drei Frauen Ira, Nene und Dina. Letztere hat das Leben der vier fotografisch festgehalten. Beim Lesen der Fotografie-Beschreibungen kommen Assoziationen zur Bildsprache der georgischen Fotografin Dina Oganova auf – gelegentlich auch zu Susan Meiselas Fotoserie »Prince Street Girls«, nur wachsen die Mädchen in Haratischwilis Roman nicht im New York der 1970er auf, sondern in Tiflis während der Perestroika, wo sie mit dem postsowjetischen Chaos in ihrem Heimatland konfrontiert werden. Machtkämpfe, Bandenkriege und Selbstjustiz bestimmen den Alltag der dort lebenden Familien. Stereotype Männerrollen führen das patriarchale Reglement dieser Welt. Frauen werden wie Trophäen gehandelt und Haratischwili zeigt anhand der vier im Zentrum stehenden Freundinnen unterschiedliche Reaktionen auf die Mechanismen dieser Unterdrückung. Leider wird das Potenzial der Figuren in dem Roman sprachlich erdrückt. Keine Geste, keine Regung darf für sich stehen und Raum für Interpretationen lassen. Viele Szenen wirken theatralisch übertrieben, aufgetakelt oder auch »pudrig« (um es mit einem Lieblingswort der Autorin auszudrücken) und gleiten so ins klischeehaft Überfrachtete ab. Starke Gefühle wie Verzweiflung, Wut und Hingabe werden in dicke Wortwolken gepackt, die sich über den Lesern entladen. Wenn der Regen nicht so dicht fallen würde, könnte man sich zwischen den Tropfen noch bewegen. Hanna Schneck

Wolf Haas

Wolf Haas

Müll. Hamburg: Hoffmann und Campe 2022. 287 S., 24 €

Wolf Haas.

Der Haas immer gefährlich, gerade wenn du schreibst. Weil ob nun Rezension, SMS oder für Profis auch einmal ein Roman. Wenn du den Haas liest, bist du ganz ding und dann völlig gelähmt punkto eigener Stil. Weil pass auf, keiner so markanter Ton wie der Haas, unübersetzbar Hilfsausdruck. Aber interessant. Nicht nur die Halbsätze und ich sag einmal die mündliche Sprache bei ihm in den Texten, wo du sagen musst, ganz schwer so hinzukriegen. Auch Österreich natürlich immer dabei, sprich aufpudeln, Mistkübel und alles. Aber eben nicht nur das, sondern immer auch ein Clou, ein Dreh, ein Überraschungsmoment in der Handlung, frage nicht. Außer beim letzten Buch, da war der Haas irgendwie ding, sprich schlechten Tag gehabt. Ansonsten aber immer Verlass auf den Haas, ob nun Krimi oder »Wetter vor 15 Jahren« oder »Verteidigung der Missionarsstellung«. Und der neue, der neunte Brenner-Krimi nun also Müll. Wobei ich sagen muss, stimmt nicht ganz. Weil überhaupt nicht Müll, sondern »Müll«. Sprich die Trennung, die Entsorgung, der Kreislauf, die orange Uniform sehr präsent. Und die Trennung auch gleich im doppelten Sinn, weil zertrennte Leiche. Falsch entsorgte Leiche! Und der Brenner schon ewig nicht mehr Polizei, sondern auf dem Mistplatz tätig, wo die Kollegen Leichenteile zusammenpuzzeln, dass es eine Freude ist. Außer natürlich für die Kripo, sprich den Savic und den Kopf. Jetzt interessant. Der Kopf vor Jahrzehnten den Brenner als Ausbilder gehabt. Und nun natürlich beide ein bisschen ding. Wobei auch der Praktikant und die Lieferfirma, und noch mehr die Iris. Jetzt pass auf, der Brenner nicht nur nicht mehr Polizei, sondern teilweise ganz auf der anderen Seite. Weil Wohnung hat der keine mehr. Ich will das jetzt gar nicht beurteilen, weil der Brenner schon immer noch das Herz am rechten Fleck. Aber interessant. Das Herz von der Leiche ganz woanders als die anderen Teile, sprich Tiefkühlfach von der Roswitha. Aber pass auf, mehr verrat ich nicht. Benjamin Heine

Heike Geißler

Heike Geißler

Heike Geißler: Die Woche. Berlin: Suhrkamp 2022. 316 S., 24 €

Heike Geißler.

