anzeige
anzeige

Rezensionen

Florian Baranyi/Monika Lustig & Valerio Curcio

Florian Baranyi/Monika Lustig & Valerio Curcio

Pier Paolo Pasolini. Eine Jugend im Faschismus. Bad Herrenalb: Edition Converso 2022. 127 S., 18 € & Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini. Aus dem Italienischen von Judith Krieg. Bad Herrenalb: Edition Converso 2022. 184 S., 20 €

Florian Baranyi/Monika Lustig & Valerio Curcio.

Im Juni 1942 reist der zwanzigjährige Pasolini als Teil einer faschistischen Jugendorganisation nach Weimar. Dort unterhält er sich vor allem über Literatur, lässt die nationalsozialistische Propaganda über sich ergehen und schreibt im Anschluss einen kurzen Bericht: »Italienische Kultur und europäische Kultur in Weimar«. Dieser Text, nun zum ersten Mal ins Deutsche gebracht, bildet den Kern eines schmalen Aufsatzbandes zu Pasolinis Aufwachsen im italienischen Faschismus. Das Anliegen: Pasolini in seinen Widersprüchen zeigen, in »seiner Zerrissenheit« und jenseits »zurechtgezimmerter Bilder«, wie die Autorin Monika Lustig formuliert. Nur leider überzeugt das Ergebnis nicht. Zwar gibt es lesenswerte Abschnitte zu Pasolinis Vater, einem Militär und Anhänger Mussolinis, zu Pasolinis intellektueller Entwicklung und auch zu den deutsch-italienischen Beziehungen jener Zeit, alles in allem aber bleibt die Darstellung flach, geprägt von Wiederholungen und auch von Pathos. Zudem macht Pasolinis kleiner Weimar-Aufsatz nicht viel her. Ihn als »Kern seines Antifaschismus« zu interpretieren, scheint überzogen. Und die These von Co-Autor Florian Baranyi, Pasolini übe sich in dem Aufsatz in einer Art von »Double speak«, bleibt Behauptung. Anschaulicher und klarer dagegen ist das Buch von Valerio Curcio über Pasolinis Liebe zum Fußball, die erst einmal erstaunt: Pasolini, ewiger Verächter von Massenkultur und Kapitalismus, ein Fußballfan? Doch in seiner Begeisterung für den Sport kommt er einem so nah wie selten. Curcio schildert Pasolinis lebenslange Bewunderung für die Spieler des FC Bologna, seine jugendliche Spielwut im italienischen Friaul, auch eine legendäre Partie zwischen den Casts von Pasolinis »Salò« und Bernardo Bertoluccis »1900« – wobei Pasolini mitspielte, während Bertolucci sich drückte. Wie nebenbei beschreibt Curcio wichtige Stationen in Pasolinis kurzem Leben und auch die Rolle des Fußballs in seinem literarischen und filmischen Werk. (...) Maurus Jacobs

Bertram Reinecke

Bertram Reinecke

Geschlossene Vorgänge. Über einige biografische Artefakte etc. Schupfart: Engeler Verlag 2022. 116 S., 12 €

Bertram Reinecke.

