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Rezensionen

Eden

Eden

USA/CDN 2025, R: Ron Howard, D: Jude Law, Ana de Armas, Daniel Brühl, 129 min

In den Filmen von Ron Howard (»Apollo 13«, »Rush«) verfolgen die Figuren stets einen Traum. In »Eden« entwickelt der sich nun allerdings schnell zum Albtraum. Es ist das Jahr 1932. Während in der Heimat der Faschismus auf dem Vormarsch ist, hat sich der deutsche Arzt und Philosoph Dr. Friedrich Ritter von der Gesellschaft abgewandt. Er lebt mit seiner Partnerin Dore Strauch auf der menschenleeren Galapagos-Insel Floreana, wo das Überleben äußerst mühsam ist. Hier will er ungestört an seinem philosophischen Manifest arbeiten, das die Menschheit evolutionieren soll. Mit der Ruhe ist es allerdings bald vorbei, denn Kunde von Ritters vermeintlichem Paradies hat den Westen erreicht und so ziehen zunächst das Ehepaar Wittmer und dann auch noch eine Baronin mit ihrer Gefolgschaft auf die Insel. Es beginnt ein intrigenreicher Kampf ums Überleben, den Ron Howard recht spannend und visuell reizvoll, aber ziemlich vordergründig inszeniert. »Eden« basiert auf historisch überlieferten Figuren, der Sehnsucht nach dem »Exotischen«, geprägt durch die deutsche Kolonialzeit. Howard und sein Co-Autor Noah Pink (»Tetris«) bastelten daraus den Stoff für einen Groschenroman. Das illustre Ensemble, zu dem neben Jude Law als Dr. Ritter auch Vanessa Kirby, Daniel Brühl, Sydney Sweeney und Ana de Armas zählen, müht sich redlich, den Stoff mit Überzeugung darzubieten. »Eden« unterhält für seine Lauflänge, ist danach aber genauso schnell wieder vergessen. Lars Tunçay

Parthenope

Parthenope

F/I 2025, R: Paolo Sorrentino, D: Celeste Dalla Porta, Stefania Sandrelli, Gary Oldman, 137 min

Parthenope – diesen Namen gaben die Schriftsteller in der Antike einst einer der schönen Sirenen aus Homers »Odyssee«, deren verführerischer Gesang Seeleute regelmäßig ins Verderben lockte. Später wurde Neapel dichterisch so bezeichnet, wo die Sagengestalt irgendwann tot angespült wurde. Ob dieser Name für ein Mädchen, das 1950 bei einer Wassergeburt vor der Stadt zur Welt kommt, allzu glücklich ist, sei dahingestellt. Der Titelheldin des neuen Films von Paolo Sorrentino schadet er zumindest nicht: Diese Parthenope ist mit guten Genen gesegnet, die aus ihr eine ebenso intelligente wie attraktive junge Frau machen, der die Herzen nur so zufliegen – darunter die ihres älteren Bruders Raimondo und ihres Kindheitsfreunds Sandrino. Deren Zuneigung genießt Parthenope zwar, ihre Begierden erfüllt sie jedoch nie wirklich – bis zu jenem zunächst wundervollen gemeinsamen Sommer auf Capri, der jäh endet. Dieses erste Filmdrittel zieht optisch stilvollendet noch in den Bann. Doch das meiste, was danach kommt, zerfasert inhaltlich, vermag nur gelegentlich zu berühren, irgendwann können auch die prachtvollen Bilder und Celeste Dalla Porta nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass Sorrentino, 2014 für »La Grande Bellezza – Die große Schönheit« mit dem Oscar gekrönt, zu seinen Lieblingsthemen Schönheit, Vergänglichkeit und Liebe nur noch bedingt Spannendes zu sagen hat. Peter Hoch

Mit der Faust in die Welt schlagen

Mit der Faust in die Welt schlagen

D 2025, R: Constanze Klaue, D: Anton Franke, Camille Loup Moltzen, Anja Schneider, 110 min

