anzeige
anzeige

Rezensionen

Alt-J

Alt-J

The Dream

The Dream

Was der Traum wäre: eine Welt, in der man sich versteht. In der man sich ohne Vorurteile und voller Toleranz begegnet. In der das Du ebenso eine Bedeutung hat wie das Ich. Die britischen Folk-Tüftler von Alt-J versuchen mit ihrem vierten Album »The Dream«, dem ein Stückchen näher zu kommen. Mit fast schon rührender Naivität erzählt das Trio aus Leeds von den unschuldigen Freuden und Träumen eines unbeschwerten Sommers, Urlaubs oder einfach des Alltags. Die Formel der Glückseligkeit lässt sich offenbar in zwölf Songs packen und beinhaltet als Variablen Sonne, Liebe, Eis, Gesundheit (natürlich auch für die Liebsten) und die richtige Melodie im Ohr. Tatsächlich könnte »The Dream« der Beweis sein, dass die Formel aufgeht. Nur allzu gerne möchte man sich von dem wiegenden, leichten Gesang Joe Neumans davontreiben lassen. Vor allem, wenn flirrende Synthesizer und Gitarren die Richtung vorgeben. Was wir haben: Corona, einen Fast-Krieg in der Ukraine, Tausende von frierenden und hungernden Geflüchteten an der polnischen Grenze, Klimawandel. Dieser Clash zwischen Wunsch und Tagesschau ist das Eindrücklichste an »The Dream« und vielleicht die stärkste Aussage des Albums. Eventuell sogar ein Weckruf, sich aus dem eigenen watteweichen Wohlfühl-Kokon zu schälen und sich zu engagieren. Vielleicht – und das hoffe ich – ist es aber auch das Resümee aus mehreren Monaten Welttour mit unzähligen Begegnungen, Bekanntschaften und freundlich-unbekümmerten Eindrücken. Denn während der Tour rund um die Welt sind die ersten Songs und Aufnahmen entstanden. Kerstin Petermann

Cat Power

Cat Power

Covers

Covers

Chan Marshall aka Cat Power hat schon seit jeher ein Faible für Cover-Versionen. »Covers« ist bereits die dritte Sammlung von Neuinterpretationen nach »The Covers Record« (2000) und »Jukebox« (2008). Erstere überzeugte durch geniale Reduktion. Letztere spielte sich durch ihre enorme musikalische Vielseitigkeit ins Herz der Hörenden. In dieser Hinsicht ist »Covers« näher an »Jukebox«. Diesmal covert Cat Power elf überwiegend etablierte Künstler:innen sowie einen eigenen Song. Lana Del Rey, Iggy Pop und Nick Cave gehören zu den bekannteren. Von weit entfernt vom Original (»Bad Religion«) bis dicht an der Vorlage (»These Days«) ist alles vorhanden. Glücklicherweise gibt es keine größeren Experimente, dafür jederzeit spannende und intensive Variationen. Marshall gelingt durchgängig das, was gutes Covern auszeichnet: den Songs unbekannte Seiten zu entlocken und sich gleichzeitig vor dem Vorhandenen zu verbeugen. Das feste Gerüst der Originale hilft die ansonsten bisweilen uferlose Melancholie Marshalls perfekt zu kanalisieren. Ihre süchtig machende Stimme sowie die versierte Song-Auswahl machen dieses Album zu einem frühen Lichtblick im neuen Jahr. Kay Engelhardt

Deep Throat Choir

Deep Throat Choir

In Order To Know You

In Order To Know You

Der Deep Throat Choir ist ein Vokalensemble aus London, das komplett aus weiblichen und nicht-binären Mitgliedern besteht. Das Kollektiv mit dem augenzwinkernden Namen fand sich auf Initiative von Luisa Gerstein zusammen. Ursprünglich konzentrierten sich die Künstlerinnen auf Cover-Songs im Chorformat. Ansinnen war es, den Originalen neues Leben einzuhauchen. Hilfreich war dabei die Beschränkung auf die reine Kraft von Stimmen und Schlagzeug. Auftritte fanden vor allem zum eigenen Vergnügen und im kleineren Kreis statt. Mit dem zweiten Album begibt sich das Projekt auf eine neue Reise. »In Order To Know You« wartet komplett mit Eigenkompositionen auf. Unterstützt durch zusätzliche Bläser, Streichersätze, Piano-Passagen und Synthie-Sounds wird die Klangwelt behutsam erweitert. Der neue Sound des Deep Throat Choir schwebt genial zwischen Chamber-Pop, Jazz und Indie-Pop. Das erinnert bisweilen an Artverwandte wie Tune-Yards und This Is The Kit. Wie gehabt wird die geballte Energie und Grazie des weiblichen Gesangs zelebriert. Die neuen Stücke sind luftig, erhebend und verspielt. Und ein extrem kurzweiliges Beispiel für zeitgenössische Chormusik. Kay Engelhardt

