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Rezensionen

Lüften

Lüften

Lüften

Lüften

Eine Einladung zum Tagträumen ist die erste gemeinsame Veröffentlichung der Leipziger Supergroup Lüften. Für die Veröffentlichung des gleichnamigen Albums fanden die hier lebenden Musiker Damian Dalla Torre, der erst im vergangenen Jahr mit seinem Album »I can feel my Dreams« die Liste für die beste zeitgenössische Musik des Guardian anführte, Max Kraft, der, wie auch Dalla Torre, mit Tristan Brusch an der »Woyzeck«-Inszenierung des Berliner Ensembles mitwirkte, sowie Markus Rom aka Oh No Noh, der mit seinen Musikrobotern jüngst ein geschätztes Album veröffentlichte, zusammen. Alle drei eint, dass sie unermüdlich mit ihren Sounds experimentieren, so auch hier im Zusammenspiel: Die acht Tracks schmelzen ineinander und schaffen so eine schwelgerische Klangwelt, in der man nur zu gern umherträumt. Die Melodien der Synthesizer verwurzeln sich in den Tiefen der Musik, durchdringen mit den Bassläufen, und türmen sich von da aus auf und überragen die Hörerinnen und Hörer alsbald. Nachzulauschen, wie die Klänge sich ineinander verschlingen, wachsen und verdichten, ist dabei nicht herausfordernd oder abenteuerlich, sondern lädt dazu ein, sich treiben zu lassen. Besonders eindrücklich sind zwei Stücke: zum einen »Nova«, das an die Ästhetik von Videospiel-Musik aus den achtziger Jahren erinnert, und zum anderen: »Waking up after psychotic Nights is Bliss«. Jenes wirkt ganz verspukt, wie eine Klangcollage, wenn die aufscheinenden Saxofontöne wie auch die Klaviermelodien die elektronischen Klangflächen heimsuchen. Und statt sie zu durchbrechen, verspulen sie sich zwischen ihnen. Stark! Claudia Helmert

Patrick Watson

Patrick Watson

Uh Oh

Uh Oh

Wie geht man als Musiker damit um, wenn einem das wichtigste Instrument versagt? Die Reaktion des kanadischen Künstlers Patrick Watson prangt in großen Lettern auf seinem neuen Album: »Uh Oh«. Aber ebenso verspielt, wie die Lettern im Artwork arrangiert sind, war auch sein Umgang mit der Krise. Watson versammelte kurzerhand befreundete Musikerinnen vor dem Mikro, viele von ihnen aus der quirligen Szene Montreals, darunter Klô Pelgag und Charlotte Cardin, aber auch die Folk-Sängerin Martha Wainwright. Ihre Stimmen fügen sich ganz wundervoll in das weit gefasste musikalische Gewand zwischen Barock-Pop und elektronischen Klängen, die einen auf dem zehnten Album des Komponisten umgarnen und umflirren. Textlich geht es um die vielen großen und kleinen Momente der »Uh Ohs« in unserem täglichen Leben. Watson reflektiert durch den Wegfall seiner äußeren Stimme, wie sehr uns die innere begleitet, und offenbart in den elf Stücken viel Humor angesichts des Schicksalsschlags. Seine Stimme hat er schließlich wiedergefunden. Der gehauchte Falsett vereint sich mit den Stimmen der Mitmusikerinnen und schraubt sich in Pianoklängen zu neuen Höhen. In der aus der Not heraus geborenen Kollaboration entstand so vielleicht sein schönstes Album. Lars Tunçay

Tristan Brusch

Tristan Brusch

Am Anfang

Am Anfang

Nach Rest und Wahn folgt der Anfang – und damit der Abschluss einer »Am …«-Trilogie, die Tristan Brusch und seine Musik in den vergangenen Jahren auf ein gänzlich neues künstlerisches Niveau gehievt hat. Den spielerisch-süßen Popstar im Kleinen, den er in den 2010er Jahren mit Songs wie »Zuckerwatte« und »Fisch« noch zu verkörpern versuchte, hat er jedenfalls längst hinter sich gelassen und ist stattdessen über die Jahre zu einer Art dunkelromantischem Volksbarden avanciert. Sein mitunter pathetischer Gestus samt kammermusikalischem Pop-Sound mag manchen dabei antiquiert erscheinen – wie die Reinkarnation eines Scott Walker oder Jacques Brel im 21. Jahrhundert. Doch genauso gut kann man eben auch dagegenhalten, dass die Meta-Themen von damals heute immer noch die gleichen sind: etwa »Lieben und geliebt werden«, wie Brusch wohl nicht ganz zufällig in »Geboren, um zu sterben« singt, dessen Titel sein Wirken gleich noch um eine weitere existenzialistische Komponente ergänzt. Was ihn dabei in Songs wie »Vierzehn«, »Die lange Nacht« oder »Heiliges Land« vom Gros seiner Generation unterscheidet, ist der vollständige Verzicht auf ironische Brüche. »Für die Liebe in Maßen habe ich kein Talent«, singt er an einer Stelle im Album, und man darf froh sein, dass das so ist. Denn in Zeiten des Dating-Portal-getriebenen Liebeskontrollwahns hält Tristan Brusch der Gesellschaft ihren Spiegel vor. Ob sie bereit ist, hineinzublicken, wird sich indes noch zeigen müssen. Luca Glenzer