»Frei nach dem Roman von Lukas Rietzschel«, steht im Abspann, aber die Verfilmung ändert nur ein paar Details. Das Wichtigste behält sie bei: Die intensive Stimmung, die das Buch von 2018 ausmacht. Tobias und sein großer Bruder Philipp sind zwei durchschnittliche Jungs in einem durchschnittlichen Ort in der sächsischen Provinz Anfang der 2000er Jahre. Vor allem Tobias leidet unter den Eheproblemen der Eltern, dem Alkoholproblem des Vaters und der Abwesenheit der Mutter, die als Krankenschwester viele Nachtschichten schiebt. Nachdem ihre Schule mit einem Hakenkreuz beschmiert wird, gerät Philipp auch noch in Kontakt mit den örtlichen Neonazis – Tobias ist von da an ganz allein mit seinen Sorgen. »Mit der Faust in die Welt schlagen« handelt nicht von Springerstiefeln und Baseballschlägern, sondern macht deutlich, dass tief verwurzelter Rassismus viele Bevölkerungsschichten durchzieht. Das Schauspiel ist großartig, vor allem das Leid der Kinder nimmt einen mit. Der Film zeigt keine Boshaftigkeit, sondern Verzweiflung und Perspektivlosigkeit. Gleichzeitig wird nichts verharmlost. Ganz ohne plumpe Gewalt entsteht trotzdem immer wieder Brutalität, die Figuren und das Publikum gleichermaßen belastet. Das Ende wirkt etwas abrupt, an diesem Punkt wurden die 300 Seiten des Romans der Zeitspanne von 15 Jahren besser gerecht. Schockierend und sehenswert bleibt der Film aber trotzdem. Alexander Böhle

Die Akademie

Die Akademie

D 2024, R: Camilla Guttner, D: Maja Bons, Luise Aschenbrenner, Jean-Marc Barr

Wer die HGB- und Spinnerei-Rundgänge kennt, weiß: Dort tummeln sich – zumindest äußerlich – einige freaky Typen, und: Kunst und deren Verständnis ist immer subjektiv. Verhaltens- und phänotypisch auffällig sind auch viele Akteurinnen und Akteure in Camilla Guttners neuem Film, der ihre eigene Zeit an der Akademie der Bildenden Künste in München spiegelt. Dabei ist die Hauptfigur Jojo in der Hinsicht noch eher harmlos, sie folgt nur leidenschaftlich ihrem Traum, zuerst die Klasse von Professor Copley und dann die Kunsthochschule zu bestehen. Dafür pinselt und jobbt sie auch nachts, liefert sich verbale Scharmützel mit Dozenten und muss sich gegen skurrile Stalker und falsche Freundinnen behaupten. Das alles in einer Atmosphäre zwischen Selbst-Darstellung und -Findung sowie Karriere- und Macht-Kämpfen. Widerlich-übergriffige Profs, suizidale Einsiedler, Galeriekapitalisten und bei allen stete Selbstzweifel – die Regisseurin wirft einen unverhohlen kritischen Blick in die Kunstwelt, die sich viel um sich selbst und dann doch um die Anerkennung der Anderen dreht. Ob die hoch- oder tieftrabenden kunstphilosophischen Einlassungen authentisch oder ironisch gemeint sind, kann jede und jeder selbst entscheiden. Trotz der vielen Ansätze, der Masse an Eindrücken und Ideen lässt einen die Geschichte seltsam kalt, kommen weder Spannung noch tiefere Erkenntnisse auf. Es ist wie manche Kunst-Rundgänge: Interessant sind eher die Menschen als die Werke. Markus Gärtner

Die Unerwünschten

Die Unerwünschten

F 2023, R: Ladj Ly, D: Anta Diaw, Alexis Manenti, Aristote Luyindula, 105 min

Für sein Spielfilmdebüt »Les Misérables« erhielt der in Mali geborene Ladj Ly zunächst den Jurypreis in Cannes und schließlich eine Oscarnominierung. Mit dem Nachfolger »Les Indésirables« (»Die Unerwünschten«) bleibt er seiner Linie treu. Auch hier wirft er das Licht auf marginalisierte Gruppen, die Bewohnerinnen und Bewohner eines sozialen Wohnungsbaus in den Banlieues von Paris. Ein Umfeld, das dem Regisseur nur allzu vertraut ist. Wenn am Anfang der Sarg mit Habys Großmutter minutenlang durch das enge Treppenhaus des baufälligen Hochhauses manövriert wird, erlebt man gleich, wie mühsam selbst das Sterben für die Bewohnerinnen und Bewohner ist. Viele von ihnen wohnen mit viel zu vielen in den winzigen Appartements. Überall zeigen sich Risse im Bau, weshalb der designierte Bürgermeister Pierre beschließt, das Haus zu räumen. Aber wohin mit den Menschen? Eine Lösung gibt es nicht. Deshalb beschließt die junge Haby, für das Schicksal der Menschen zu kämpfen und tritt als Gegenkandidatin an. Autor und Regisseur Ly legt seinen Film zunächst aus beiden Perspektiven an, zeigt auch, wie schwer der Amtsantritt für Pierre ist. Im weiteren Verlauf verkauft der allerdings zunehmend seine Ideale und die Sympathie des Films liegt klar beim Kampf der Unterprivilegierten. Ein kraftvoller, wütender Film, der vielleicht nicht die erzählerische Stärke des Vorgängers erreicht, aber dennoch schmerzhaft nachhallt. LARS TUNÇAY