Ragnhild Hemsing

Ragnhild Hemsing

Edvard Grieg: Peer Gynt

Edvard Grieg: Peer Gynt

Schauspielmusik zu »Peer Gynt« ist nicht gerade eine Neuentdeckung. Im Gegenteil: »In der Halle des Bergkönigs« und »Morgenstimmung« gehören zu den meistgespielten Klassik-Werken – Letzteres auch dank massiver Verwendung in der Werbung. Doch wer die Interpretation der Norwegerin Ragnhild Hemsing hört, die mit den Trondheim Soloists den Klassiker neu aufgenommen hat, der erfährt diese Komposition mit neuen Ohren. Weil Hemsing die Tatsache, dass sich Grieg von skandinavischer Volksmusik inspirieren ließ, ernst nimmt und nicht nur zur gewöhnlichen Geige, sondern auch noch zur Hardanger-Fiedel greift. Die oft gehörten ersten vier Töne der »Morgenstimmung« erklären sich so plötzlich von allein – sie entsprechen den leeren Resonanzsaiten der Fiedel. So wird die Bühnenhandlung endlich einmal verständlich: Aus dem Unterbewusstsein schleichen sich die vertrauten Klänge aus Peer Gynts Heimat in sein Ohr und wecken die Lebensgeister des nach einem Schiffsunglück fast schon toten jungen Mannes aufs Neue. Perfekt: So funktioniert wirkliches Crossover, mehr davon! Hagen Kunze

Breu

Breu

Endlich: Für dieses sieben Tracks fassende Album hat sich die Band des in Leipzig ansässigen Maximilian Breu Zeit genommen. Dessen Schlagzeug ist der Gruppe Bauleitung und Gerüst, ständig weiterentwickelnd auf- und abbauend. Pausen, in denen man sich vergessen kann, werden zu gefährlichen Gewässern für die unentbehrlichen virtuosen Komplizinnen Breus: Olga Reznichenko an Klavier und Keyboard, Andreas Lang am Kontrabass und Andreas Dombert an der Gitarre. Die Dynamik in jedem Stück wird zur Herausforderung – im Guten. Konzentration ist eine Kunst. Ständig wird aufgebrochen, was sich eben erst zusammenfügte. Aufhorchen. Ereignismusik. Arrangements, in denen passiert und passiert und wieder passiert. Das sind Strecken, die zurückgelegt werden müssen. Vielseitige Strecken, die post-rockend an Stilen vorbeispielen, diese passieren, verschmelzen, wieder auseinandernehmen. Immer mal krautig, wuchernd kommen die Nummern daher. An anderer Stelle sprechen sie eine überaus klare Formsprache. Dass auf Sprache beziehungsweise Gesang verzichtet werden muss: ein bisschen schade. Das Album ist vorerst nur digital verfügbar, doch dabei soll es nicht bleiben und auch sonst hat der Namensgeber gute Absichten. Für dessen Aktivitäten gibt es reichlich Vorsätze zum Jahresstart. Das Wesen des Albums macht es vor: Hängenzubleiben ist nur ein Angebot, sich wieder loszureißen. Elias Schulz