Tortoise

Tortoise

Touch

Touch

Tortoise ist ein Künstler-Kollektiv, dessen Mitstreiter lange Zeit in Chicago aktiv waren. Sie sind so etwas wie Ikonen des Post-Rocks der ersten Stunde. Also jenes Genres, das Jazz und Metal als Grundpfeiler hat. Und obendrein durch eine große Offenheit für viele andere Stile begeisterte: Krautrock, Indie-Rock, Hip-Hop und Ambient. Natürlich immer begründet in den individuellen, aktuellen Interessen der Mitglieder. Die beiden bekanntesten sind wohl Jeff Parker und John McEntire, wobei alle Mitglieder in zahlreichen anderen musikalischen Projekten zugange waren und sind. Inzwischen leben die Multi-Instrumentalisten über die USA verstreut in Los Angeles, Portland und Chicago. An allen drei Orten wurde Studio-Zeit fürs Einspielen von »Touch« gebucht, so dass alle Mitglieder gleichzeitig an allen Ideen weiterarbeiten konnten. So klingt das dann laut eigener Aussage von Tortoise: »Der Weg zur finalen Version eines Tracks ist kein geradliniger. Er besteht aus Schreiben, Arrangieren, Editieren und Orchestrieren und so etwas wie dem Platzieren der Dinge in einem Klangraum, der sich gut anfühlt – und das alles zugleich.« Daran hat sich auch beim Einspielen von »Touch«, dem neuesten Werk nach neun Jahren Pause, nichts geändert. Das Ergebnis ist fast schon überraschend kohärent, spritzig, innovativ und entspannt. Natürlich alles zugleich. Kay Engelhardt

Lucrecia Dalt

Lucrecia Dalt

A Danger to Ourselves

A Danger to Ourselves

Spätestens nachdem »¡Ay!« 2022 vom renommierten britischen Fachmagazin The Wire zum Album des Jahres gekürt wurde, war Lucrecia Dalt zumindest szeneintern in aller Munde. Die auf dem Album zwar immer mal klaustrophobische, entrückte Ästhetik schuf eine sonderbare Behaglichkeit, die bei aller Zerstreuung auf Dalts zentrale Stimme zurückgeht. Für die ebenso zentrale Perkussion war Alex Lázaro verantwortlich, der Dalt auch auf ihren ausgedehnten Touren begleitete und auf »A Danger to Ourselves« wieder für die vielstimmige Rhythmik verantwortlich ist. Das im Studio ihres Partners David Sylvian – der in Kreisen komplizierter Musik Legendenstatus hat und dessen Färbung man unschwer heraushört – aufgenommene Album ist das Ergebnis akribischer Arbeit. Jede noch so willkürlich und beiläufig erscheinende Entscheidung, jeder Gitarrenknarz, jeder Flaschenhals und natürlich jede stimmliche Betonung ist bewusste Setzung. Die Spannbreite der äußerst dichten und atmosphärischen Stücke geht von folkloristischeren Songs wie »Amorcito caradura« über dekonstruierten Bolero wie auf dem Liebestingeltangel-Duett mit Sylvian, »Cosa rara«, bis hin zu weit ausholenden, hallenfüllenden Hymnen wie »Hasta el final«. Jeder Song wäre einen eigenen Text wert, so divers sind sie in den erzeugten Stimmungen. Überall gibt es etwas zu entdecken, auch nach zehn Umdrehungen hört man noch neue Nuancen heraus. Die kolumbianische Ex-Wahlberlinerin ist nach ihrem Erfolg mit »¡Ay!« ein schwieriges Erbe angetreten, das ihr aber auch dank künstlerischer Unterstützung durch Sylvian und Lázaro grandios gelungen ist. Philipp Mantze