Niki de Saint Phalle

Niki de Saint Phalle

F 2025, R: Céline Sallette, D: Charlotte Le Bon, John Robinson, Damien Bonnard, 98 min

Niki de Saint Phalle (1930–2002) ist vielen vor allem durch ihre überdimensionierten, bunten und lebensfrohen Skulpturen ein Begriff, den »Nanas«. Doch ihre lebensbejahenden Werke haben einen ernsten Hintergrund, wie Céline Sallette eindrucksvoll in ihrem Biopic über die frühen Jahre der französisch-amerikanischen Künstlerin zeigt. Niki verdient ihr Geld zunächst als Model, heiratet jung und zieht mit ihrem ersten Mann, dem Schriftsteller Harry Mathews, in den fünfziger Jahren aus den USA nach Europa. Gemeinsam bekommt das Paar zwei Kinder und lebt ein fast bürgerliches Leben. Doch als ihr Mann eine Sammlung an Messern, Heckenscheren und anderen spitzen Gegenständen unter der Matratze entdeckt, ist Niki gezwungen, sich ihren Traumata aus einer von Missbrauch gezeichneten Kindheit zu stellen. Erst die Kunst bietet ihr einen Ausweg – aus der Vergangenheit, aus der Enge ihrer Ehe, aus toxischen Affären mit anderen Künstlern. Diese Kunstwerke bleiben dem Kinopublikum allerdings verwehrt. Kein einziges Bild von Niki de Saint Phalle ist im Film zu sehen. Die Leinwände, auf die Niki mit Dartpfeilen und Gewehren zielt, sieht man nicht; auch keine Nana. Da die Rechteinhaber ihre Kunst bisher nicht für Spielfilme freigegeben haben, musste Regisseurin Sallette kreativ werden. Das irritiert zunächst, zeugt aber auch von großem Mut, der mit einer Premiere bei den Filmfestspielen in Cannes belohnt wurde. Hanne Biermann

Mickey 17

Mickey 17

USA 2024, R: Bong Joon Ho, D: Robert Pattinson, Steven Yeun, Michael Monroe, 139 min

Nach einem geplatzten Geschäft muss Mickey die Stadt verlassen. Er sucht sich den am weitesten entfernten Ort aus, den er finden konnte: Niflheim. Der mediengeile Senator Kenneth Marshall sucht Kandidaten für eine Kolonie auf dem fernen Planeten. Der Andrang ist groß und Mickeys einzige Chance, an Bord zu kommen, ist, sich als »Expendable« zu melden. Sein Gehirn wird in eine Datenbank übertragen und sein Körper zum entbehrlichen Werkzeug. So wird Mickey schon bald als Versuchskaninchen für allerlei wissenschaftliche Experimente genutzt und nach seinem Ableben einfach neu gedruckt. Als Mickey Nummer 17 von einer Erkundungsmission nicht zurückkehrt, wird er für tot erklärt und neu gedruckt. Allerdings schafft er es zurück zur Basis und steht unvermittelt seinem Klon gegenüber. Oscarpreisträger Bong Joon Ho (»Parasite«) ist ein Meister darin, Gesellschaftskritik in Genrefilme zu verpacken. Wie die Comic-Adaption »Snowpiercer« ist auch »Mickey 17«, der auf einem Roman von Edward Ashton basiert, ein herrlich ätzender Kommentar auf politische Machtstrukturen im Gewand eines Science-Fiction-Films mit viel schwarzem Humor und absurden Ideen. Robert Pattinson gibt als 18-facher Hauptdarsteller absolut alles und ein glänzend aufgelegter Mark Ruffalo bietet eine herrliche Politikerparodie, irgendwo zwischen seinem Jammerlappen Duncan Wedderburn in »Poor Things« und Donald Trump. LARS TUNÇAY

Das Licht

Das Licht

D/GB/F 2025, R: Tom Tykwer, D: Tala Al Deen, Lars Eidinger, Nicolette Krebitz, 162 min