War es wirklich Ikaros’ Übermut oder führten technische Unzulänglichkeiten zu seinem Absturz? Geheimnisvoll sind Bertram Reineckes »biografische Artefakte«, so der Untertitel, allemal. Zwei Plädoyers versuchen im antiken Athen Licht in die technischen Umstände um den Tod des mythischen Ikaros zu bringen (weswegen wir ihn nicht lateinisch Ikarus nennen wollen). Ein Brief spekuliert Anfang des 19. Jahrhunderts über die Herkunft zweier Gedichtfragmente. Und die Geschichte über die rätselhaften »Hüter der Steine« auf der Insel Rügen stellt sich, das eröffnet das Nachwort, als rekonstruierter Lebenslauf aus Ende des 20. Jahrhunderts entwendeten Akten heraus. Sind diese »Hüter der Steine« wirklich ein geheimer Orden? Historisch situiert verhandelt der Band zeitgemäße Themen, etwa Verschwörungstheorien oder das wiederkehrende Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen: »Um der Väter und Söhne willen, die folgen werden: Nicht das Fliegen war schlecht […], sondern dass ein Vater seinen Sohn nicht in die Verantwortung entließ.« Und wo es um die Tradierung des Steingeheimnisses geht, erneut: »Lernt man die ersten Fakten schon im kindlichen Spiel, nimmt einen der Vater in der Jugend irgendwann beiseite, wie er andernorts dem Sohn einige Ratschläge, die Frauen betreffend, mitgeben mag, die selbst die Mutter besser nicht hört?« Berichten Menschen bei generationellen Fragen heutzutage meist persönlich, so schreibt Reinecke Parabeln. Jedem Trend hinterherzuhinken, langweilt zweifelsohne. Ob des virtuosen Nachahmens historischer Sprachgewohnheiten hängt die Gegenwart jedoch in der Luft. Je mehr wir uns dieser Gegenwart nähern, umso mehr drohen wir – eingeschlossen in kleine Textkapseln – aus der Zeit zu fallen wie Ikaros vom Himmel. Liegt das an der Technik oder an mangelnder geistiger Freiheit? Die geschlossenen Vorgänge bleiben insgesamt verstörend geheimnisvoll. Fabian Schwitter

Anna North

Anna North

Die Gesetzlose. Aus dem amerikanischen Englisch von Sonia Bonné. Eichborn: Frankfurt/Main 2022. 335 S., 22 €

Anna North.

Eine Grippewelle rafft in Amerika Ende des 19. Jahrhunderts viele Menschen dahin, die Unfruchtbarkeit unter den Hinterbliebenen ist hoch. Entsprechend groß ist der gesellschaftliche Druck, der auf Frauen im gebärfähigen Alter lastet. Auch Ada bekommt ihn zu spüren. Mit siebzehn heiratet sie und ist eigentlich guter Dinge, doch die ersehnte Schwangerschaft lässt auf sich warten. Das Misstrauen der Menschen um sie herum steigt von Monat zu Monat, bis sie schließlich in den Verdacht der Hexerei gerät und fliehen muss. Nach einem Zwischenstopp im Kloster findet sie den Weg zur berüchtigten Hole-in-the-Wall-Gang, die auch hierzulande durch Westernfilme bekannt geworden ist. Kleiner Unterschied zum Original: Die Mitglieder der Gang sind allesamt Frauen. Der feministische Western ist ein bisher unterrepräsentiertes literarisches Genre. Die amerikanische Autorin Anna North nimmt sich dessen in ihrem dritten Roman »Die Gesetzlose« an. Sie erzählt vom Zusammenleben der Gang, die den Härten der Natur ebenso ausgeliefert ist wie denen der Gesellschaft, die sie ausgestoßen hat. Trotz dieser Gemeinsamkeiten dauert es eine Weile, bis sich die Frauen zusammengerauft haben. Ein Überfall auf eine Bank soll schließlich nicht nur ihre materiellen Nöte beenden, sondern auch die Basis für eine größere Gemeinschaft verfolgter Frauen bilden. North gelingt es, vor allem Adas Zeit mit der Gang lebendig zu schildern: Erlebnisse von Geborgenheit in einer Gruppe gehen nahtlos in existenzielles Ausgeliefertsein über – Erfahrungen, die Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht machen. Trotzdem ist es eine schöne Abwechslung, sich den »Wilden Westen« mal aus weiblicher Perspektive erzählen zu lassen. Andrea Kathrin Kraus

Carl-Christian Elze

Carl-Christian Elze

Freudenberg. Berlin und Dresden: Edition Azur bei Voland & Quist 2022. 176 S., 20 €

Carl-Christian Elze.