Sorry

Sorry

Cosplay

Cosplay

Poppig als Synonym für glatt und eingängig? Nö, nicht mit Sorry. Asha Lorenz und Louis O’Bryen fügen dem Genre noch ein paar gehörige Ecken und Kanten hinzu. Auch auf ihrem dritten Album experimentiert die Londoner Band mit Lo-Fi-Sounds, Field-Recordings und Loops – gefühlt mit allem, außer klassischen Instrumenten (obwohl Gitarre und Schlagzeug die Songs melodisch tragen). Heraus kommen elf Tracks zwischen sanft wogenden Störgeräuschen und knarzenden Balladen. Sie nacheinander als Album hören? Keine gute Idee. Denn jeder Track beinhaltet genug Wendungen und Brüche für zwei oder drei Alben. Dazu kommen Textsplitter und Geschichten über Identitätsfindung und Schattenwelten – wie zum Beispiel über ein Echo, das zu einer dritten Person wird. Sie zu interpretieren? Auch keine gute Idee. Aber stattdessen die Atmosphäre aufnehmen. Sich treiben lassen von den Reimen und Versen. Oder aber ein Proseminar zur Analyse neuerer Lyrik daraus machen. Warum muss oder darf man das dann aber doch poppig nennen? Weil in all den musikalischen Fragmenten ganz viel Melodie steckt. Und in Asha Lorenz’ Gesang sowieso. Es ist zudem unheimlich erfrischend, mit Sorry wieder eine Band zu haben, die wie Moldy Peaches oder Guided by Voices Genre-Grenzen ad absurdum führt, Hörgewohnheiten herausfordert und dabei die sperrigsten Ohrwürmer hervorzaubert. Und jeder der elf Tracks auf »Cosplay« kann so einer werden. Kerstin Petermann

Stefanie Schrank

Stefanie Schrank

Forma

Forma

Dass kommerzieller Erfolg schon immer in einem kaum zu übersehenden Missverhältnis zur künstlerischen Relevanz stand, ist bekannt. Und doch: Eine derartige Inkongruenz wie im Falle der wegweisenden Künstlerin Stefanie Schrank macht mitunter ratlos – läuft sie im öffentlichen Diskurs doch zumeist unter ferner liefen. Dabei fallen ein sensibles Gespür für Klangästhetik und herausragendes Songwriting selten so sehr in eins wie im Falle ihrer Musik. Doch vielleicht wird ja nun alles anders: Denn mit »Forma« liefert die Sängerin und Bassistin der Kölner Indie-Pop-Gruppe Locas in Love nach ihrem herausragenden Solodebüt »Unter der Haut eine überhitzte Fabrik« (2019) nun ihr zweites Album – und der Öffentlichkeit einmal mehr einen guten Grund, ihrer Musik endlich ein Ohr zu schenken. Schrank bewegt sich irgendwo zwischen Kraftwerk und Ulla Meinecke, retro-futuristischen Klangelementen und anrührender Innerlichkeit. Alles in ihrer Musik ist auf das Wesentliche reduziert, kein einziges Klangelement überflüssig. Dabei strahlen Songs wie »La Boum«, »Nein wir fürchten nicht die Nacht« oder der Synth-Pop-Banger »Shapeshifter« eine fast schon gespenstische Ruhe aus – ganz so, als ob Schrank irgendwo oben im All schweben und auf uns kleine Erdwesen herabschauen würde. Und wer weiß: Vielleicht transformiert sich die ihrer Musik inhärente Gelassenheit ja auch in mikroskopischen Dosen in den Alltag. Was hingegen feststeht: »Forma« ist ein Kandidat fürs Album des Jahres. Luca Glenzer

Water from your Eyes

Water from your Eyes

It’s a beautiful Place

It’s a beautiful Place

»My working Mindset for this Album was: Your favourite Indie Rock Album is not as cool as any Dinosaur«, gab Nate Amos von Water from your Eyes dem Guardian zu Protokoll. Schon hier kann man erahnen, worum es der New Yorker Band geht: ums große Ganze. Man sollte zwar nicht gerade intergalaktisch-existenzialistische Meditationen über den Menschen und seine Stellung im Kosmos erwarten, aber ein Punkt sollte klar werden: Der Mensch ist ein kurzweiliger Gast auf Mutter Erde. Wer sich davon eingeschüchtert fühlt, sollte sich ins Gedächtnis rufen: It’s a beautiful Place. Das mittlerweile – man muss sich festhalten – achte Album seit 2016 ist bis zum Bersten vollgepackt mit Ideen, Stilen, Stimmungen und Sounds, die genau dem Rechnung tragen wollen. Die Gruppe um Nate Amos und Rachel Brown ist seit jeher keiner spezifischen Schule zuzurechnen, waren die bisherigen Alben doch meist weniger ein kohärentes Ganzes als ein überforderndes Experimentierfeld. Zwischen kitschigem Pathos, augenzwinkernder Ironie und mal mehr, mal weniger um Verständnis buhlenden Zeilen ist die Band absolut in der Jetztzeit zu verorten. Unverhohlen zum Tanz zwingende Pastiche-Songs wie »Playing Classics« (in Anspielung an Charlie XCX) oder der von Gitarre beherrschte »Life Song« mit Moshpit-Potenzial stecken das Feld in etwa ab. Folkige, bittersüße Nummern wie »Blood on the Dollar« reichen sich die Klinke mit lauten My-bloody-Valentine-Reminiszenzen wie »Born 2«. Und so schafft es die Band trotz mangelnder Festlegung, nie ins Beliebige, Willkürliche abzudriften. Philipp Mantze