Band of Horses

Band of Horses

Things Are Great

Things Are Great

»I think I got a crutch on you« – so einfach und wundervoll macht Ben Bridwell den Crush zu einer Krücke. Offen bleibt, ob sie eine Belastung ist oder eine Stütze. Das ist nur eines der zauberhaften Wortspiele auf dem sechsten Album von Band of Horses, »Things Are Great«. Ganz selbstverständlich jonglieren die Texte wieder mit Widersprüchlichkeiten: Da ist die dritte Single »Lights«. Sie erzählt von Einbruch, Polizei und Scheinwerfern. Für Letztere steht der Titel ebenso wie für das sanfte Licht der Freundschaft und Heimeligkeit, die in dem Song anklingt. Das Bemerkenswerte an dem Quintett aus Seattle ist die Nähe zwischen Songs und Songschreiber Ben Bridwell. Die Szenen, die sich wie ein Puzzle zu einem Songtext zusammensetzen, stammen aus seinem Leben und tragen seinen sympathisch-skurrilen Humor. Die zehn Songs sind in den vergangenen fünf Jahren entstanden und man merkt, dass nach dieser längeren Zeit die Spielfreude die Snares und den Bass noch einmal ordentlich getrieben hat. Sie klingen so rockig wie eine junge Band, die von Band of Horses inspiriert ist. Vielleicht ist es die neu entdeckte Spielfreude, vielleicht der Frühling oder einfach auch der Drive, den die beiden Neuen Matt Gentling und Ian MacDougall in die Band bringen … Sei’s drum: »Things Are Great« ist great und genau das Richtige, um dem Frühling entgegenzutanzen. Und wenn jemand fragt: Das Glas ist halbvoll und die Krücke eine Stütze. Kerstin Petermann

Beach House

Beach House

Once Twice Melody

Once Twice Melody

Hinter Beach House verbergen sich Victoria Legrand und Alex Scally, die seit 2005 unter diesem Namen veröffentlichen. »Once Twice Melody« ist bereits das achte Album des Duos aus Baltimore. Schon der letzte Longplayer »7« stand ganz im Zeichen der Neuausrichtung und Weiterentwicklung ihres Sounds. Die große Qualität von Beach House besteht darin, sich sehr geschmeidig und organisch zu transformieren. Auf jeder neuen Platte klingen sie schwer nach Beach House und dennoch geringfügig anders. Damit bleiben ihnen auch Fans der frühen Jahre treu. »Once Twice Melody« ist das erste vollständig in Eigenregie produzierte Album. Zudem enthält es erstmals live eingespielte Streicher- Passagen. Im Laufe der Jahre wurde der Sound des Duos immer opulenter, breitwandiger und melodieverliebter. Artverwandte wie Stereolab, Future Islands und Burning Hearts scheinen durch die eine oder andere Schicht des neuen Albums hindurch. Auch hierauf flirten Beach House noch gelegentlich mit der Melancholie. Im Großen und Ganzen ist es aber ihr mit Abstand unbeschwertestes Werk, was wir hiermit ausdrücklich gutheißen. Kay Engelhardt

Kae Tempest

Kae Tempest

The line is a curve

The line is a curve

Ab wann wird eine Linie zum Kreis und hört auf, eine Linie zu sein, nur weil sie sich biegt? Ab wann wird ein Sandkorn zum Haufen, wann ein Push zum Flow, ein Gestoßenwerden zum Antrieb? Kae Tempest wirft auf dem fünften Studioalbum »The line is a curve« das »T« des Vornamens endgültig über Bord und verhandelt fließende Übergänge, die Widersprüche aufheben. Einer der offensichtlichsten Widersprüche oder Gegensätze ist der von Mann und Frau. Schon das Sachbuch »On Connection« von 2020 ist eine intime Auseinandersetzung mit der eigenen Person. Es fällt zusammen mit der öffentlichen Bekundung, nicht mehr »sie«, Kate, zu sein, sondern »they«, Kae. Ganz logisch knüpfen die Lyrics des aktuellen Albums an diese Verweigerung von Binarität an. Im geliebten Cockney-Englisch reflektiert Kae Tempest über Ungleichheiten in der Gesellschaft: über Privilegien versus Diskriminierung, über Druck versus Freiheit. So persönlich der Ausgangspunkt des Albums ist, so sehr mündet er doch in Gemeinsamkeit und Kommunikation. Auch für dieses Album sucht sich Kae gezielt Menschen zur Kooperation: Fontaines DC-Sänger Grian Chatten, Lianne La Havas oder einfach ausgesucht sympathische Menschen, wie junge Fans oder die Dichterin Bridget Minamore. Diese Gemeinsamkeit ist nur konsequent. Sie macht das Album bunter, sie zeigt, was die Lyrics sagen: Ich kann euch alleine etwas über Ungleichheit erzählen, klar, aber wenn ich etwas verändern möchte, brauch ich auch euch dazu. Müssen wir viele sein. Kerstin Petermann