Ein junger Mann, Freudenberg, befindet sich an der Schwelle zum Erwachsensein. Emotional entkoppelt, in sich selbst gefangen und sprachlos erlebt er das alltägliche Zusammenleben mit den Eltern. Am Horizont scheint ihn nichts anderes zu erwarten als Fremdbestimmtheit in Form bedrückender Zukunftspläne, die sein Vater für ihn bereithält. Nichts liegt ihm näher als der Wunsch, sich selbst und seinen Lebensumständen zu entkommen. Als Freudenberg beim Familienurlaub am Steilufer der polnischen Ostseeküste den leblosen Körper eines jungen Mannes findet, scheint die Gelegenheit günstig, die Identität zu wechseln, als ein anderer weiterzumachen. Jedoch ist es mit dem Kleidertausch nicht getan. Freudenberg kann sich nicht entkommen. Kurze Zeit später schon findet er sich unter noch bedrückenderen Umständen im Haus seiner Eltern wieder. Für die kurze Zeit des Selbstversuchs, des Dazwischens, entfaltet Elze ein fesselndes und sprachlich berührendes Intermezzo in haltlos fluktuierenden Bildern zwischen Traum, Realität, Möglichkeiten und Wunschdenken. Aufmerksame kreuzer-Leserinnen und -Leser kennen den Leipziger Autor nicht nur vom Gedicht des Monats im April 2022: Die »Zoogeschichten« des vor allem als Lyriker auftretenden Elze erschienen von März 2017 bis März 2018 monatlich im kreuzer, später auch als Buch »Oda und der ausgestopfte Vater«). Seine Faszination fürs Biologische hat auch in »Freudenberg« Spuren hinterlassen: Das sprachlose Wesen der Tiere scheint der Hauptperson näher als die Sphäre des Menschlichen. Verlorensein und verschwimmende Realitäten sind die Themen, die Elze anhand einer fesselnden Geschichte in seinem Romandebüt auf faszinierende Weise entwickelt. Anja Kleinmichel

Désirée Opela

Désirée Opela

Das Wetter in uns. Leipzig: Faber & Faber 2022. 160 S., 20 €

Désirée Opela.

Nadja ist 30, arbeitet in einem Münchner Büro und verbringt ihre Zeit allein, abgesehen von Gesprächen mit ihrer aufgedrehten Arbeitskollegin Joyce und Skype-Calls mit Clemens, einem krebskranken Freund. Eine mysteriöse Krankheit, die sie und ihr Leben buchstäblich lahmlegt, bildet den Rahmen für eine zweite Ebene, eine Rückschau, die in Nadjas Zeit als Kunststudentin in Leipzig führt. Die in München lebende Autorin Désirée Opela, die 2019 mit »Im Limbo« debütierte, erzählt in »Das Wetter in uns« von einer, die mit den Katastrophen des Lebens hadert. Extreme Wetterbedingungen, mit denen sie sich im Studium künstlerisch auseinandersetzte, stehen dabei analog zum Chaos um sie herum: »Im Endeffekt war das Wetter wie der Wille, unberechenbar und gewalttätig, er formte die Welt und ließ den Menschen hinter sich.« Tatsächlich ist das Päckchen, das Nadja zu tragen hat, nicht grade klein. Neben dem politischen Wahnsinn, wie dem Aufstieg der AfD und der Polizeigewalt, der sie als linke Aktivistin ausgesetzt war, trifft sie der Unfalltod ihres Vaters. Und seit einer Vergewaltigung in Jugendjahren neigt sie zu selbstverletzendem Verhalten und drückt die Zigaretten an den eigenen Unterarmen aus. Opela beschreibt Nadjas Herumirren in Leipzig und München in manchmal schwer verständlicher Sprache, die nicht nur die Orientierungslosigkeit ihrer Protagonistin abbildet, sondern manchmal auch für ebensolche bei der Leserin sorgt. Eingestreute, auf wenige Zeilen begrenzte Perspektivwechsel verwirren, ebenso die vielen verschiedenen, teils nur kurz auftretenden Figuren. Trotzdem lohnt die Lektüre dieses unrunden, eigenwilligen Romans, der Leserin wie Hauptfigur erschüttert zurücklässt. Eva Burmeister

Claudia Schumacher

Claudia Schumacher

Liebe ist gewaltig. München: dtv 2022. 373 S., 22 €

Claudia Schumacher.