Seinen jungen Mitarbeitenden gegenüber gibt Tim Engels sich gern als liberaler Freigeist. Der Berliner Werbetexter inszeniert sich als Teamleader, der selbstbewusster wirkt, als er es eigentlich ist. Seine Frau Milena kümmert sich derweil in Kenia um ein Entwicklungsprojekt in den Townships, dem allerdings die Fördermittel des Ministeriums wegbrechen, weshalb sie im Dauerstress ist. Die Paartherapie treibt Tim und Milena eher auseinander, als sie einander näherzubringen. Unterdessen haben ihre beiden 17-jährigen Zwillinge Frieda und Jon daheim ihre ganz eigenen Probleme. In diese Familie kommt nun Farrah als Haushälterin. Die gelernte Psychologin floh aus Syrien und sucht sich explizit die Familie Engels aus, um bei ihnen zu putzen. Farrah wird zur Schulter, an die sich die Kinder anlehnen können, zum offenen Ohr für die Probleme der Eltern. Und verfolgt ihre ganz eigene Agenda. Welche das ist, offenbart Tom Tykwer erst im finalen Akt seines fast dreistündigen neuen Werks. Bis dahin sind wir mit den Figuren bereits durch alle Höhen und Tiefen einer familiären Beziehung gegangen. Tykwer, der hier auch wieder das Drehbuch verfasste, projiziert gesellschaftliche Verwerfungen auf den familiären Mikrokosmos und spiegelt sie zurück. Das gelingt dank eines hervorragenden Ensembles und dem Mut zum Stilbruch. »Das Licht« verlangt viel vom Publikum, ist aber eine Bereicherung, gibt man sich ihm vollends hin. LARS TUNÇAY

Sing Sing

Sing Sing

USA 2024, R: Greg Kwedar, D: Colman Domingo, Clarence Maclin, Sean San Jose, 107 min

Die Haftanstalt Sing Sing liegt auf einer Insel, rund 50 Kilometer außerhalb von New York. Durch die Gitter können die Inhaftierten das pulsierende Leben im Big Apple am anderen Ufer beobachten. Auf der Theaterbühne entfliehen sie dem Knastalltag, schlüpfen in andere Rollen und müssen sich nicht mit der eigenen, deprimierenden Realität auseinandersetzen. Kunst bedeutet Freiheit für die Insassen. John »Divine G« Whitfield leitet die Theatergruppe, die gerade ein neues Stück einstudiert. Er selbst sitzt seit vielen Jahren hier hinter Gittern. Unschuldig, wie er sagt, verurteilt wegen Mordes, hilft er seinen Mitinsassen dabei, sich auf die Bewährungsgespräche vorzubereiten. Die Zeit in der Theatergruppe erlaubt den Männern, Gefühle zuzulassen und Rivalitäten zu vergessen. Doch die brutale Realität und Hoffnungslosigkeit innerhalb der Mauern dringt auch in den Theaterraum. Seinen zweiten Langfilm drehte Regisseur Greg Kwedar mit ehemaligen Häftlingen in einer echten Haftanstalt. Die wahren Biografien, der realistische Haftalltag, eingefangen von der Handkamera, verleihen seinem berührenden Film etwas Dokumentarisches. Trotz der düsteren Umgebung ist »Sing Sing« ein heller Film, der Hoffnung verbreiten will und sich abhebt von den klischeehaften Knastgeschichten. Im Herzen steht der oscarnominierte Colman Domingo. Er verleiht seiner Figur eine Wärme, aber auch menschliche Schwächen. Das alles macht Kwedars Film so wahrhaftig. LARS TUNÇAY

Heldin

Heldin

D/CH 2025, R: Petra Biondina Volpe, D: Leonie Benesch, Sonja Riesen, Selma Adin, 92 min

Der Ärzte- und Pflegekräftenotstand ist nicht nur in Deutschland ein gravierendes Problem, sondern mittlerweile fast überall auf der Welt anzutreffen. Petra Volpe (»Die göttliche Ordnung«) hat in ihrem neuen Film »Heldin« einen fast schon dokumentarisch anmutenden Blick auf den Arbeitsalltag einer Krankenschwester in einem Schweizer Krankenhaus während einer exemplarischen Spätschicht geworfen. Diese wird hier von Leonie Benesch verkörpert, die ihre Rolle ähnlich perfektionistisch anlegt wie die als Lehrerin im oscarnominierten »Das Lehrerzimmer« von Ilker Çatak. Die dynamische Kamera von Ausnahmebildgestalterin Judith Kaufmann folgt Krankenschwester Floria Lind auf ihren Arbeitswegen, hält Medikamenten-Verabreichungen, Visiten, Fahrten in den OP-Saal und Auseinandersetzungen mit nörgeligen Privatpatienten detailliert fest. Immer wieder kommt es dabei zu Hektik, Stress und schließlich auch Fehlern, weil die Station chronisch unterbesetzt ist. Dadurch, dass Petra Volpe ihre »Heldin« so musterbildlich angelegt hat, entsteht im weiteren Verlauf der Geschichte eine viel größere Fallhöhe, die das Publikum auch emotional sehr mitnimmt. Selten zuvor hat ein Spielfilm einen dermaßen hohen Authentizitätsgrad erreicht, während er in den beschwerlichen alltäglichen Wahnsinn eines Krankenhauses eintaucht. Ein Film, der lange nachhallt und zum Nachdenken anregt. Frank Brenner

