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Rezensionen

Blond

Blond

Ich träum doch nur von Liebe

Ich träum doch nur von Liebe

Blond haben es drauf, den aktuellen feministischen Diskurs in humorvollen Party-Bangern zu verhandeln, wie sie schon auf ihren beiden Alben »Martini Sprite« und »Perlen« gezeigt haben. Auf »Ich träum doch nur von Liebe« perfektionieren die drei aus Chemnitz das Ganze noch einmal. So geht es in »Ich wär so gern gelenkiger« nicht nur darum, wie absurd lange es gedauert hat, bis die Wissenschaft die Klitoris entdeckte, sondern auch um den Wunsch, sie gerne selbst lecken zu können. Auch »So hot« erzählt nicht einfach nur von sexueller Lust, sondern von den Gefahren des Datings, in die sich junge Frauen begeben, wenn sie mit Männern mitgehen. In »Bare Minimum« singt Bassist und Keyboarder Johann Bonitz erstmals einen ganzen Song, der sich darüber lustig macht, dass bei Männern schon die kleinste Geste reicht, damit sie als geiler Ally abgefeiert werden. Kapitalismuskritik haut die Band als Ode ans Klauen an der SB-Kasse heraus, unterlegt mit Bumm-Bumm-Beats. Die bewegendsten Songs sind »Fliederbusch« über das eigene Versagen in einer guten Freundschaft und »16 Jahr, blondes Haar«, der endlich mal klarmacht, dass es nicht okay ist, als älterer Typ Teenagerinnen abzuschleppen. Bei Blond klingt das alles selbstverständlich, logisch und macht trotzdem jede Menge Spaß. Große Popsongs mit großen Rock-Gesten – nicht nur für Blondinators. Juliane Streich

C.A.R.

C.A.R.

Valonia

Valonia

Dichte Wälder, Felsformationen, ausgedehnte Küsten und endlose Steppen: Mit »Valonia« entwirft das Kölner Quartett C.A.R. einladende, ausgedehnte Klanglandschaften. In zehn Postkarten gleiten sie durch diese pittoreske Szenerie hinein in futuristische Soundscapes. Die Musik lebt dabei vom Kollektivgedanken. So stößt die in Berlin lebende Griechin Evi Filippou mit Marimba und Vibrafon zur Reisegesellschaft und die belarussische Künstlerin Oxana Omelchuk lässt ihr Theremin vibrieren und analoge Synthesizer über den Sound der Band schweben. Am Ende singt der aus Istanbul stammende Elif Dikeç sogar von Gärten und Geistern. Dazu gesellen sich Saxofon, Wurlitzer, Bass und ein treibendes Schlagzeug. Wie auf den früheren Alben der Band ist der Krautrock von Neu! und Can hier Ausgangspunkt, driftet auf dem siebten Album aber verstärkt in Richtung Jazz. Das erinnert mal an die Berliner Formation Contriva, mal an den Space-Pop der Franzosen Air oder an Jason Swinscoes Cinematic Orchestra, hier und da gar an Christian Bruhns legendären Soundtrack zur Serie »Captain Future«. Dazwischen schälen sich Popminiaturen aus den Synth-Arpeggios über treibende Beats, wie etwa im Highlight des Albums, dem infektiösen »Debo-See«. Jedes der vier Bandmitglieder steuert dazu Klangideen bei, die das Album in musikalische Nebenstraßen führen. Ein nie vorhersehbarer, versatiler Trip, von dem man im höchsten Maße bereichert heimkehrt. Lars Tunçay

Lael Neale

Lael Neale

Altogether Stranger

Altogether Stranger

»Altogether Stranger« ist das mittlerweile vierte Album der aus Virginia stammenden Künstlerin Lael Neale, die seit über einer Dekade in Los Angeles ihre Wahlheimat gefunden hat. Trotz einer Laufzeit von nur 32 Minuten bieten die neun Stücke eine erstaunliche musikalische Vielfalt, die von Garage-Rock bis hin zu reduzierten Omnichord-Meditationen reicht. Das geniale Instrument Omnichord kennen wir bereits von ihrem ersten Sub-Pop-Album »Acquainted with Night« von 2021, ein echtes Lo-Fi-Kleinod. »Altogether Stranger« kommt vergleichsweise üppig produziert daher und ist musikalisch wesentlich heterogener. Ihre derzeitige Lesart von Drone-Pop bewegt sich zielsicher zwischen Kraftwerk und The Velvet Underground. Die neue LP ist obendrein ein eindrucksvolles Zeugnis ihrer Verbindung zu L.A. – die Stadt fungiert nicht nur als Kulisse, sondern geradezu als lebendiger Charakter, der das gesamte Album durchdringt. Das allem zugrunde liegende Thema ist die Entfremdung des großstädtischen Menschen. Der außerirdische Charakter wird durch Neales glasklare Stimme und die atmosphärischen Klanglandschaften des Produzenten Guy Blakeslee verstärkt. Selten hat das Gefühl der urbanen Einsamkeit so viel Spaß gemacht. Kay Engelhardt

Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen

Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen

Egg Benedict

Egg Benedict

Hamburg, Münster, Köln, Hannover, Dortmund, Göttingen, Stuttgart, Mainz, Karlsruhe, München, Nürnberg, Flensburg, Bremen und sogar noch mal Hamburg und Berlin. Geht’s noch? Kann mal bitte jemand die Gentlemen-Spieler aus Hamburg nach Leipzig booken? Denn natürlich ist deren neues Album doch vor allem Grund, diese Band mal wieder live zu erleben, die so dermaßen unprätentiös und so dermaßen vergnügt auf der Bühne steht, dass einem nicht mal im Traum ein Wort wie »unprätentiös« einfallen würde. Eher so was wie »erfrischend hemdsärmelig«. Unvergessen, wie Carsten Friedrich, der große ehrliche Mann vor Jahren in der Ilse verkündete, die Band sei im ICE angereist und habe Nicnacs an Bord gekauft »wie Stars«. Ohne die Liga der gewöhnlichen Gentlemen gäbe es auch keinen kreuzer-Sportsong des Monats. Sie sehen schon: im Grunde genommen fünf von fünf Schiffchen der Herzen. Und natürlich hat auch die neue Platte Titel, wie sie nur diese Band schreiben kann: »Ist Gunther da?« und »Paare vorm Kino« zum Beispiel, viel mehr aber noch »Hedy Lamarrs siebter Mann«, der sich um jene Schauspielerin dreht, die – 1914 in Wien geboren – im Zweiten Weltkrieg für die Alliierten eine Funkfernsteuerung für Torpedos erfand und sechsmal verheiratet war. Dass so jemand Stoff für einen Popsong ist, weiß man nur in dieser Liga – Grüße an Werner Enke. Aber trotzdem: Früher war mehr Lametta. Benjamin Heine

Billy Nomates

Billy Nomates

Metalhorse

Metalhorse

Schon mal im Spiegelkabinett verloren gegangen? Dutzende Spiegel, die alle ein anderes Bild von dir zeigen? Und: »If they can see us, that’s the Test.« So singt Tor Maries aka Billy Nomates in »The Test«, der ersten Single ihres dritten Albums »Metalhorse«. Denn vor irgendeinen Test stellt uns das Leben doch jeden Tag: Komm ich finanziell klar? Erfülle ich die Anforderungen des Alltags? Verstehe ich mich mit den Leuten? Und darin liegt vielleicht der schwerste Test: Wenn ich mich anderen so zeige, wie ich wirklich bin und sie mich so sehen, wie ich wirklich bin – akzeptieren sie mich? Mögen sie mich? Jetzt singt Billy Nomates aber nicht nur von Beziehungen und persönlichen Dilemmas. In den elf Songs thematisiert sie das globale Chaos in der Welt, Krisen und Unsicherheit im Allgemeinen. Wie ein Wirbelsturm toben die Nachrichten um sie herum, ziehen sie hinein und werden zum Teil ihres Lebens. Und wenn sie versucht, herauszukommen, stößt sie nur auf verzerrte Fratzen ihrer selbst. Wie im Spiegelkabinett. »Metalhorse« ist ihr neuer Versuch, dem zu entkommen: Billy Nomates tanzt mit dem Sturm. Mit kräftigen Melodien und explodierenden Klavierarrangements wirft sie sich in den Sturm. Sie kämpft nicht mehr gegen ihn, sondern mit ihm. Was auf ihren ersten beiden Alben »Billy Nomates« und »Cacti« noch rau und nach Punk klingt, ist jetzt getragen von Soul und Blues. Ihre Kraft steckt sie nun in Harmonien und Melodien. Das Album ist nicht mehr geprägt von collagenhaft arrangierten Drums und Sprechgesang, es wird gehalten von Bass und Schlagzeug der Band, mit der Nomates erstmals aufgenommen hat. So zeigt sich die Musikerin aus Bristol nicht nur als die hochemotionale und engagierte Künstlerin, als die sie sich schon auf den ersten beiden Alben offenbarte, sondern auch als technisch und musikalisch versierte Sängerin. Kerstin Petermann