Various Artists

Various Artists

Beton-Pop – Variations on Concrete

Beton-Pop – Variations on Concrete

Beton ist als allgegenwärtiger Baustoff unserer Zeit in Sachen Effizienz und Stabilität zwar ungeschlagen, trotzdem haftet ihm ein eher ambivalentes Image an: kalt, grau und trist, von steriler Funktionalität und ohne menschliche Wärme. Gleichzeitig verströmt Beton aber auch Urbanität und steht für eine gewisse Bodenständigkeit und rohe Ehrlichkeit. »Beton ist ein schweres Thema«, sang Peter Licht folgerichtig in seinem gleichnamigen Song von 2021. Naheliegend also, dass Alexander Pehlemann dieses Stück zum Opener der Compilation »Beton-Pop – Variations on Concrete« gewählt hat, die im Rahmen des Chemnitzer Kulturhauptstadt-Programms vom Label Edition Iron Curtain Radio zusammengestellt worden ist: eine Sammlung von Songs, die einen thematischen Bezug zu Beton haben, neu arrangiert als Coverversionen, Remixe, Edits oder Dub-Interpretationen. So hören wir den anfangs erwähnten Track von Peter Licht hier in einer Dub-Version des Hamburger Produzenten und DJs Viktor Marek, die mit ihrer reduzierten Schroffheit die betonschen Qualitäten des Songs hervorhebt. Als weitere Schmankerl finden sich etwa eine treibende, aber doch eher kühle Neu-Interpretation des Trettmann-Hits »Grauer Beton« sowie eine beinahe brutalistisch anmutende Cover-Version des The-Slits-Songs »Newtown«, den die sonst eher für ihren dreamy Indie-Pop bekannte Chemnitzer Gruppe Power Plush beisteuert. Das Stück »Zurück zum Beton« der Punk-Ur-Gesteine S.Y.P.H. ist elektronisch verfremdet sogar gleich zweimal vertreten. Obwohl das Ursprungsmaterial genre- und epochenmäßig weit gefächert ist, gelingt der Compilation eine angemessene ästhetische Geschlossenheit, die dem popmusikalischen Nischen-Thema Beton ein würdiges Denkmal setzt. Yannic Köhler

Blood Orange

Blood Orange

Essex Honey

Essex Honey

Dev Hynes lebt und arbeitet zwar in New York und ist weit über die USA hinaus bekannt, aufgewachsen ist er aber im britischen Essex. Auf seinem fünften Studioalbum reflektiert er seine Kindheit und den Verlust seiner Mutter in 14 Pop-Hörspielen, die stets überraschen. Ein wundervoll intimes Album, das zwischen amerikanischem R’n’B und britischer Melancholie changiert und im Synthpop der Achtziger badet, Saxofonsolo und Stevie-Wonder-Harmonica inklusive. Seit er im Big Apple Fuß gefasst hat, ist Dev Hynes, der früher in der Hardcore-Punk-Band Test Icicles spielte, ein gefragter Produzent. Zwischen Pop (Kylie Minogue, Britney Spears) und Avantgarde (Philipp Glass, FKA Twigs) wollen alle mit ihm arbeiten. Seine Soloalben, von denen er zwei als Lightspeed Champion herausbrachte, bevor er den Namen Blood Orange annahm, lassen sich ebenso wenig in eine Schublade stecken wie seine musikalischen Interessen. So ist auch »Essex Honey« ein Kaleidoskop aus Erinnerungen, versehen mit Samples und plötzlichen Cello-Einlagen und zahlreichen Gästen, die sich nie in den Vordergrund spielen, sondern vielmehr in den Sound fügen. Zu hören sind dabei auf der stimmlichen Ebene etwa Caroline Polachek und Lorde, Brendan Yates (Turnstile), der sudanesische Dichter Mustafa the Poet und Schriftstellerin Zadie Smith. Herausgekommen ist ein enorm spannendes Album, das sich immer wieder entzieht, im nächsten Moment aber berührt und umarmt. Lars Tunçay