Juli Ehre ist das jüngste von vier Kindern in einer von Gewalt und Menschenverachtung gezeichneten Familie: Der Vater verträgt keinen Widerspruch und schlägt Frau und Kinder. Doch nach außen muss die Fassade wohlsituierter Bürgerlichkeit gewahrt bleiben. Die suizidale Juli beginnt als Zwölfjährige ein »Selbstmordtagebuch«, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zur Mutter – »ein Hitmix aus Scarlett O’Hara und der Pietà« – und abgrundtiefem Hass auf ihren Vater. Dazu kommt der Beschützerinstinkt für ihren Bruder, der unter der Gewalt des Vaters am meisten leidet. Er ist wie sie ein Opfer und doch immer wieder ihr Retter in größter Not: »Bruno war immer nur eins: Rettung. Wir hüteten, was übrig war von der Seele des anderen.« Juli ist hochintelligent, geht zum Mathematikstudium nach Berlin und beginnt eine Promotion. Nebenbei zockt sie mit Videospielen, wird richtig erfolgreich mit ihrer Gruppe, gewinnt fette Preisgelder und kann von ihren Einnahmen gut leben. Aber sie verkommt seelisch und körperlich, wird tablettenabhängig, eine lesbische Liebe gibt ihr kurzfristig Halt, aber ihre Partnerin verlässt sie und Juli gleitet tiefer in menschliche Abgründe. Nach einer weiteren gescheiterten Beziehung zu einem in der Schweiz lebenden Sachsen findet sie mit ihrem Bruder die Kraft zum Neuanfang. Die anrührende Geschichte schildert die Autorin in erzähltechnischer und sprachlicher Vielfalt – vom Jargon der Zocker und Großstadtkids bis zur nüchternen Sprache des unpersönlichen Erzählers – und bereichert diese mit vielen literarischen Anspielungen. Kein Buch zum entspannten Schmökern, aber auf jeden Fall eine lohnende Geschichte über menschliches Elend und die Verlogenheit braver Bürger in der schwäbischen Provinz. Joachim Schwend

Viktor Schklowski

Viktor Schklowski

Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder die dritte Heloise. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Berlin: Guggolz 2022. 189 S., 22 €

Viktor Schklowski.

Es sind Liebesbriefe, die so tun, als wären sie keine. Ein russischer Emigrant im Berlin des Jahres 1922 schreibt an eine Frau, die nichts von ihm wissen will. Sie duldet die Briefe – antwortet sogar von Zeit zu Zeit –, aber nur nach Maßgabe, dass es nicht um Liebe gehen darf. Und er hält sich daran, meistens jedenfalls. Stattdessen schreibt er über literarische Zeitgenossen wie Andrei Bely und Marina Zwetajewa, über Autos, über Bücher, über einen Besuch im Varieté. Viktor Schklowski war einer der einflussreichsten Literaturtheoretiker der russischen Avantgarde, ein Mitbegründer des russischen Formalismus, der die technischen »Verfahren« von literarischen Texten analysierte. »Konterrevolutionärer Umtriebe« bezichtigt, musste er 1922 aus Leningrad fliehen, über Finnland gelangte er nach Berlin, wo er ein gutes Jahr blieb. In dieser Zeit entstand auch »Zoo« – ein eigentümliches Buch. Neben dem unglücklichen Briefeschreiber und seiner Angebeteten ergreift Schklowski selbst das Wort. Der Briefroman ermöglicht Sprünge und Brüche, Ton- und Stilwechsel. Entstanden ist eine flirrende Sammlung von Texten, in der ein skurriles Märchen ebenso Platz hat wie das Heimweh des Emigranten. Alles, wirklich alles kann Teil von Schklowskis Roman werden. Dass es die unglückliche Liebe tatsächlich gab – von wegen alles nur »Verfahren« –, erläutert das aufschlussreiche Nachwort der Übersetzerin Olga Radetzkaja. Der Anmerkungsapparat erleichtert den Zugang zum russischen Berlin der 1920er Jahre. Den schön gestalteten Band beschließt ein Essay des Schriftstellers Marcel Beyer, in dem er über sein Verhältnis zu Schklowski nachdenkt und über dessen große Bedeutung als Autor. Maurus Jacobs

Eskandar Abadi: Aus dem Leben eines Blindgängers

Eskandar Abadi: Aus dem Leben eines Blindgängers

Eskandar Abadi: Aus dem Leben eines Blindgängers. Greifswald: Katapult 2022. 320 S., 22 €

Aus dem Leben eines Blindgängers.