Molly Nilsson

Molly Nilsson

Extreme

Extreme

Beim Hören des neuen Albums »Extreme« der Schwedin Molly Nilsson möchte man rausgehen, losrennen, laut mitsingen. Allerdings sollte man sich nicht auf dem wuchtigen, treibenden 80s-Synthiesound davontragen lassen, ohne auf die Texte zu achten. Denn das zehnte Album der Wahlberlinerin ist ein sehr persönliches Manifest zum Umsturz bestehender Machtstrukturen. Geschickt verpackt sie feministische Botschaften in ihre Texte, wie in »Earth girls«, wo sie sich an die heranwachsende Generation von Frauen mit den Worten wendet: »You ask yourself ›Is it in my head?‹ You turn that finger on the world instead. Women shame themselves. But don’t blame yourselves. ’Cause Women have no place in this world.« Ähnlich ermutigende Botschaften finden sich in »Fearless like a child«. »Intermezzo«, ein schnelles, treibendes, rein instrumentales Lied unterteilt das Album. Auf der zweiten Hälfte geht es weiter mit kapitalismuskritischen Klängen, »fresh young face, king of a lovely place, silicone life, wash your face«, heißt es in »Sweet smell of success«. Nicht nur textlich, auch musikalisch ist »Extreme« dichter und direkter als frühere Alben. Nilsson bleibt ihrer Ästhetik durchaus treu: Es gibt weiterhin den von ihr orchestrierten Plastiksound mit dominantem Keyboard, den man kennt und liebt. Der Synthesizer kommt teils so amplifiziert zum Einsatz, dass die Musik im Synthieschauer verschwimmt. Doch auch schroffe Metal-Riffs finden verstärkt Eingang in die Musik. Der Name ist Programm: Mehr von allem, klarer, stärker – Extreme eben. Sarah Nägele

Jakub Józef Orliński

Jakub Józef Orliński

Antonio Vivaldi: Stabat Mater

Antonio Vivaldi: Stabat Mater

»Stabat Mater« und Italien – das ist eine kongeniale Kombination. Die eindringliche mittelalterliche Dichtung, die die Schmerzen der Gottesmutter angesichts des Todes ihres Sohnes beschreibt, wurde von Giovanni Battista Pergolesi 1736 derart beispielhaft in Töne gefasst, dass Bach nicht umhinkam, das Stück abzuschreiben und als deutsche Kantate aufzuführen. Kaum weniger expressiv als dieser Meilenstein der Musikgeschichte ist das 25 Jahre ältere »Stabat Mater« aus der Feder von Antonio Vivaldi. Mit der für Barock hervorragend geeigneten Capella Cracoviensis legt der polnische Altus Jakub Józef Orliński hier eine meisterliche Interpretation vor, die als CD-Produktion dennoch eine Unverschämtheit ist. Denn die Scheibe, die im Normalpreisbereich angesiedelt ist, hat lediglich eine Spieldauer von gut 18 Minuten. Kein ergänzendes Werk findet sich auf dem Silberling, stattdessen liefert Orliński ein entbehrliches Musikvideo mit ihm in der Hauptrolle. Mein Tipp: Die hörenswerte Einspielung auf dem Streamingdienst des Vertrauens anhören, die CD aber im Fachgeschäft liegen lassen. Hagen Kunze