Für immer hier

Für immer hier

BR/F 2024, R: Walter Salles, D: Fernanda Torres, Fernanda Montenegro, Selton Mello, 137 min

Die ersten Szenen sind trügerisch schön. Die Mädchen spielen am Strand, die Jungen rennen Hunden nach. Auf den Plattentellern liegt Tanzmusik und an den Nachmittagen ist das Haus voller Freunde. Brasilien als Sehnsuchtsland, es war selten so schön wie in diesen Aufnahmen von Regisseur Walter Salles. Doch die Zeit ist eine andere. Im Land herrscht seit 1964 eine Militärdiktatur und Rubens Paivas, Pater familias und Ingenieur, war einst Teil der beim Regime verhassten Kommunisten. Eines Tages wird er verhaftet und taucht nicht wieder auf. Von da an kippt der Film und es ist, als würden Farbe, Leben und Musik zunehmend aus den Bildern gesaugt. Nach Rubens’ Verschwinden muss seine Frau Eunice alles zusammenhalten. Für sie beginnt ein wahrer Spießrutenlauf. Die verunsicherten Kinder, Geldprobleme, Geheimdienstspitzel, dazu die ewige Unsicherheit darüber, was mit dem Ehemann geschehen ist. Schauspielerin Fernanda Torres hat für ihr Porträt von Eunice bereits einen völlig verdienten Golden Globe einheimsen können. »Für immer hier« basiert auf einer wahren Familiengeschichte. Eine aus der langen und blutigen Geschichte der brasilianischen Militärdiktatur. Es ist wohl ein Zeichen der Qualität des Films, dass man das zwischendurch vollkommen vergisst. Dies ist kein Biopic von der Stange, sondern ein Werk, dessen Welt so echt wird, dass einen jede Wendung noch ein Stück erschütterter zurücklässt. Und so leidet man mit und hofft bis ganz zum Ende. Josef Braun

Flow

Flow

LV/F/B 2024, R: Gints Zilbalodis, 85 min

Der Animationsfilmer Gints Zilbalodis schuf vor sechs Jahren mit »Away« einen visuell einzigartigen Film mehr oder weniger allein an seinem Computer. Die Reise eines Jungen durch eine mysteriöse, menschenleere Welt war so etwas wie die Blaupause zu »Flow«. Auch im nun größer produzierten Nachfolger steht eine Reise im Mittelpunkt. Allerdings sind es hier Tiere, die ihre naturgegebene Feindschaft überwinden und über sich hinauswachsen müssen, um zu überleben. Als eine plötzliche Flutwelle fast alles Leben unter sich begräbt, rettet sich eine schwarze Katze auf einen Kahn. Der einzelgängerische Fellball bleibt allerdings nicht lang allein. Nach und nach stoßen ein Golden Retriever, ein phlegmatisches Capybara, ein diebischer Lemur und ein großer weißer Vogel zur Crew. Dabei werden die liebevoll gestalteten Tiere nicht vermenschlicht und fangen an zu sprechen, wie es im Animationsfilm üblich ist. Trotzdem versteht man ihre Absichten und Eigenheiten auch ohne Worte. Die menschenleere Welt, durch die sich die tierischen Helden bewegen, bleibt derweil rätselhaft, faszinierend und betörend schön. Die Liebe, die in »Flow« steckt, überzeugt ohne den Realismus, dem sich die computeranimierten Filme von Dreamworks oder Pixar verschrieben haben. Vielmehr besticht das kleine, feine Werk durch eine eigene, einzigartige künstlerische Note. Kein Wunder, dass der lettische Film nach dem Europäischen Filmpreis und dem Golden Globe nun auch Chancen auf einen Oscar als bester Animationsfilm hat. LARS TUNÇAY

Pfau − Bin ich echt

Pfau − Bin ich echt

D/AT 2024, R: Bernhard Wenger, D: Albrecht Schuch, Julia Franz Richter, Anton Noori, 102 min