Es ist 1980, seit einem Jahr wütet in Persien die Islamische Revolution. Zwei junge Männer, beide von Geburt an blind, wollen das Land verlassen. Während der unauffällige Musa die iranisch-türkische Grenze passieren darf, wird Nader von den Revolutionsgarden festgenommen – und verschwindet ohne jede Spur. Zurück bleibt eine schwere Aktentasche voller Notizen, die Nader geistesgegenwärtig kurz vorher seinem Freund in die Hand gedrückt hatte. Für Musa wird diese Tasche zum Bleigewicht am Bein. Längst lebt er in Frankfurt und schlägt sich, desillusioniert und resigniert, mehr schlecht als recht durchs Leben – bis er sich entscheidet, die Tasche zu öffnen und die Notizen seines Freundes in eine Erzählung zu verwandeln. So wird Naders chronologisch erzählte Lebensgeschichte – von seiner Geburtüber die Aufenthalte in Blindeninternaten, Studium, Geigenspiel und Politisierung bis hin zu jener missglückten Flucht – immer wieder von Musas Kommentaren aus der Jetzt-Perspektive unterbrochen. Eskandar Abadi, der, selbst geburtsblind, seit seiner Flucht 1980 als Journalist und Musiker in Deutschland lebt, bietet mit diesem thematisch gewichtigen Buch Einblicke in das vorrevolutionäre Persien – und räumt gleichzeitig mit vielen Vorurteilen gegen Blinde auf. Eine spannende Geschichte, der ein Hauch orientalisches Märchen innewohnt. Der sprachliche Duktus riecht zwar deutlich nach Datteln und Safran, verlangt aber nach Geduld: Wie bei einem persischen Festmahl werden nacheinander immer weitere Schälchen gebracht, eine neue Kanne Tee aufgebrüht, und bis man zu der ersehnten Wasserpfeife gelangt ist, haben sich die einzelnen Geschmäcker längst vermischt und überlagert. Martina Lisa

Sjón: CoDex 1962

Sjón: CoDex 1962

Sjón: CoDex 1962. 640 S.

Während des Zweiten Weltkriegs erschafft ein aus dem KZ entflohener Prager Jude in einer norddeutschen Kleinstadt ein Kind aus Lehm, das später auf Island aufwächst, wo kriminelle Briefmarkenhändler, die sich bei Vollmond in Werwölfe verwandeln, ihr Wesen treiben, während sinistre Gentechniker Mutanten in die Welt setzen. Dazwischen sind immer wieder Märchen und Theaterszenen eingeschaltet, werden Ereignisse aus der isländischen Geschichte, Episoden und Figuren der Saga-Literatur heraufbeschworen; auch Tarantino-Fans kommen auf ihre Kosten. Auf Schritt und Tritt stoßen wir auf weltliterarische oder popkulturelle Anspielungen und Zitate. Aber damit wäre »CoDex 1962«, der überaus vielschichtige, abschweifende, verschlungene Roman des isländischen Star-Schriftstellers Sjón, nur sehr unzulänglich nacherzählt. Übrigens haben wir es mit drei Romanen zu tun, die Sjón 1994, 2001 und 2016 geschrieben und nun zu einem unendlich komplexen, genialischen Opus magnum zusammengeführt hat. Sjón kennt alles, kann alles – und versäumt keine Gelegenheit, das auch zu zeigen. Was ist dagegen zu sagen? Dieser Eklektizismus, das Spiel mit der Tradition – der ganze Zinnober gehört doch nun einmal zu einem postmodernen Roman! Ja, ganz recht. Nur eines hat »CoDex 1962« nicht zu bieten: Humor und Ironie. Sie hätten den Roman vielleicht vor dem Odium seelenloser Artistik bewahrt, das ihm leider anhaftet. So aber drängt sich im Laufe der Lektüre immer mehr der Verdacht auf, nicht so sehr unbändige Erzähllust habe Sjón beim Schreiben angetrieben als ein gnadenloser Wille zur Genialität. Olaf Schmidt

Pilar Quintana: Hündin

Pilar Quintana: Hündin

Aus dem Spanischen von Mayela Gerhardt. Berlin: Aufbau Verlag 2020. 151 S., 18 €

Pilar Quintana: Hündin.