Anika

Anika

Abyss

Abyss

Knapp 50 Jahre ist es mittlerweile her, dass David Bowie sich in den Berliner Hansa Studios niederließ und dort mit seinen beiden Alben »Heroes« und »Low« eine abermalige musikalische Neuausrichtung vollzog. In ebenjene »heiligen Hallen« hat sich vor Kurzem auch Annika Henderson aka Anika eingefunden, und auch sie unterstreicht mit dem nun veröffentlichten Album »Abyss« ihren Ruf als Pop-Chamäleon. Waren ihre beiden vorangegangenen Alben von elektronisch-folkloristischem Dark-Noir-Pop (»Anika«) und Trip-Hop-lastigen, flächigen Klanglandschaften (»Changes«) geprägt, setzt sie diesmal auf ein Konzept, das selbst Bowie 1976 als ganz schön retro empfunden hätte: Denn Synthesizer sucht man dieses Mal vergeblich, stattdessen dominieren verzerrte Gitarren, straighte Drums und abgründig wummernde Bässe das Geschehen. Einzig Anikas charakteristische, zumeist mehr sprechende als singende Alt-Stimme erinnert vage an ihren Backkatalog. So frönt sie in Songs wie »Hearsay«, »Walk away« oder »Oxygen« einem Sound, der mal an Sonic Youth und mal an The Breeders erinnert. Das ist einerseits natürlich alles andere als neu, andererseits aber trotzdem verdammt aufregend. Luca Glenzer

Das Kinn

Das Kinn

Ruinenkampf

Ruinenkampf

»Toben Piel geht gern auf Friedhöfe. Orte der Ruhe und Idylle.« – Mit diesen Worten beginnt der Pressetext zu Piels aka Das Kinn erstem Studio-Album »Ruinenkampf«. Allerdings: Nach Ruhe und Idylle klingt hier erst mal gar nichts. Wer sich vorher schon mit dem Schaffen des Ein-Mann-Elektro-Punk-Projekts beschäftigt hat, wird kaum überrascht sein. Schon auf den früheren EPs hat Piel den düsteren Post-Punk und maschinellen Synthie-Sound der Achtziger übernommen und daraus seine eigenen übersteuerten, verschobenen und äußerst faszinierenden Soundlandschaften gebaut. Daran anschließend klingt nun auch »Ruinenkampf«, als hätten sich DAF mit Steroiden vollgepumpt und ihre Musik an der Hantelbank komponiert. Oder als hätten Kraftwerk ihr Debüt-Album im Schützengraben unter feindlichem Beschuss aufgenommen. Das Ganze hat etwas sehr Brachiales und Martialisches, nicht zuletzt wegen Piels bissigem und parolenhaftem Sprechgesang. Mit Textfetzen, die bestens in expressionistischen Gedichtbänden stehen könnten, aber genauso gut in unsere aktuellen zwanziger Jahre passen: »Bizeps Trizeps, alle rüsten auf« oder »Volk, Scheiße, Erlösung«. Das könnte nun Gefahr laufen, voreilig als stumpfe Aggro-Elektronik oder plumper Testosteron-Post-Punk abgetan zu werden – was dem Album allerdings Unrecht tun würde. Denn trotz allem sind die Stücke sehr durchdacht arrangierte, zuweilen filigran gearbeitete Klangkunstwerke, mit verspielten Synthies, komplexen Drum-Machine-Beats und – wie im als Verschnaufpause äußerst wichtigen Stück »Souterrain« – sogar mit romantischen Saxofon-Melodien. Und die verbreiten dann zumindest kurz doch noch so was wie Ruhe und Idyll. Yannic Köhler