Matthias ist der perfekte Begleiter. Er kann gestochen über experimentelle Musik daherreden, Geschäftspartner beeindrucken oder so tun, als wäre er der perfekte Sohn oder ein Papa, der als Pilot arbeitet. So tun, als ob – das ist Matthias’ Beruf. Er arbeitet in einer hippen Agentur, die ihn rent-a-friend-like verleiht. Problem dabei: Matthias ist so darauf aus, den Vorstellungen seiner vielen Gegenübers zu entsprechen, dass ihm nicht mehr klar ist, wer er selber ist, wenn er denn mal er selber ist. Als ihn seine Freundin deswegen verlässt, ist er allein und kommt nicht klar. »Pfau – Bin ich echt« wäre schon allein deswegen ein sehenswerter Film, weil Hauptdarsteller Albrecht Schuch es schafft, diesen Matthias aalglatt und gefühllos, aber dennoch emotional überzeugend zu verkörpern. Hinzu kommt eine kunstvoll komponierte Ästhetik, die die pseudo-schicke Welt, in der sich Menschen andere Menschen ausleihen, um sie zu präsentieren, passend bebildert. Und nicht zuletzt ist es ein feiner, subtiler Humor, der sich durch das Langspielfilmdebüt des Österreichers Bernhard Wenger zieht. Eine tragikomische Gesellschaftssatire, die amüsant aufzeigt, wie kaputt zwischenmenschliche Beziehungen im Spätkapitalismus sein können, ohne dass es jemanden stört. Juliane Streich

Hundschuldig

Hundschuldig

F 2024, R: Laetitia Dosch, D: Laetitia Dosch, François Damiens, Pierre Deladonchamps, 85 min

Dariuch ist verzweifelt: Sein Hund Cosmos hat mehrere Menschen gebissen, und es scheint kein Weg an einer Einschläferung des Tieres vorbeizuführen. Avril Lucciani ist die letzte Hoffnung der beiden. Die Anwältin ist bekannt dafür, besonders absurde und wenig prestigeträchtige Fälle zu übernehmen, und tatsächlich kann sie den traurigen Hundeaugen keine Absage erteilen. Mit all seinen Absurditäten zieht der darauffolgende Prozess ein riesiges Medienecho nach sich, denn die Fragen, die er aufwirft, sind grundlegend: Darf ein Hund vor Gericht als »Sache« gelten, oder muss er nicht vielmehr als eigenständiges Lebewesen behandelt werden? Und warum hat er überhaupt zugebissen? Abseits dieser Prämisse verliert sich »Hundschuldig« aber leider immer wieder in sexistischen Plattitüden, die einen großen Teil des derben Humors ausmachen. Auch die Geschichte des vernachlässigten Nachbarsjungen, um den sich Avril ab und an kümmert, kommt zu kurz. Besonders Hauptdarstellerin Lætitia Dosch, die mit dem Film auch ihr Regiedebut feiert, ist es aber zu verdanken, dass »Hundschuldig« am Ende zwar nicht als großes Plädoyer für Tier- und Frauenrechte, aber zumindest als kurzweilige Komödie im Gedächtnis bleibt. Und der Film kann zudem mit einer besonderen Auszeichnung aufwarten: Für seine Darstellung des Cosmos wurde Hund Kodi in Cannes mit dem »Palm Dog Award« als bester Filmhund 2024 geehrt. Hanne Biermann

Der Lehrer, der uns das Meer versprach

Der Lehrer, der uns das Meer versprach

E 2024, R: Patricia Font, D: Enric Auquer, Laia Costa, Luisa Gavasa, 105 min

Verschiedene spanische Filme haben es sich in den letzten Jahren zur Aufgabe gemacht, die Gräueltaten der Falangisten während und nach dem Spanischen Bürgerkrieg aufzuarbeiten, am prominentesten 2022 Pedro Almodóvars »Parallele Mütter«. Patricia Font hat sich nun der wahren Geschichte des Lehrers Antoni Benaiges angenommen, der 1936 als Gewerkschaftsmitglied von den Franco-Faschisten verschleppt und ermordet wurde, seine sterblichen Überreste wurden nie gefunden. Dennoch beginnt ihr Film mit der Exhumierung eines Massengrabs im Jahr 2010. Am Rande steht Ariadna, deren Urgroßvater damals ebenfalls verschwand. Ihr an Demenz erkrankter Großvater wurde von Benaiges unterrichtet. Diesen Handlungsstrang verknüpft die Regisseurin mit der Geschichte des idealistischen jungen Lehrers. Der wird 1934 an eine nordspanische Dorfschule versetzt und bringt mit seinen freigeistigen Methoden gleich den strengen Pfarrer gegen sich auf. Die Kinder begeistert er jedoch und vermittelt ihnen unter anderem durch das Erstellen von Klassenzeitungen Freude am Lesen und Schreiben. Benaiges’ Wirken und Fonts Film erzählen vom Wert von Freundlichkeit und guter Pädagogik, von der Bedeutung des Sich-Erinnerns und des Nicht-Verschweigens und nicht zuletzt auch davon, wie die Schrecken der Vergangenheit Effekte aufs Hier und Jetzt haben – und dass sie sich, wenn wir nicht aufpassen, nur allzu leicht wiederholen. Peter Hoch