Es ist die Natur, die allgegenwärtig ist in Pilar Quintanas Roman: die Kraft des Meeres, des Regens; der Urwald, Lanzenotter, Geier, Vampirfledermäuse, Spinnen und eine Invasion von Ameisen, die am helllichten Tag in Damaris’ ärmliche Hütte einbrechen: »Damaris setzte sich auf einen Plastikstuhl und zog die Beine an. (…) Nach zwei Stunden war von den Ameisen nichts mehr zu sehen und auch nicht von den Kakerlaken, die sie aus ihren Verstecken hervorgeholt und mit sich fortgetragen hatten.« Die angebliche natürliche Bestimmung der Frau ist ebenso gegenwärtig: Seit sie zwanzig ist, möchte Damaris schwanger werden – sie und ihr Freund Rogelio tun alles dafür. Es helfen jedoch nicht einmal die teuren Behandlungen beim jaibaná, dem Heiler aus dem Nachbardorf. Damaris ist schon über vierzig, als sie unerwartet die titelgebende »Hündin« geschenkt bekommt. »Chirli wie die Schönheitskönigin? Wolltest du so nicht deine Tochter nennen?«, spottet ihre Cousine, die mit 37 bereits zwei Enkelkinder hat. Pilar Quintana setzt die Hauptfigur ihres Romans einer feindlichen Umgebung aus. Da sind die Wochenendhäuser der Reichen, in deren Schatten Damaris’ und Rogelios ärmliche Hütte steht. Da ist der Weg ins Dorf – über eine steile Steintreppe, durch einen Meeresarm. Da sind Rogelios Hunde, einer angriffslustiger als der andere. Alles ist fragil, gefährlich, unbezwingbar in diesem kurzen, im besten Sinne des Wortes sonderbaren Roman. Die eigentliche Gefahr geht jedoch von einer Gesellschaft aus, in der es keinen Zweifel an der natürlichen Bestimmung der Frau gibt. Das erklärt die Leidenschaft, mit der sich Damaris ihrer Hündin annimmt. Als diese von ihren Streifzügen durch den Urwald trächtig zurückkehrt, nimmt eine unerwartete Katastrophe ihren Lauf. Doch die wirkliche Katastrophe ist, dass Damaris ihr Leben als gescheitert empfinden muss, weil sie ihrer angeblichen Bestimmung nicht entsprechen kann. Katharina Bendixen

Jennifer Beck et al.: Liebe, Körper, Wut & Nazis

Jennifer Beck et al.: Liebe, Körper, Wut & Nazis

Jennifer Beck et al.: Liebe, Körper, Wut & Nazis. 208 S.

Der Titel ist natürlich super. Sind doch »Liebe, Körper, Wut & Nazis« die Themen, die das Leben im Großen und Ganzen umreißen. Vier Mittdreißigerinnen und Mittdreißiger, die in Berlin leben, für ihr eigenes Magazin, Die Epilog, schreiben (einige von ihnen taten dies auch schon für den kreuzer) und auch sonst in den typischen Kulturkreisen hipper Menschen unterwegs sind, haben beschlossen, sich alles zu sagen, und zwar wirklich ehrlich und mit gegenseitigem Interesse. Ein Buch wie das alte Spiel »Wahrheit oder Pflicht« – nur ohne Pflicht: sich Fragen stellen und beantworten, schriftlich. Ein persönlicher Selbstversuch in Buchform. So stellt sich beim Lesen die Frage: Was interessiert mich das, ob Steffen Greiner Probleme mit Beziehungen hat, dass Fabian Ebeling glücklich ist, wenn er J Mascis hört, wie Mads Pankow seiner Tochter den Tod der Oma erklärt und wie gestört Jennifer Becks Essverhalten ist? Gar nicht leicht zu beantworten, aber eines sei vorweggenommen: Es interessiert einen dann nämlich doch. Aus Voyeurismus einerseits, außerdem, weil man einiges daraus für sein eigenes Leben ableiten kann, Trost dadurch empfindet, dass alle ähnlich schlimme Erlebnisse hatten wie man selbst, überdies Anregungen zum eigenen Selbstverständnis bekommt, wenn es um die Frage geht, wie viel Macht und Privilegien weiße Cis-Dudes haben. Wobei es wohl interessanter gewesen wäre, wenn nicht nur eine »Frau aus dem Osten« neben drei Männern aus der BRD dabei wäre. Aber auch wenn einen einige Storys kaltlassen oder man von all der Nabelschau genervt ist – am Ende geht es nämlich weniger um Nazis als um Narzissmus –, gibt das Buch Anstöße, über das eigene Leben nachzudenken und viel mehr noch über das seiner Freunde, denen man öfter persönliche Fragen stellen und noch öfter zuhören sollte. Und warum nicht bei einer guten alten Runde »Wahrheit oder Pflicht«? Juliane Streich