Maruja

Maruja

Pain to Power

Pain to Power

Nach über zehn Jahren als Band und drei EPs haben Maruja endlich ihr Debütalbum veröffentlicht: »Pain to Power«. Mit ausschließlich neuem Material stellt sich die Frage: Wurde der Maruja-Sound perfektioniert? Verändert wurde er auf jeden Fall: Thematisch kreist das Album um die Demaskierung des vermeintlichen Technofeudalismus unserer Gegenwart. In diesem Sinne schreit Sänger Harry Wilkinson: »When it’s Money over Mind / there will never be a Truce«. Die vierköpfige Band aus Manchester ist bekannt für ihre progressive Jazz-Punk-Hard-Rock-Fusion mit Saxofon und hochenergetischen Live-Auftritten. Auf der Platte kommt eine neue Zutat hinzu: Noise-Rap. Außerdem treiben Maruja ihren Hang zum Jammen auf die Spitze, wodurch sie einen spirituellen Exorzismus der Zuhörerinnen und Zuhörer vollziehen. Acht Songs in 50 Minuten: Ja, sie sind lang, einige dauern zehn Minuten. Die Spannweite reicht vom viszeralen Industrial-Rap-Punk in »Bloodsport« und »Look down on Us« bis zu tranceartigen Soundteppichen wie in »Soairse« oder »Born to die«. Doch so charakteristisch das Saxofon für Maruja ist, manchmal wünscht man sich, jemand würde ein Tuch in die Öffnung stopfen: Seine lieblichen Melodien wiederholen sich über mehrere Stücke hinweg, wodurch der Mittelteil austauschbar wirkt. Trotzdem hält der Kontrast aus nachdenklichem Jammen und aggressiver Energie – getragen vom rasenden Schlagzeug – die Spannung hoch. Nur die PR könnte Feinschliff vertragen: Bitte gebt dem Sänger ein T-Shirt – das ist eine Band und kein Action-Blockbuster! Libia Caballero Bastidas

Baxter Dury

Baxter Dury

Allbarone

Allbarone

Baxter Dury, nebenbei erwähnt der Sohn von Ian Dury, hat auf seinen bisher acht Alben das Image des wortgewandten Außenseiters, Dandys und Lebenskünstlers gekonnt etabliert und gepflegt. In seinen pointierten und bitterbösen Texten beschäftigt er sich ausgiebig mit den zahlreichen Schattenseiten des Kapitalismus – inklusive dessen Auswirkungen auf seine Akteure, die von simpler Charakterschwäche bis zu ausgewachsenen Persönlichkeitsstörungen reichen. Auch Freud und Leid von mehr oder minder toxischen Beziehungen kommt nie zu kurz in seinen Songs. Musikalisch untermalt er seinen prägnanten Sprechgesang mit einer zurückgelehnten Mischung aus Indie-Pop, Easy Listening und Chamber-Pop, die ihren Groove aus dem Hip-Hop speist. Das verflixte neunte Album hat er nun mit dem Produzenten Paul Epworth eingespielt, der für seine Zusammenarbeit mit Charts-Größen wie Adele oder Florence + The Machine bekannt ist. Epworth hat aber auch beispielsweise das geniale Debüt »A certain Trigger« von Maxïmo Park produziert. Leider ist das Ergebnis dieser Kollaboration mit Baxter Dury wenig berauschend. Dury wirkt seltsam verloren inmitten kalter, brachialer Mainstream-Disco-Beats. Sein eigentlich einnehmender Spoken-Word-Gesang spielt auf seltsame Weise die Nebenrolle im eigenen Film. Wir vermissen sehnlichst die galante Subtilität und das Organische der bisherigen Alben. »Allbarone« fehlt offensichtlich etwa die Vielseitigkeit des Meisterwerks »Prince of Tears«. Umso merkwürdiger erscheint dieses Album, da Dury 2018 gemeinsam mit Étienne de Crécy und Delilah Holliday mit »B.E.D.« bereits eine geniale moderne Disco-Platte vorgelegt hat. Kay Engelhardt