Bird

Bird

F/GB/USA/D 2024, R: Andrea Arnold, D: Barry Keoghan, Franz Rogowski, Nykiya Adams, 118 min

Andrea Arnold gelingt es immer wieder, Geschichten über Heranwachsende auf Augenhöhe zu inszenieren. Sie erzählt die großen Dramen im Kleinen. Damit steht sie in der Tradition des britischen Sozialdramas von Regisseuren wie Ken Loach und Mike Leigh. Ihr Blick und der ihres Stammkameramanns Robbie Ryan (»Poor Things«) für die Schönheit in einer grausamen Welt ist beispiellos. Acht Jahre nach ihrem Ausflug in die USA mit »American Honey« kehrt die Filmemacherin zurück zum Ansatz ihres BAFTA-gekrönten »Fish Tank«. Sie inszenierte »Bird« mit Nachwuchsdarstellerinnen und -darstellern in einer sozial verarmten Siedlung im Norden von Kent. Ihre Protagonistin ist die 12-jährige Bailey. Mit ihrem älteren Bruder Hunter wächst sie in verwahrlosten Verhältnissen bei ihrem Vater Bug auf, ein zwischen liebenswert und aggressiv pendelnder Drogendealer. Bailey schlingert durch ihr schwieriges soziales Umfeld, in dem sie gelernt hat, sich zu behaupten, und versteckt ihre Schwäche und Unsicherheit unter einer harten Schale. Als sie den seltsamen Vogel Bird trifft, wird er für sie zu einem Anker. Arnold versieht ihren Realismus dabei immer wieder mit surrealen Momenten und einem handverlesenen Britpop-Soundtrack, zu dem Burial den Score beisteuerte. Franz Rogowski verleiht Bird mit seinem tänzerischen Spiel eine liebenswerte Weirdness. Barry Keoghan verkörpert den überforderten Vater mit Verve. Eine echte Wucht ist Nykiya Adams, die hier ihr Schauspieldebüt gibt und die feinen Nuancen ihrer Figur bravourös meistert. LARS TUNÇAY

Babygirl

Babygirl

USA 2024, R: Halina Reijn, D: Nicole Kidman, Harris Dickinson, Antonio Banderas, 114 min

Das Konzept sexueller Hörigkeit hat nicht erst seit »Fifty Shades of Grey« seinen Platz im amerikanischen Mainstreamkino. Bisher waren die »verhängnisvollen Affären« aber meist aus männlicher Perspektive erzählt und von Männern inszeniert. Vor allem im Kino der Achtziger sah man immer wieder Männer in Machtposition, die sich mit deutlich jüngeren Frauen einlassen und Karriere und Ehe aufs Spiel setzen. Michael Douglas hat darauf eine ganze Karriere gebaut. Die aus den Niederlanden stammende Autorin und Regisseurin Halina Reijn, die mit ihrem cleveren Horror-Debüt »Bodies Bodies Bodies« vor zwei Jahren einen Hit landete, dreht in »Babygirl« den Spieß um und hat dafür eine furchtlose Hauptdarstellerin an ihrer Seite: Nicole Kidman spielt die erfolgreiche Unternehmerin Romy. Sie ist glücklich verheiratet mit dem Theater-Regisseur Jacob. Sie haben zwei Teenager-Töchter und zwei Häuser. Eigentlich sollte Romy glücklich sein, doch da ist diese Sehnsucht nach sexueller Unterwerfung, die sie mit ihrem Mann nicht ausleben kann. Da kommt der gut aussehende Praktikant Samuel gerade recht und sie beginnt eine Affäre mit ihm. Doch Samuel bleibt schwer zu durchschauen, seine Motivation im Dunkeln. So ist »Babygirl« am Ende ein exzellent gespielter, bis in die Nebenrollen hervorragend besetzter und stilsicher inszenierter Erotikthriller – der leider zu viele Leerstellen offenbart. LARS TUNÇAY

Maria

Maria

USA/CHL/I/D 2024, R: Pablo Larraín, D: Angelina Jolie, Pierfrancesco Favino, Alba Rohrwacher, 123 min