Kurt Masur

Kurt Masur

The Complete Warner Classics Edition

The Complete Warner Classics Edition

Beim Konzert zum Gedenken der Opfer des 11. Septembers erkannte die New York Times 2001 in Kurt Masurs Dirigat »den ungebrochenen Glauben an die Signalwirkung der Musik und ihre Heilkraft«. Dieser Satz ist kennzeichnend für den im Jahr 2015 verstorbenen Dirigenten. Denn stets setzte Masur seine Popularität auch politisch ein – nicht zuletzt, als er am Leipziger Schicksalstag des 9. Oktober 1989 deeskalierend wirkte. Dass Warner den Dirigenten nun mit einer Neu-Edition seiner Einspielungen der Plattenlabels EMI und Teldec ehrt, ist keinesfalls nur eine Marketing-Idee. Die 70-teilige Sammlung umfasst 35 Jahre und zeichnet ein Bild von Masurs facettenreichem Wirken in Leipzig, New York und London. Schwerpunkt der Aufnahmen mit dem Gewandhausorchester ist das große Repertoire: Tschaikowski ließ Masur wunderbar dunkel spielen, während sein Liszt Sinn für überbordende Leidenschaft erkennen lässt. Mendelssohn wiederum ist ein Heimspiel: Ob der »Sommernachtstraum« oder das Violinkonzert mit Maxim Vengerov – beides sind Referenzaufnahmen, die in keinem CD-Schrank fehlen dürfen. Hagen Kunze

Carlo Karacho

Carlo Karacho

ODY C

ODY C

Etwas mehr als neun Monate sind vergangen seit seinem ersten Album. Eine neue EP von Carlo Karacho stiftet nun zu Bewegung an und macht mit sechs Tracks und ohne jedweden Drill eingerostete Gelenke wieder locker für den Frühling. Sympathisch stumpfer Reim trifft auf Stimmung, die geringstenfalls wohlwollend nicken lässt. Die mal vom Gameboy, mal dubby übermittelten Signale im Klangbild widersprechen sich nicht. Und mindestens ein Reggae-Verweis sollte auf keinem souveränen NDW-Release fehlen – so weit also alles regelkonform. Eine gesunde Portion Atemgeräusche in der Aufnahme von Vocals steht bekanntlich für Echtheit. Die nicht immer klare Sprache handelt von klassischen und dabei immer aktuell bleibenden Themen wie Urin, Regen, Oberflächlichkeiten, Enttäuschung und Kommunikationshürden. Das klingt alles erst mal potenziell bemitleidenswert oder herausfordernd. Zum Glück wird sich dabei nicht zu ernst genommen: »Eine Qualle ist eben auch nur eine Spinne im Wasser.« Darin steckt der zarte, aber umso erfreulichere Schritt nach vorn im Songwriting. Es wird weniger dick aufgetragen. Konsequent maschinelle Beats tragen kompromisslos durch fast 17 schnelle Minuten. Es bleibt unbedingt zu empfehlen, auf »Repeat« zu drücken. Angenehm unkompliziert brettern die Synthies durch programmierte Träume mit geschultem Blick in Richtung Geschichte. Die Achtziger sind nicht so alt, wie gerne getan wird, und wer erst später zur Welt kam, kann jederzeit noch einsteigen. Elias Schulz

Get Well Soon

Get Well Soon

Amen

Amen

Konstantin Gropper, der Kopf hinter Get Well Soon, hat während der Pandemie mit Schrecken festgestellt, dass er Optimist ist. Und das hört man seinem neuen Album »Amen« an. In der Ouvertüre wird gleich klar, was Gropper vom Versinken in Melancholie und Selbstmitleid neuerdings hält: nämlich nichts. Genervt scheint er vor allem von sich selbst zu sein. In gewohnter Manier singt er sein Klagelied und wird prompt von einem mehrstimmigen Chor abgemahnt: »Stop your whining, you are alright.« Nur konsequent, dass der Song von einer Computerstimme mit: »This is an intervention« angekündigt wird – gegen den Weltschmerz in einer zunehmend düsteren Welt. Im Gegensatz zu früheren Alben fallen Tempo, Rhythmik und Energie der Lieder auf. Mit feuerwerksartig explodierenden Momenten reihen sich wuchtige Indie-Elegien zu einem abwechslungsreichen Kunstwerk aneinander. Mit »I Love Humans« liefert Gropper eine ambivalente Liebeserklärung an die Menschheit mit all ihren Verfehlungen. »One For Your Workout« handelt vom gesellschaftlichen Selbstoptimierungszwang, der schnell in Selbsthass umschlagen kann: »It’s a steep route up to the top shelf / Relax, erring and failing’s fine / just fail your best next time / It’s not good enough / never enough for them.« Auch musikalisch werden neue Pfade zwischen Elektro, Dance und Pop betreten – Arcade Fire trifft Pet Shop Boys und Beatles. Die schnellen 80s-Beats und funky Disco-Ästhetik von »My Home Is My Heart« irritieren nur im ersten Moment. Denn Get Well Soon erfindet sich auf dem neuen Album durch die Überwindung des eigenen Images neu – und es funktioniert. Sarah Nägele