Viagra Boys

Viagra Boys

Viagr aboys

Viagr aboys

Spätestens jetzt, mit dem Release des Albums »Viagr aboys«, wird klar, dass die Viagra Boys nicht in irgendeinem unterirdischen Musik-Laboratorium in Stockholm sitzen und akribisch ihre künftigen Konzeptalben gestalten. Nach der Veröffentlichung von »Cave World« im Jahr 2022 murmelten nämlich diverse arbeitslose Repräsentantinnen und Repräsentanten des Musiknerdtums, dass dies den Ton für ihre kommenden Alben setzen würde. ABER NEIN, NICHTS DAVON – ganz im Gegenteil. Auf dem vierten Album der Boys geht es nicht mehr um die Weltansicht von Querdenkern wie zuletzt, sondern um den Dosenbier-Humor von Sebastian Murphy: voller Frühstückszigaretten, Hunde-Anthropomorphismen, Leichenromantik und der Sorge um die Erhaltung der Gesundheit bei so viel Party. Etwas nach innen gerichtet? Total! Und zwar sowohl psychisch als auch physisch. Keine Metapher der Welt wird das je besser einfangen als die Tatsache, dass der Leadsänger gleich im Gesangsstrom des Openers »Man made of Meat« aufstößt – und dann einfach souverän weitermacht. Eine Tat, die laut Youtube-Fans Geschichte schreibt und offensichtlich nach Punk schreit. Punk als Attitüde wohnt dem Ganzen sowieso inne und macht es, kombiniert mit new-waveesken Harmonien, Dub-Grooves, Upbeats, einer ordentlichen Portion Rock’n’Roll, Electronica, Indie und Blues zu einem vielfältigen Album. Das Ding bangt so hart und auf so vielen Ebenen, dass man beim Hören auf alles kommt: Tanzen, Weinen und sogar Schreien (aber nur, wenn man’s echt ernst meint). Libia Caballero Bastidas

Mitra Kotte

Mitra Kotte

Herstory (A Century of inspiring female Composers)

Herstory (A Century of inspiring female Composers)

Durchlässigkeit, Klarheit und Virtuosität kennzeichnen das Spiel der österreichischen Pianistin Mitra Kotte, die insbesondere für die Interpretation klassischer Werke bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Auf »Herstory« präsentiert sie nun Werke von Komponistinnen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In diesem Querschnitt durch eine weibliche Musikgeschichte entwickeln die vorgestellten Werke verschiedener Komponistinnen-Generationen, ausgehend vom virtuosen Salonstück bis hin zu spätromantischer und moderner Tonsprache, immer mehr Individualität und gewinnen zunehmend an Interessantheit. Während die Stücke von Louise Farrenc (1804–75) und Emilie Mayer (1812–83) noch recht unterkühlt und korrekt, ganz im klassischen Duktus eingespielt sind, atmen bereits die ersten Töne von Marie Jaëlls (1846–1925) Impromptu und später auch Cecile Chaminades (1857–1944) Sonate mehr Freiheit. Hier erhält man eine Ahnung von Mitra Kottes Gestaltungsvermögen, auch wenn alles immer noch recht gezügelt und in geordneten Bahnen läuft, was manchmal mehr Überschwang oder Beweglichkeit im Tempo vertragen könnte. Die auf Übertransparenz ausgerichtete Aufnahmetechnik kommt einem spätromantischen Klangbild nicht entgegen, das mehr Klangmischung und Flächigkeit vertragen würde. Sofort in den Bann zieht Kotte mit dem eindrucksvoll dunkel schreitenden Beginn von Nadia Boulangers (1887–1979) »Vers la Vie nouvelle« aus dem Jahr 1918. Zu den ausgesprochen interessanten Kompositionen gehören insbesondere Vítězslava Kaprálovás (1915–40) »April Preludes op.13« und die maschinenhafte Toccata von Maria Hofer (1894–1977) aus dem Jahr 1947. Anja Kleinmichel