Das Paradies

Das Paradies

Überall, wo Menschen sind

Überall, wo Menschen sind

Wenn man auf Deutsch singt, hat man mit dem Verstehen zu kämpfen. Entweder ist man dann überschlau und verkopft. Oder man gibt sich dem gepflegt-kindischen Dadaismus hin. Und wenn das nicht passt, hilft noch die Resignation und man setzt komplett auf die Musik und lässt die Texte Texte sein. Ganz so einfach ist es natürlich nicht, aber Florian Sievers aka Das Paradies schafft es auf dem dritten Album »Überall, wo Menschen sind«, alle drei Aspekte gut zu verbinden. Seine Texte sind klug, aber nie belehrend, wieder durchzogen von Sprachspielen, die manchmal verspielt, manchmal albern wirken, aber immer eine zweite Ebene andeuten. In »An einem Kirschbaum in einem Sommer« etwa klingt das wie ein innerer Monolog auf der Terrasse, irgendwo zwischen Träumerei und Lebensbeobachtung. Und musikalisch ist dieses Album allemal mitreißend-poppig. Dabei bewegt sich Das Paradies diesmal deutlich näher an klassischem Indie-Pop – weniger Elektronik, mehr Bandfeeling. Gitarren, Bass, Schlagzeug, sparsam eingesetzte Streicher und eine warme Orgel ergeben einen weichen, leicht nostalgischen Sound, der an die Hamburger Schule denken lässt. »Bei den Regendrops« zeigt, wie mitreißend das klingen kann: verspielt, poppig, aber nie beliebig. Man hört: Hier geht es nicht um Pose, sondern um Inhalte, die sich immer um Menschen drehen – und es geht um einen sehr eigenen Ton. Die Herausforderung, diesen auch in deutscher Sprache zu finden, hat Florian Sievers damit klar gemeistert. Kerstin Petermann

Stemeseder Lillinger

Stemeseder Lillinger

Penumbra II

Penumbra II

Erste Akkorde des Pianos senden Signale aus, ihnen folgt ein Schweif von leuch- tenden Synthesizerklängen. Gleichwohl rappelt sich der Rhythmus auf, um mit »KH I (getragen)« in die neue gemeinsame Veröffentlichung von Elias Stemeseder (Klavier, Spinett, Synthesizer) und Christian Lillinger (Schlagzeug, Perkussion, Synthesizer, Electronics) zu starten. Obgleich Lillingers Spiel – wenn man ihn live erlebt – einer Maschine gleichkommt, entlockt er dem Schlagzeug auch bedachte, zarte und an die Melodie angeschmiegte Klänge und lässt kaum Repetitive aufkommen. Währenddessen flirren, funkeln und sausen die Tonfolgen des Klaviers hinreißend. Besonders sind jedoch die Synthesizer, die wunderbar glühen, raunen, zucken, funkeln und leuchten. So türmen die beiden Musiker mit dem Stück »EL (betraechtlich)« geräuschvolle Impulse auf, die mal an fast vergessene PC-Sounds vergangener Jahre erinnern und mal eine außerweltliche Weite suggerieren. Die auf Platte gebannte Improvisation »Penumbra II« der Musiker fasziniert durchgehend, ist unglaublich kurzweilig und gibt eine herrliche Energie frei. Zudem entziehen sich Stemeseder und Lillinger mit jener Veröffentlichung den Streamingdiensten – insbesondere jenem, der immer wieder damit auf sich aufmerksam macht, Künstlerinnen und Künstler unangemessen zu entlohnen sowie mit KI-generierter Musik zu wirtschaften. Daher kann »Penumbra II« nur über Lillingers Label Plaist Music und dessen Bandcampseite bezogen werden. Claudia Helmert

Teethe

Teethe

Magic of the Sale

Magic of the Sale

Das Quartett aus Texas schafft auf seinem zweiten Album »Magic of the Sale« 14 wundervolle Soundminiaturen, verspielt, verträumt, umarmend. Über verschiedene Bandprojekte fanden die vier Ende der Zehner in der Band Crisman zusammen und bildeten Teethe, um neue Dinge zu probieren. Gleichberechtigt schreiben sie alle Stücke gemeinsam und teilen sich auch den Gesang. Das Debüt, 2020 im Eigenvertrieb veröffentlicht, war ein roher, ungeschliffener Diamant und erhielt viel Aufmerksamkeit und Anerkennung von anderen Künstlerinnen und Künstlern. Das schwierige zweite Album ist anders als der Vorgänger, ruhiger, elegischer, wärmer und doch eine logische Fortführung. Teethe bewegen sich im Schmelztiegel von Bands wie Low, Beach House oder den Red House Painters, mäandernd und Schlieren ziehend zwischen Slowcore, Americana und Lo-Fi-Pop. Eingängig, aber nicht unterkomplex. Einfach, aber nicht simpel. Der perfekte Soundtrack zu einem Sommer der Unzufriedenheit. Inhaltlich sind die Texte ein Kommentar zum existenziellen Kampf, dem wir uns als Menschen täglich stellen, insbesondere in diesen unruhigen Zeiten. Dabei kommen weniger die Wut und Verzweiflung zum Ausdruck als vielmehr die Hoffnung auf bessere Zeiten. Teethe nehmen uns in den Arm und mit in Richtung Ausweg. Lars Tunçay