Jack White

Jack White

Fear Of The Dawn

Fear Of The Dawn

Man kann nicht sagen, Jack White hätte es nicht versucht. Das Problem ist eher, dass er es ein bisschen zu sehr versucht. »Fear Of The Dawn«, das erste von zwei Soloalben, die dieses Jahr veröffentlicht werden, ist vor allem eins: anstrengend. Dabei öffnet das Album noch vielversprechend mit »Taking Me Back«. Gut platzierte Gitarrensoli, stoisch treibende Drums, Synthiefetzen und die schneidende Stimme – alles Dinge, die White gewohnt gut in Szene setzen kann. Da kann man über das fehlende Understatement mal hinwegsehen. Bereits »Fear Of The Dawn« klingt dann eher uninspiriert. Übersteuert, verzerrt und überladen mit E-Gitarren-Effekten bleibt außer einem Dröhnen in den Ohren wenig übrig. Leider wirkt dieser Gitarrenrock mit dem Vorschlaghammer von einem alternden Mann ein wenig aus der Zeit gefallen, selbst wenn er von einer Ikone kommt. White hat zwar durchaus neue Ideen, nur hat er die meisten nicht zu Ende gedacht. Skurril wird es spätestens beim gemeinsam mit Q-Tip produzierten Song »Hide-Ho«. Es ist schwer zu erklären, was da überhaupt passiert. Das Lied beginnt mit einem Muezzin-artigen Gesang, untermalt mit düsterem Gitarrensound, um dann zwischen repetitivem Autoscooter-Rap und spanischer Flamencogitarre zu pendeln. Auf ominöse Weise ist das zwar catchy, aber nicht wirklich gut. Alles also sehr schnell, sehr ekstatisch, ein bisschen zu viel. Die besten Momente finden sich da, wo White einen Gang zurückschaltet, musikalischen Ideen Raum und Zeit gibt, wie im dahingroovenden, etwas sanfteren »Shedding My Velvet«, mit dem das Album schließt. Viele gibt es davon leider nicht. Sarah Nägele

Mattiel

Mattiel

Georgia Gothic

Georgia Gothic

Atina Mattiel Brown und Jonah Swilley sind die Köpfe hinter dem Projekt Mattiel. Das Cover-Artwork der ersten beiden Alben suggerierte, dass Brown die Bandleaderin ist. Dabei waren die Songs schon immer ein komplett gemeinschaftliches Produkt. Bei »Georgia Gothic« ist Swilley erstmals mit auf dem Cover gelandet. Das Album wurde im ländlichen Georgia in aller Abgeschiedenheit und frei von den üblichen Distraktionen aufgenommen. Nach wie vor sind Rock und Blues essenzielle Fixsterne am Mattiel-Himmel. Eine neue Komponente ist die lässige Integration der Achtziger. Wer insbesondere New Order und The Cure mag, kann sich sicher auch mit dieser Platte anfreunden. Die wunderbar-markante Stimme von Brown wurde etwas weiter in den Hintergrund gemischt, so dass der Sound offener und fluffiger wurde. Und auch auf dem Drittling »Georgia Gothic« gehen dem Duo nicht die Ideen aus. Musik zu machen, ist für die beiden Künstler offenkundig ein Heidenspaß. Kein Wunder also, dass das Album wahnsinnig energiegeladen ist und an allen Ecken und Enden groovt. Kay Engelhardt