Eimar O’Duffy: King Goshawk und die Vögel

Eimar O’Duffy: King Goshawk und die Vögel

Eimar O’Duffy: King Goshawk und die Vögel. 276 S.

Eimar O’Duffy führt uns in eine postapokalyptische Welt, in der Monopolisten das Volk ausgebeutet und unterjocht haben. In der als Monarchie verkleideten Plutokratie lässt König Goshawk alle Singvögel einfangen, damit sie in seinem Park nur noch für ihn und seine Gattin singen. Dies veranlasst den Dubliner Philosophen Murphy, aktiv zu werden. Aber er scheitert kläglich an der Ignoranz der Menschen. Da »eine solche Aufgabe das Vermögen eines Sterblichen übersteige«, holt er sich Hilfe bei »einem Rückkehrer aus dem Jenseits«. Der mythische irische Held Cuchulainn scheint am besten geeignet und eilt zu Hilfe. Aber auch Cuchulainn scheitert und muss unverrichteter Dinge wieder zurück in seine Welt. Sein Sohn Cuanduine versucht es ebenfalls. Mit Ironie und in einer poetischen, stellenweise auch deftigen Sprache beschreibt O’Duffy Cuanduines vergebliche Versuche, die Menschen zum Widerstand aufzurütteln. Als er auf Einladung eines Zeitungsmagnaten nach England geht, stößt er dort auf die gleichen Zustände und ebensolches Unverständnis. London ist wie Dublin eine Stadt in Trümmern, die kleinen Leute leben in Armut und Elend, die Monopolisten protzen mit ihrem Wohlstand und beuten diesseits und jenseits der Irischen See die Menschen gleichermaßen aus. Mit einer Mischung aus schwarzem Humor, Augenzwinkern und Sozialkritik wendet sich der Erzähler an die Leser und schildert mit Mitgefühl und teilweise auch Unverständnis die Auswüchse eines zügellosen Kapitalismus, in dem der Einzelne nichts gilt. Mit diesem Roman gelingt es dem Kröner-Verlag erneut, in Deutschland eher unbekannte irische Autoren vorzustellen, deren Werke ein Lesegenuss sind und die uns zum Nachdenken anregen. Das umfangreiche Glossar ist eine Hilfe, um all die feinen Anspielungen einordnen zu können. Joachim Schwend

Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen

Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen

Matthias Politycki, »Alles wird gut«. 301 S.