Lyra Pramuk

Lyra Pramuk

Hymnal

Hymnal

»A cappella is dead« hörte man seit dem traurigen Niedergang der legendären Backstreet Boys ob ihrer einst herzerwärmenden Live-Einlagen durch die Straßen raunen. 2020 durfte die Welt beziehungsweise ein mikroskopischer Ausschnitt davon dann nach Björks famosem Zwischenspiel »Medulla« einen weiteren unerwarteten Wiederbeatmungsversuch des Genres bezeugen. Er hörte auf den Namen »Fountain«, kam in Gestalt von Lyra Pramuks Debütalbum daher und fand seine Signatur in umherschwirrenden und bedarfsgerecht aufgeschichteten Stimmfragmenten. Auch auf dem Nachfolger »Hymnal« setzt Pramuk ihre Stimme als zentrales Instrument ein, während auf Lyrics wiederum quasi gänzlich verzichtet wird; Form schlägt bedeutsamkeitsfixierten Authentizitismus. Im Kernstück »Oracle« werden so zum Beispiel zur Unkenntlichkeit verzerrte Laute auf Repeat und voll in den Dienst seiner auratischen Qualitäten gesetzt. Das folgende »Babel« erinnert in seiner humanoid röhrenden Bassatmosphäre an Fever Ray, bevor es im chamberesken »Meridian« plötzlich aufklart und Pramuk die einzig wirklich verständlichen Worte des Albums in die allgemeine Bläser- und Streichergemengelage haucht: »Licking the sun / Licking the soil«. Nur um diese Sonne in »Gravity« prompt wieder in ein schwarzes Nichts zu versenken und fast schon Endzeitstimmung heraufzubeschwören. »Hymnal« lässt gekonnt verschiedene Soundsensibilitäten ineinanderfließen und präsentiert sich als beeindruckende Fortführung der hoffentlich noch um einige Kapitel zu erweiternden Diskografie Pramuks. Peter Zeipert

Mae Powell

Mae Powell

Making Room For The Light

Making Room For The Light

Über die Aufnahmen zu diesem Werk gab Powell zu Protokoll: »Es hat sich angefühlt wie im Ferienlager. Wir haben alle zusammen im Studio geschlafen. Und immer, wenn uns die Arbeit genervt hat, sind wir im Fluss baden gegangen und haben dann irgendwann am Album weitergearbeitet.« Diese offenkundige Entspannung ist der Platte anzuhören. »Making Room For The Light« ist der zweite Longplayer der Künstlerin, die in der San Francisco Bay Area lebt. Neu war, dass die Songs diesmal in echter Bandarbeit entstanden. Das Einspielen des vielversprechenden Debüts hingegen ähnelte eher dem Zusammenfügen von Puzzle-Teilen. Jenes entstand während der Covid-Pandemie und die Schlagzeug-Spuren etwa trudelten per E-Mail im Studio ein. Diesmal dienten als Inspiration unter anderem Bob Dylans »Nashville Skyline« und »Watch What Happens« von Chris Montez. Passend dazu gelingt Powell in den elf Songs ein galanter Spagat zwischen Folk, Country und Easy Listening. Stimmlich und auch musikalisch bewegt sich Powell in ähnlichen Gefilden wie Katy J. Pearson, Alice Phoebe Lou und Kacey Johansing. Wer ein Herz für diese Musikerinnen hat, sollte sich das Album nicht entgehen lassen. Kay Engelhardt