Horsegirl

Horsegirl

Phonetics on and on

Phonetics on and on

Vergleichsweise kurz währte die allgemeine Begeisterung um Noise-Pop-Bands wie The Breeders, Pixies oder Pavement, die aus den späten Achtzigern in die frühen neunziger Jahre hinüberschwappte. Dass diese Phase der Musikgeschichte dennoch ihre Spuren hinterlassen hat, ist insbesondere in den vergangenen Jahren wieder deutlich spürbar gewesen: Neben Bands wie Soccer Mommy, Snail Mail oder Slow Pulp ist das US-amerikanische Trio Horsegirl ein gutes Beispiel dafür. Dass die drei nach ihrer Gründung 2019 zunächst Songs ihrer Lieblingsband Sonic Youth coverten, hört man insbesondere ihrem 2022 erschienen Debüt »Versions of Modern Performance« an. Nun, knapp drei Jahre und einen Umzug von Chicago nach New York City später, folgt mit »Phonetics on and on« das Zweitwerk des Trios. Doch anders als beim Vorgänger standen dieses Mal eher Bands wie Yo La Tengo oder Stereolab Pate. Das macht sich insbesondere an der stärkeren Präsenz cleaner Gitarren bemerkbar. Dadurch wird offenbar, was man auf dem Debüt bereits in Ansätzen erahnen konnte: Nämlich, dass die Songs von Horsegirl im Kern astreine, bewusst verhinderte Folknummern sind. Stücke wie »In Twos«, »Well I know you’re shy« oder »Switch over« hört man dabei nicht deshalb so gerne, weil man sie so oder so ähnlich vorher noch nie gehört hätte – das Gegenteil ist der Fall. Was der Band aber tatsächlich gelingt – und dahingehend war der mediale Hype um Horsegirl vor drei Jahren nicht unberechtigt –, sind Songs, die sich bereits nach einmaligem Hören tief in die Gehörgänge einnisten. Das allein ist eine Qualität, die nur selten erreicht wird. Einen Preis für das innovativste Album des Jahres wird die Band damit zwar nicht einfahren. Doch einen für das beste vielleicht schon. Luca Glenzer

Σtella

Σtella

Adagio

Adagio

Hinter Σtella verbirgt sich Stella Chronopoulou. Der Projektname wird ungeachtet des griechischen Sigmas genau wie der bürgerliche Vorname der Künstlerin ausgesprochen. Zu ihrer griechischen Heimat hat sie ein ambivalentes Verhältnis. Und weil es abgesehen von rar gesäten Ausnahmen nur sehr wenige muttersprachliche Export-Schlager aus dem Mittelmeer-Land gibt, war Chronopoulou früh klar, in englischer Sprache zu texten, um auch international gehört zu werden. Auf ihrem insgesamt fünften Album – dem zweiten auf dem namhaften Sub-Pop-Label – singt Σtella nun dennoch erstmals zwei Lieder in ihrer Muttersprache. Ähnlich wie das letztes Album »Up and away« klingt »Adagio« schwer nach Urlaub. Chronopoulou mixt versiert 80s-Synth-Pop mit Tropicália und Yé-Yé und teleportiert uns entspannt an den Strand. Obendrein findet sich mit »Can I say« auf »Adagio« eine als Liebeslied getarnte, äußerst charmante Ode an das gestohlene Fahrrad der Musikerin. Fans von Nouvelle Vague und The Saxophones sollten hier hellhörig werden. Kay Engelhardt

Captain Planet

Captain Planet

Reste

Reste

Mit dem Album »Come on, Cat« haben Captain Planet 2023 das erste Mal seit 2016 wieder von sich hören lassen. Am 25. April folgt nun via Zeitstrafe die EP »Reste«. Benannt wurde sie so, weil darauf Überbleibsel der Aufnahmesessions zum letzten Album Platz finden. Gitarrist Benni Sturm erklärt, das sei »ein bunter, kleiner Haufen von Sachen, die noch mal gesagt werden mussten. Dass das jetzt nicht alles total gut gelaunt ist, war ja abzusehen«. Am 7. März erschien mit »Staub« bereits die erste Auskopplung – und die vermittelt einen soliden Eindruck davon, was auf »Reste« zu erwarten ist: Emo-Punk voller Zeilen, die mitgeschrien werden wollen. Beispiel: »Ist es nicht komisch / Dass du jetzt brennst? / Ist es nicht komisch / Wer kann so schlafen?« Jan Arne von Twisterns Stimme scheint ständig kurz davor, sich zu überschlagen. Dazu eine kratzig-schrammelige Instrumentierung – melodisch, aber nicht beliebig. Damit erfinden sich Captain Planet nicht neu, aber warum sollten sie das nach über 20 Jahren Bandgeschichte mit unzähligen loyalen Fans auch müssen? Vinyl-Fans können sich auf eine bunte, einseitig bespielte 12“ aus recyceltem Material freuen – jede davon ein Unikat. Laura Gerlach