Paris ist unwirklich. Erst recht im Kino. Staub wirbelt durch die Luft alter Wohnungen. In der Seine spiegelt sich das Licht und an den Bäumen wirken die Blätter wie hingetupft. Vor dieser Kulisse inszeniert Regisseur Pablo Larraín seinen neuen Film. Protagonistin ist die große Opernsängerin Maria Callas. Auf langen Spaziergängen begleitet die Kamera sie durch die Stadt, zeigt sie in den Straßencafés und Bars, wo sie den Heimweg noch etwas hinauszögert. Zu Hause ist von einer umjubelten Karriere wenig übrig geblieben. Abend für Abend erwarten sie nur ihr Butler, die Haushälterin und der schwarze Flügel. Das Leben könnte so vergehen, doch Maria Callas hat noch ein Ziel. Erschöpft von Verlusten und rauen Mengen an Tabletten plant sie ihr Comeback. Larraín hat Biopics über berühmte Frauen zu seinem Markenzeichen gemacht. Markant ist seine nicht chronologische Erzählweise. Was seine Werke darüber hinaus auszeichnet, lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Ikonen nahbar machen, ohne ihren Zauber zu brechen. Nach »Jackie« und »Spencer« gelingt das auch diesmal. Einerseits, weil Angelina Jolie zur Hochform aufläuft. Ihre Maria Callas irgendwo zwischen Größenwahn, Witz und Verletzlichkeit ist eine Offenbarung. Andererseits, weil Larraín konsequent auf seine Nebenfiguren setzt. Die Dialoge zwischen ihnen und Maria Callas gehören zu den anrührendsten Momenten in einem durchweg starken Film. JOSEF BRAUN

Hundreds of Beavers

Hundreds of Beavers

USA 2022, R: Mike Cheslik, D: Ryland Brickson Cole Tews, Olivia Graves, Wes Tank, 108 min

»Hundreds of Beavers« ist eine einzigartige Mischung aus Stummfilm-Slapstick und Bugs Bunny-Wahnsinn. Regisseur und Autor Mike Cheslik und sein Hauptdarsteller und Co-Autor Ryland Brickson Cole Tews haben eine liebevolle Hommage an die Frühzeit des Kinos geschaffen, die vor aberwitzigen Ideen geradezu übersprudelt. Das Fundament ist denkbar einfach: Apfelschnapsbrauer Jean Kayak ist sein bester Kunde und lebt ein feuchtfröhliches Leben. Bis es zu einer Katastrophe kommt und seine Brauerei in Flammen aufgeht. Angenagte Fässer beweisen: Schuld daran sind die Biber! Also sinnt er auf Rache und lernt bei einem Trapper, die besten Fallen zu stellen. Doch die Nager sind ihm immer einen Schritt voraus. Mit jeder Niederlage wird Jean gewiefter und der Ladenbesitzer mit der hübschen Tochter versorgt ihn im Tausch gegen Biberfelle mit immer effektiveren Hilfsmitteln. Cheslik spielt dabei mit zahlreichen visuellen Ideen, mischt Videospiel- und Trickfilmelemente in seinen herrlichen Low Budget-Streifen. Die Handlung ist sinnlos, der Inhalt ist dünn, der Humor albern, die Biber sind Menschen im Biberkostüm. Macht aber alles nichts und den Spaß nur noch größer. In einer Branche, die sich nur noch um CGI und KI zu drehen scheint, ist »Hundreds of Beavers« mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit das Irrste, was das Kinojahr bereithält. LARS TUNÇAY

Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte

Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte

CZ/SK/Ö 2024, Dok, R: Klára Tasovská, 90 min

Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erfuhren die fotografischen Arbeiten der 1952 in Prag geborenen Libuše Jarcovjáková die ihnen zustehende Anerkennung. Seit dem Prager Frühling 1968 hat Jarcovjáková Tausende Fotos geschossen. Sie zeigen sozialistische Arbeitende in einer Druckerei, vietnamesische Gastarbeiterinnen und -arbeiter in der Tschechoslowakei, Impressionen vom Leben der Roma oder aus dem einzigen Schwulenclub Prags. Bei den kommunistischen Machthabern eckte sie mit ihren Arbeiten an, im Ausland blieb sie unbekannt, auch wenn ihr eine Reise nach Japan genehmigt wurde. Klára Tasovská hat mit »Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte« einen Essayfilm gedreht, in dem fast ausnahmslos Fotografien Jarcovjákovás aneinandergereiht und mit von ihr gelesenen Auszügen aus ihren Tagebüchern unterlegt sind. Der Film ist damit fast zu einem Selbstporträt geworden. Aufgrund der Fülle der Arbeiten wird rasch deren künstlerische Qualität deutlich. Trotzdem sind auch etliche Schnappschüsse darunter, wie man sie heutzutage aus sozialen Medien nur allzu gut kennt. Gleichwohl tragen auch sie in diesem Film dazu bei, das Bild von der Künstlerin und ihrem Wesen abzurunden und greifbarer zu machen. Die Chronologie bricht 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer ab, den Jarcovjáková ebenfalls hautnah miterlebt hat. Was danach noch kam, wird in einem zeitrafferähnlichen Schnelldurchlauf nur noch angerissen. Frank Brenner