Widowspeak

Widowspeak

The Jacket

The Jacket

Widowspeak sind gerade äußerst umtriebig. Nicht einmal zwei Jahre sind seit ihrem Meisterwerk »Plum« ins Land gegangen. Und schon warten sie mit »The Jacket« auf, welches nahtlos am letzten Album ansetzt. Musikalisch wie qualitativ. Sängerin und Songwriterin Molly Hamilton singt so schwelgerisch wie eh und je. Und ihr musikalischer Gefährte Robert Earl Thomas hat ein schier unerschöpfliches Reservoir an Gitarrenlinien, die auch Vorbild Neil Young begeistern dürften. Widowspeak bleiben ihrem verträumten, weltentrückten Sound treu. Auch auf ihrem sechsten Longplayer beschreiten sie ähnliche Wege wie The Velvet Underground, Cowboy Junkies und Yo La Tengo. Kürzlich sind Hamilton und Thomas übrigens wieder vom Land zurück nach New York City gezogen, wo sie bereits zu Beginn ihrer Karriere wohnten. Bei den Aufnahmen hat ihnen diesmal Homer Steinweiss vom renommierten Daptone-Label unter die Arme gegriffen. Einmal mehr rocken Widowspeak am überzeugendsten aus dem meditativen Mid-Tempo heraus. Erstaunlicherweise hält die Band weiter das hohe Niveau. Wir sind jederzeit bereit für einen Nachschlag. Kay Engelhardt

Warpaint

Warpaint

Radiate like this

Radiate like this

Nach sechs langen Jahren legen Warpaint mit »Radiate like this« ein neues Album vor, das man richtig laut aufdrehen sollte, um ganz vom wabernden Sound der betörenden Lieder eingehüllt zu werden. Schon im Opener »Champion« taucht man in das Meer aus dreamy Elektro- und Indie-Pop – die Lyrics bestätigen das: »I’m an ocean / breathing in and out.« Es ist ein ruhiges Album, wohltemperiert, könnte man sagen. Doch trotz des ausbleibenden Überschwangs wird es nicht fad. Der scheinbar spielerische Instrumenten-Einsatz, Rhythmuswechsel, gut dosierte Synthies und die sanften, tragenden Stimmen sorgen für genug Abwechslung. Dass die Platte im Homeoffice erstellt wurde, merkt man zu keiner Sekunde. Im treibenden »Hips« wechseln Emily Kokal (Gesang, Gitarre) und Theresa Wayman (Gesang, Gitarre) perfekt abgestimmt vom sanften Trällern zu bedrohlichem Sprechgesang, Stella Mozgawa führt mit stoischen Drums durch den Song. Das zarte »Like Sweetness«, das Jenny Lee Lindberg mit gefühlvollem Bass untermalt, knüpft an den Sound früherer Warpaint-Alben an, wirkt aber etwas konzentrierter. Es gibt auch nette Überraschungen: »Stevie«, ein gefühliger R’n’B-Song mit dezent eingesetzten Hintergrundvocals, schwebt irgendwo zwischen schmachtendem Neunziger-Kuschelrock-Kitsch und authentischer Gefühligkeit. Eine ähnliche Gratwanderung legt die etwas überladene Piano-Ballade »Trouble« hin. Das Beste kommt eigentlich zum Schluss, wenn das Album mit dem wunderschönen, mehrstimmigen »Send Nudes« endet. Lethargisch plätschert der Song mit sanfter Gitarrenbegleitung dahin, nur dann und wann von abrupt einsetzenden treibenden Drums und Synthie energetisiert. Fade out. Sarah Nägele

Kurt Vile

Kurt Vile

(watch my moves)

(watch my moves)

Kurt Vile braucht wahrlich nicht viel, um glücklich zu sein. Laut eigener Aussage genügt es ihm, morgens mit einer Tasse Kaffee am Fenster zu stehen und Sun Ra zu hören. Praktischerweise half auf dem neuen Album neben Cate LeBon auch gleich James Stewart vom Sun Ra Arkestra mit aus. Das Album »(watch my moves)« ist Viles Debüt auf Verve, einem Label, das traditionell mit Jazz in Verbindung gebracht wird. Der ebenso augenzwinkernde wie leicht kryptische Titel klingt eher nach Hiphop als nach Psychedelic-Pop. Aber keine Angst – der Musiker aus Philadelphia ist sich treu geblieben. Cooler Sprechgesang und pointierte Texte sind zwar bekanntlich eine Spezialität von Vile. Überhöhte Geschwindigkeit jedoch war noch nie sein Ding. Der König der Kontemplation verkündet seine Botschaften lieber auf sanfte Art. Nach wie vor schüttelt er unzählige grandiose Gitarrenlinien aus dem Ärmel und sediert uns mit wohltuenden Dauerschleifen. Sein neuntes Album rockt vielleicht etwas weniger als der letzte Longplayer »Bottle It In«. Dafür erweist es sich als ein tiefenentspanntes Werk wie aus einem Guss. Kay Engelhardt