Görda

Görda

Schattengewächs

Schattengewächs

»Schattengewächs« heißt die zweite EP der beiden Leipziger Musikerinnen und langjährigen Freundinnen Annelie Weißel und Sophia Günst, die als Band Görda heißen. Die fünf Lieder handeln unter anderem von Depressionen, den Tücken zwischenmenschlicher Kommunikation und der Akzeptanz des Wandels im Leben: So verhandelt »Innen ist dicht« die Überforderung des Individuums mit der Gesellschaft und ihren Erwartungen. »Oh Boy« spielt hingegen als cleverer Perspektivwechsel mit den Phrasen und sexistischen Sprüchen, die sich Frauen im Nachtleben anhören müssen. Textlich assoziiert das Ohr direkt Judith Holofernes und Kleingeldprinzessin, die Reime wabern zuweilen wie im Rap und finden an teils unerwarteten Stellen zueinander – Sprachaffinität wird bei Görda großgeschrieben. Zwischen den Strophen ergießt sich die Musik, die zum Flanieren durch den sonnenbeschienenen Kiez ebenso einlädt wie zum entrückten Tanzen, zuweilen aus einem akustischen Füllhorn. Der Stimme gelingt es bei aller Akkuratesse und Ausdrucksstärke allerdings selten, ihren Coolnessfilter runterzuregeln und so fehlt leider hier und da die letzte emotionale Verbundenheit. Insgesamt sind die Musik und die Stimme meist leichter und beschwingter als die besungenen Themen, von denen überraschend viele in fünf Songs passen, ohne dabei zu erschlagen oder beliebig zu werden. Guter Beginn für die nächste Frühlingsplaylist. Martin Burkert

Squid

Squid

Cowards

Cowards

Der Stachel eines Skorpions in den Fingern einer Frau ziert das Cover von »Cowards« – und diese Platte sticht. Auf seinem dritten Album öffnet das wütende Quintett aus Brighton seinen Sound. Das vielzitierte Label Post-Punk greift hier zu kurz. Squid sind mit ihrem Ansatz näher an Black Country, New Road als an Fontaines D.C. Auch, weil Squid als Kollektiv arbeiten. Cello, Kornett, Trompete und Cembalo stehen im freien Zusammenspiel mit dissonanten Gitarrenlinien. Das grenzt mitunter an Progressive Rock, auch Jazz-Einflüsse kommen auf »Cowards« zur Geltung. Dazu croont Sänger und Schlagzeuger Ollie Judge alkoholgeschwängerte Texte über Mord und Apathie. »Ein großer Teil des Albums handelt von der Idee, schlafwandlerisch in einer Welt der Selbstgefälligkeit zu leben«, sagt Judge. »Cowards« ist abgründig und fordert die Zuhörenden. Die Auseinandersetzung mit den neun Mörderballaden ist aber mehr als bereichernd. Den bereits vor dem Release des 2023er Albums »O Monolith« entstandenen Songs verlieh die Band bei der anschließenden Promotour den letzten Schliff. Tortoise-Mastermind John McEntire mischte die Aufnahmen schließlich in Seattle ab. Herausgekommen ist ein höchst spannendes, wegweisendes Album für die exzellente Liveband, das sie im April endlich auf die Bühne bringt. Lars Tunçay

Die Heiterkeit

Die Heiterkeit

Schwarze Magie

Schwarze Magie

»Alles ist so neu und aufregend«, sang Stella Sommer im gleichnamigen Heiterkeit-Hit 2012. Das galt für das im gleichen Jahr veröffentlichte Debütalbum »Herz aus Gold« genauso wie für die weiteren drei Alben, die bis 2019 folgten. Nun, ziemlich genau sechs Jahre nach dem letzten Lebenszeichen, folgt »Schwarze Magie«. Und um es gleich vorwegzunehmen: Anders als den vier Vorgängern fehlt es diesem Album nahezu gänzlich an magischen Momenten. Das liegt vor allem daran, dass hier zwei zentrale Elemente fehlen, die bisher zur DNA der Band gehörten: Zum einen die sakral anmutende Alt-Stimme Sommers, die in der Vergangenheit jedes Vergleiches entbehrte. Stattdessen singt Sommer nun höher, nüchterner – und damit gewöhnlicher. Zum anderen fehlt den 13 Songs jegliches Wiedererkennungsmerkmal. Vergeblich sucht man nach Melodien und Hooks, die nach dem zweiten oder dritten Hören verfangen. Einzig in der intimen Dark-Noir-Ballade »Wenn etwas Schönes stirbt« blitzt für einen kurzen Augenblick das songwriterische Potenzial Sommers auf. Mit ihren vier vorangegangen Alben trotzt Die Heiterkeit der weitverbreiteten These, dass die Geschichte des Gitarrenpops längst auserzählt sei. Hört man »Schwarze Magie«, fängt man an, ihr Glauben zu schenken. Denn mit dem Album begibt sich die Band dahin, wo sich das Gros ihrer Zunft schon befindet: ins Mittelmaß. Luca Glenzer