Nourished by Time

Nourished by Time

The Passionate Ones

The Passionate Ones

Ja, wir wissen es alle: Der Name ist weird, und man kann ihn sich nicht einfach merken. Aber die Musik macht so viel Spaß, dass es keinen Ausweg gibt, außer sich dieses Pseudonym einzuprägen und in Dauerschleife zu sagen: Nourished by Time hat ein neues Album rausgebracht! (und das bitte mal zehn). Nach der Perle seines Debüts von 2023, das Produzent und Singer/Songwriter Marcus Brown einen Deal mit XL Recordings bescherte, warteten R&B-Enthusiastinnen und Enthusiasten gespannt auf Album Nummer zwei. Mit »The Passionate Ones« führt Brown seinen Stil fort: Vintage-Texturen zwischen späten Achtzigern und frühen Neunzigern (SWVs »It’s All About Time« lässt grüßen), gespickt mit New Wave, R&B, Elektrofunk, Dreampop und House im DIY-Mantel. Die Platte startet mit melancholischen, souligen Balladen und steigert sich zu tanzbaren Momenten, getragen von Baltimore-Club-Beats und Browns beiläufiger Rap-Delivery. Der Kontrast zwischen hochgepitchten Vocals und Browns dunklem, heißem Bariton – mal à la D’Angelo, aber auch mal à la Prince – erzeugt soulige Wärme und sommerliche Euphorie. So erzählt er zugänglich von der Schattenseite des »American Dream«: von belastenden Bürojobs (»925«) und Existenzangst (»Max Potential«) – mit Liebe und Leidenschaft als Rettungsanker. Ein Album, das nicht überrascht, aber zwischen Melancholie, Euphorie und Dancefloor der Arbeiterklasse treu bleibt. Libia Caballero Bastidas

Hallo Volte

Hallo Volte

Anderswo EP

Anderswo EP

Die schönsten Geschichten schreibt das Leben selbst. Zum Beispiel diese: Eine Schülerband namens Saitenweise gründet sich Anfang der 2000er im schwäbischen Sigmaringen. Der Bandname legt ebenso wie die Musik nahe, dass Begriffe wie »Tocotronic« oder »Blumfeld« mutmaßlich keine Fremdwörter für das junge Quartett sind. Doch bevor es zu einer ersten Veröffentlichung kommt, verlieren sich die Spuren der Band im Sand. Es folgen Studium, Jobs, Karriere. Nun, gut zwanzig Jahre später, ist die Band unter neuem Namen (Hallo Volte) und mit ihrer Debüt-EP zurück. Und was soll man sagen: »Anderswo« ist seit, sagen wir: Kettcars »Ich vs. Wir« das stärkste Comeback im Bereich des deutschsprachigen Indie-Pop. Nicht nur deshalb, weil die Band in den fünf Songs mindestens fünfzig tolle Melodien eingearbeitet hat (Kettcar haben in 25 Jahren bekanntlich keine einzige zustande gebracht); sondern auch – und für Epigonen der Hamburger Schule nicht ganz unwichtig –, weil Sänger Jörn Dege (der nebenbei bemerkt Geschäftsführer des Literaturinstituts Leipzig ist und einst die Edit mit herausgab) Texte für die Ewigkeit, wenn nicht sogar für den Moment schreibt. Kaum zu glauben, aber wahr: Dank Songs wie »Deko für den Flur« oder »Ein Versuch« fängt man an zu vergessen, dass man Kante je vermisst hat. Luca Glenzer

Power Plush

Power Plush

Love Language

Love Language

Zwischen warmem Dreampop und aufgeladenem Indie-Rock formt das Chemnitzer Quartett Power Plush mit seinem neuen Album »Love Language« einen Sound, der direkt ins Herz geht – und einen dabei fast dazu bringt, selbst mal wieder Liebesbriefe zu schreiben. Power Plush, das sind Drummer Nino sowie die Sängerinnen Anja, Maria und Svenja, die mit drei völlig unterschiedlichen Gesangsstimmen jedem Song des Albums eine neue Farbe verleihen. Ob Retro-Vibes in »Blue«, moderne Dreampop-Balladen wie »Date Me Once« oder »U Deserve Better« oder für Power-Plush-Verhältnisse ungewohnt rockige Indietracks wie »Crush« und »Better Luck Next Time«: »Love Language« schmiegt sich in die knallbunte, glitzernde Welt von Power Plush ein und überzeugt mit ausladenden wie unaufdringlichen Melodien und vielschichtigen Gitarren. Lyrisch verarbeitet die Band ein ganzes Feuerwerk an emotionalen Ausbrüchen und innersten Gefühlen. Im Kern: die Liebe, in all ihren Facetten und Ausschweifungen; laut oder leise, verzweifelt oder glücklich, anbahnend oder beständig, herzerwärmend oder missglückt. Als Grande Finale der titelgebende Song »Love Language«: ein gebührender, energiegeladener Abschlusstrack, bei dem sich Anja, Maria und Svenja mit ihren Gesangsparts harmonisch abwechseln. Nächsten Monat touren Power Plush mit ihrem neuen Album »Love Language« durch Deutschland und Österreich, vom Auftakt in Dresden am 2.10. bis zum Heimspiel in Chemnitz am 24.10. Celina Riedl