Poliça

Poliça

Madness

Madness

»Madness« und »Rotting« sind die beiden dystopischen Eckpunkte des sechsten Studio-Albums der US-Indie-Popband Poliça: »Madness«, der Titel des Albums, und »Rotting«, die Vorab-Veröffentlichung, geben vor, in welche Richtung es thematisch treibt: Vergänglichkeit, die Akzeptanz, dass Dinge vergehen und damit auch unser Weltbild unter sich begraben. Poliça wären aber nicht Poliça, wenn sie uns nicht einen Rettungsanker zuwerfen würden, um uns vor dem Abdriften in Verstörung und Irrsinn zu bewahren. Dieser Rettungsanker heißt »Alive«. Als Opener bietet er die von Poliça gewohnten wabernden Synthie-Rhythmen und den beruhigend glasklaren Gesang von Channy Leaneagh. Kurz: »Alive« stimmt erst mal positiv und stärkt das emotionale Immunsystem für die kommenden Dystopien. Die Rhythmen und wabernden Sounds ziehen sich auch durch die folgenden sechs Songs, ungeachtet der besungenen Zerrissenheit. Fast scheint es, als wollte die Band, dass wir dagegen antanzen, Bass und Schlagzeug als Medizin gewissermaßen. Auch wenn sie mitunter unheilvoll daherkommen und sich schwer aufbäumen, um dann leicht auszuklingen. Die Schwere und das Dunkle, die sich mehr durch »Madness« ziehen als durch die vorigen Alben, sind aber nicht nur ein inhaltliches Thema, sondern auch musikalisches Spiel – ein Spiel mit All-overs, einem extra designten Produktions-Tool, das die Stimmung des Albums abrundet. Kerstin Petermann

Florence + The Machine

Florence + The Machine

Dance Fever

Dance Fever

»Dance Fever« – Tanzwut. In dem Titel steckt eigentlich alles, was das fünfte Studioalbum von Florence + the Machine zu bieten hat: Manie, Ekstase, Hingabe, Selbstaufgabe, Euphorie – aber auch Drama und Tragödie. Denn der – im Deutschen manchmal auch Veitstanz lautende – Begriff ist die alte Bezeichnung für die Nervenkrankheit Chorea Huntington und beschreibt Symptome wie unwillkürliche Zuckungen. Eine grausame Erkrankung, die besonders im Mittelalter stark stigmatisiert und verteufelt wurde. Ganz nebenbei deutet der alte Begriff des Titels also auch das Mystische des Mittelalters an, das sich wie der bekannte rote Faden durch die Gestaltung des Albums zieht. Es findet sich in den Coverbildern des Albums und der Singles wieder: Florence Welch ist da als mittelalterliche Monarchin zu sehen, überschrieben mit dem Titel »King«, der Name einer der Singles. In denselben Kostümen taucht sie auch in den zugehörigen Videos auf – womit der rote Faden Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet. Florence Welch will das Ganze selbstverständlich auch als feministische Ansage für unsere heutige Gesellschaft verstanden wissen. Und auch der Entstehungsprozess ist tief mit der aktuellen (Pandemie-)Lage verbunden: Nicht nur, dass die Tanzwut auch in pandemischen Schüben aufgetreten ist, die Aufnahme des Albums musste sich den Kontaktbeschränkungen beugen und verschoben werden. Fast schon ein bisschen unheimlich, wie sich hier gestalterisch und inhaltlich ein Kreis schließt. Mehr als je zuvor ist ein Album von Florence + the Machine deshalb als ein Gesamtkunstwerk aus bildnerischer und musikalischer Gestaltung sowie dessen Inhalt zu verstehen. Und wenn man all das ignorieren und sich einfach ekstatisch den Melodien des klaren Gesanges und den unwiderstehlichen Rhythmen hingeben würde, käme man dennoch der Tanzwut ganz nah. Kerstin Petermann