Patricia Kopatchinskaja, Thomas Kaufmann & Camerata Bern

Patricia Kopatchinskaja, Thomas Kaufmann & Camerata Bern

Exile

Exile

Mit ihrem neuen Album widmet sich die Geigerin Patricia Kopatchinskaja der Musik von Komponisten, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen. Bereits mit dem ersten Titel, der traditionellen Volksweise »Kugikly«, zeigt Kopatchinskaja Experimentierfreude. Gemeinsam mit der Camerata Bern und dem Cellisten Thomas Kaufmann gelingt es ihr, eine eindringliche Atmosphäre zu schaffen, die Schmerz und Einsamkeit des Exils in vielen Facetten erlebbar macht. Das Album entfaltet sich als vielschichtige Reise durch die Gefühlswelten von Komponisten wie Alfred Schnittke, Ivan Wyschnegradsky oder Eugène Ysaÿe. Kopatchinskajas Virtuosität erstrahlt besonders in Andrzej Panufniks Violinkonzert, das technische Brillanz mit emotionaler Tiefe verbindet. In drei Sätzen entfaltet sich die Geschichte des exilierten polnischen Komponisten, seine Suche nach einer neuen musikalischen Sprache und der damit verbundene Schmerz. Doch es sind nicht nur die virtuosen Momente, die »Exile« auszeichnen. Die intime Klangsprache der Werke, meisterhaft interpretiert, vermittelt die Zerrissenheit und Sehnsucht der Komponisten, deren Musik von ihrer entwurzelten Existenz geprägt ist. Für Kopatchinskaja selbst ist dieses Thema spürbar persönlich – besonders in der moldawischen Volksweise »Cucuşor cu pană sură«. »Exile« ist mehr als ein Album – es ist ein Plädoyer für Empathie und eine Hommage an die Kraft der Musik, Verlust und Hoffnung zugleich auszudrücken. Isabella Guzy

Damon Locks

Damon Locks

List of Demands

List of Demands

»The Doors are locked / Exits are blocked / We have found ourselves in an impossible Situation« – Die ersten Worte könnten eine direkte Reaktion auf die Wiederwahl Donald Trumps sein. Aber sie entstammen der Analyse einer gesellschaftlichen Situation, die schon länger schwelt und nach wie vor brennt – und das nicht nur in den USA. Damon Locks, Musiker, Dichter, Educator, trägt sie mit einer didaktischen Ruhe vor. Auch wenn die klugen Texte auf »List of Demands« finster sind, strahlen sie keine Hoffnungslosigkeit aus. »The People in Power are no longer controlling our Lives«, heißt es nur kurz darauf in einem Sample. Locks, der zunächst als Frontmann der legendären Punkband Trenchmouth shoutete, später als Leiter des Musikkollektivs Black Monument Ensemble in Erscheinung trat, aber auch mit inhaftierten Künstlern in seiner Heimatstadt Chicago arbeitete, vereint all das auf seinem ersten Soloalbum. Er loopt Jazzsamples, schneidet politische Reden dazwischen, mischt das mit Livemusik von seinem Weggefährten, dem Kornettisten Ben LaMar Gay, und anderen – und trägt dazu seine Spoken Words vor, die an die Beat-Poesie der Spätsechziger ebenso erinnern wie an die Reden der Black-Power-Aktivisten Stokely Carmichael und Angela Davis. Das wirkt hochgradig hypnotisch und sophisticated und trotzdem zugänglich und anschlussfähig, weit über die schwarze Community hinaus. Lars Tunçay