Die Zeit ist aus den Fugen geraten. Und auch sonst stimmt so einiges nicht mehr in Leipzig und im Rest von Deutschland, nein, in der Welt. Die Ich-Erzählerin in Heike Geißlers »Die Woche« und ihre beste Freundin Constanze sehen sich unaufhörlich mit Unzumutbarkeiten konfrontiert. Alles andere als harmlos geht es los: Auf Sonntag folgt Montag in all seiner privaten und gesellschaftlichen Tragik, namentlich: die Abwesenheit des Wochenendes, Entmietung, die Demonstration über den Ring, nicht enden wollende Müdigkeit. Als wäre das nicht genug, folgen darauf weitere Montage, so schreibt es die Zeitung. Damit müssen die »proletarischen Prinzessinnen«, die Heldinnen dieser Geschichte, erst einmal lernen umzugehen. Nicht nur fühlen sie sich um ihren Wochenrhythmus betrogen, sondern grundsätzlich dem falschen Zeitalter ausgesetzt. Doch an Bewältigungsstrategien der Ohnmacht und chronischen Erschöpfung mangelt es nicht: Constanze konzipiert Seminare gegen Angst und für den heiteren Umgang mit Sinnlosigkeit, sie träumt sich in die Bürgerlichkeit – oder schreit, wenn wirklich alles zu viel wird. Zur unvorhersehbaren Realität gesellen sich in Geißlers Roman bizarre Kontinuitäten wie der personifizierte Tod, der Kaffee kocht, oder ein unsichtbares Kind, das unentwegt fordert, geboren zu werden. In einer Woche voller Anfänge reist die Leserin durch Zeit und Raum, spaziert durch Paris und fährt aufs Land, besteigt ein Schiff nach Ischia und lernt von der Autorin, in den richtigen Momenten dünnhäutig zu sein und die Nerven zu verlieren. Die greift auf allerlei Märchenhaftes und feinen Humor zurück, um Alltagssexismus, Gentrifizierung und Demokratiefeinden zu trotzen. »Das ist ja das Mindeste, was wir tun konnten – die Scheiße persönlich nehmen.« Lucia Baumann

Joshua Cohen

Joshua Cohen

Witz. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2022. 907 S., 38 €

Joshua Cohen.

Der Roman schildert das Leben Benjamins, dreizehntes Kind von Hanna und Israel Israelien aus New York. Nach zwölf Töchtern wird er geboren: »voll ausgewachsen, und es ist ein Er, Israel hoch erfreut und der Junge mit einem Greinen, einem Bart und, was ist das denn, schon eine Brille.« Das 900-Seiten-Epos wirkt vor allem durch seine Mischung aus innerem Monolog, Wortspielen, Gedankensprüngen, Erinnerungen, eigenwilliger Grammatik und Gestaltung. Worum geht es? Ben, geboren am Schabbat, ist der einzige Überlebende der jüdischen Gemeinde, alle anderen sind Weihnachten verstorben. Er wird eine Art Messias wider Willen, ein verlorener Sohn, zieht als »Querwelteinreisender« und moderner Ahasver durch die USA, von der Ostküste bis in die »Stadt der Engel« – das »GOttesgeflügel« – und über »Mormonia« wieder zurück nach New York. Wie Christus soll er geopfert werden: »Sein Blut muss vergossen werden, um den Durst der Massen zu löschen.« Cohen gibt keine chronologische Beschreibung der Reise, vielmehr eine eigenwillige jüdische Geschichte von »Palästigma« durch die USA, Europa und die Diaspora mit unzähligen Anspielungen auf »Polenland« und die »Vernichtungsfeuer« der KZ, auch literarische Bezüge wie zu Shakespeares »Kaufmann von Venedig«, die »ershylockte Miete« und das verpfändete »Pfund Fleisch«. Die ausgeprägte Symbolik zeigt sich etwa in Benjamins immer wieder nachwachsender Vorhaut, seine Zunge wird als Reliquie verehrt. Eisige Kälte ist ein durchgängiges Motiv: Benjamin wandert durch eine »vereiste Wüste«, »Überall Kälte und kalte Dunkelheit, stählerner Frost, eisernes Eis.« Das von der Kritik gepriesene Buch besticht auch durch die herausragende Leistung des Übersetzers Ulrich Blumenbach hinsichtlich Sprache und Stil, ist aber, ganz abgesehen vom Thema, keine Feierabendlektüre zur Entspannung. Joachim Schwend