Rose City Band

Rose City Band

Sol y Sombra

Sol y Sombra

Wenn Sänger und Gitarrist Ripley Johnson nicht gerade als eine Hälfte des Projektes Moon Duo unterwegs ist, widmet er sich mit seinem anderen Projekt Rose City Band der psychedelischen Country-Musik. Längst befindet sich die Band mit dem floralen Namen wirklich knietief im Country. Und das nicht erst, seitdem Mitstreiter Barry Walker regelmäßig mit seinen Pedal-Steel-Soli für Entzücken sorgt. Chefkoch Johnson macht in Interviews keinen Hehl daraus, dass seine Stimmung und damit die Musik stark von den Jahreszeiten beeinflusst wird. Während etwa die ersten beiden Alben ausgewiesene Sommerplatten waren, geht es auf »Sol y Sombra« verhältnismäßig herbstlich-melancholisch zu. Das angenehm Velvet-Undergroundige »Wheels« und die fluffig im Mid-Tempo groovenden Stücke »Open Roads« und »Radio Song« bilden da erwähnenswerte Ausnahmen. Ansonsten sind die ausufernden Ausflüge, die ebenfalls reichlich Raum für Orgel- und Gitarren-Soli lassen, leicht düster, also mehr Sombra als Sol, was aber dem positiven Gesamteindruck keinen Abbruch tut. Schließlich gehört das Schattige ebenso zum Leben. Kay Engelhardt

Dennis Bovell

Dennis Bovell

Sufferer Sounds

Sufferer Sounds

Dennis Bovell, geboren auf Barbados und aufgewachsen in London, hat eine unglaubliche Bandbreite als Produzent aufzuweisen: vom experimentellen dubby Post-Punk mit The Slits, The Pop Group, Saâda Bonaire oder gen Gitarrenpop schwenkend mit Orange Juice, über den Afro-Funk von Fela Kuti bis zu jenem klassischen UK-Reggae der Jahre 1976–80, inklusive des ach so süßen Bovell-Gezüchts namens »Lover’s Rock«. Genau diese Periode deckt auch die wunderbar groovende Sammlung »Sufferer Sounds« ab. Der Titel verweist dabei auf das Jah Sufferer Sound System, mit dem er jener aufgewühlten Tage (Punk-Durchbruch, National-Front-Aufschwung, Notting Hill Carnival Riots) aktiv war und nicht zuletzt eine direkt auf den Dancefloor zielende Teststation für die eigenen Produkte hatte. Sei es für seine Bands Matumbi, African Stone, Young Lions und die Linton Kwesi Johnson begleitende Dub Band oder mit dubwise federnden Riddims für Janet Kay, Pebbles, Dennis Curtis oder Errol Campbell. Killer-Selection, wie Soundbwoys sagen würden. Alexander Pehlemann

Memory Pearl

Memory Pearl

Cosmic-Astral

Cosmic-Astral

»Man kann es sich wie eine Weltraumreise vorstellen, bei der dich jedes Stück weiter aus dir selbst heraus und tiefer in eine kosmische Sphäre trägt« – so Moshe Fisher-Rozenberg aka Memory Pearl über »Cosmic-Astral«, sein neues Album. Für die Reise in das innere Universum bedient sich der Multiinstrumentalist und Produzent, der auch als Psychotherapeut tätig ist, eines Musikprogramms aus den siebziger Jahren. Die von ihm neu interpretierte Musik wurde damals von Psychotherapeuten in Kombination mit LSD eingesetzt. Die bewusstseinserweiternde Substanz sollte nicht nur bei der Sinnsuche unterstützen, Patientinnen und Patienten könnten, laut dem in den Sechzigern und Siebzigern wirkenden Psychologen Timothy Leary, im Rausch auch Konditionierungen überwinden. Weitaus interessanter als für Medizinerinnen und Mediziner war die heilende Wirkung der Droge jedoch für Künstlerinnen und Künstler, so auch für Fisher-Rozenberg. »Cosmic-Astral« klingt – ohne LSD (die Autorin verzichtet auf eine vergleichende Analyse) – unweigerlich trippig: Gediegen verschmelzen die Synthesizerklänge mit Improvisationen von beispielsweise Joseph Shabason am Saxofon, Moritz Fasbender am Klavier oder Alex O’Hanley an der Gitarre. Und formen immer neue kaleidoskopische Klanggefilde. Jene sind vergleichbar mit dem Sound von Tangerine Dream in den Neunzigern und entfalten mindestens innere Ruhe und Entspannung. In diesem Zustand lohnt es sich, das Album alsbald erneut zu starten, um in der Wiederholung immer neue Facetten der Musik und vielleicht auch im inneren Universum zu entdecken. Claudia Helmert