Die ersten Seiten von Matthias Polityckis Roman lesen sich wie ein schlechter Witz: Treffen sich ein Bayer und ein Hamburger auf dem Kilimandscharo … Ein stets um politische Korrektheit bemühter 63-jähriger Intellektueller möchte während seiner Bergbesteigung des Kilimandscharo den Schmerz einer gescheiterten Liebe endgültig begraben. Leider wird er dabei von einem trinkfreudigen, rastlosen Münchner gestört, der mit Kommentaren in »bayuwarischem Spaß-Suaheli« um sich wirft. Die ungleichen Charaktere verbringen gezwungenermaßen mehrere Tage miteinander in Ostafrika und schließen – wenig überraschend – dennoch Freundschaft. Einer der beiden Männer ist sterbenskrank, was das Sujet zusätzlich abgenutzt wirken lässt. Umschlossen wird es dabei von Themen wie Toleranz, Hochmut, Liebe, Rassismus, dem Umgang mit Stereotypen und der eigenen Furcht vor dem Fremden. Die leicht absurd verlaufenden Abenteuer auf dem einwöchigen Roadtrip, die der »Windelhansi« und der »Tscharli« erleben, erreichen selten einen richtigen Höhepunkt, wechseln stattdessen meist kurz davor die Richtung oder kehren in Varianten wieder. Diese Kunstgriffe verleihen dem Reiseroman gemeinsam mit der flapsigen Trockenheit der Dialoge eine gewisse Rasanz. Etwas spannender wird es durch die Rückblenden auf die Biografien der beiden Protagonisten. Die hintergründige Traurigkeit, die beide Männer in sich tragen, wird dadurch nachvollziehbarer und verleiht den Charakteren, die auf ihrer gemeinsamen Reise immer symbiotischer werden, deutlichere Konturen. Was auf den ersten Blick plakativ wie das Erinnerungsfoto eines ewig gleich aussehenden Sonnenuntergangs wirkt, entwickelt sich im Laufe der Geschichte immerhin zu einem eindringlichen Bild von Individualität und Freundschaft Hanna Schneck

Anke Stelling: Grundlagen-forschung

Anke Stelling: Grundlagen-forschung

Anke Stelling: Grundlagen-forschung. 191 S.

In Anke Stellings Erzählungen wird genau abgewogen. Erwartungen werden verglichen mit dem, was die Realität bereithält. Eine Möglichkeit wird gegen die andere gesetzt und Ängste werden gegen Hoffnungen gehalten. Ihre Protagonisten sind meist Frauen und Mütter in den mittleren Jahren. In einer Erzählung denkt eine Frau über ihre Jugend im letzten Jahrhundert nach, während der sogenannten sexuellen Revolution, um dann festzustellen, dass die sexuelle Freiheit noch immer ziemlich begrenzt ist. Denn auch jetzt folgen Attraktivität und Begehren den geltenden Schönheitsidealen. In einer anderen Erzählung wird eine Single-Frau von ihren Sehnsüchten und Selbstzweifeln so vereinnahmt, dass sie sich nicht traut, ein neues Leben anzufangen. In einer weiteren Geschichte gelingt bei einer Frau zwar die Familiengründung, aber auch hochschwanger stellt sie ihr Glück immer wieder in Frage. Wie kaum eine zweite Autorin verhandelt Stelling die Lebenswirklichkeit von Familien. Dabei geht es um Rollenbilder, die hinterfragt werden, und um Abstiegsängste. Ihr erster Erzählband versammelt Texte aus den letzten zwanzig Jahren. Einigen frühen Erzählungen merkt man die Lust am Experiment an – von denen nicht jedes glückt. In den späteren Texten wird der klarsichtige und ungeschönte Blick deutlicher, der auch ihre Romane auszeichnet. Wer »Grundlagenforschung« zur Hand nimmt, schaut einer Autorin zu, wie sie mit jeder Geschichte besser wird. Sandra, die Single-Frau, deren Verzagtheit gegenüber dem Leben sich immer mehr zur Nervosität steigert, traut sich zum Schluss doch und küsst einen Mann. Der allerdings weicht ihr geschickt aus und sie muss an ein Sprichwort ihrer schwäbischen Großmutter denken: »Am Schluss wird zsammazählt«. Ob die Nacht mit dem Mann am Ende als Plus- oder Minuspunkt in die große Rechnung eingehen wird, weiß sie allerdings auch nicht. Tino Dallmann

Julia Deck: Privateigentum

Julia Deck: Privateigentum

Julia Deck: Privateigentum. 144 S.

Charles und Eva Caradec führen ein Leben, das nach außen hin perfekt wirkt. Beide nicht mehr ganz jung, aber attraktiv; wohlhabend dank einer Arbeit, die immer etwas vage bleibt, ziehen sie in ein eigenes Haus in der Pariser Vorstadt. Ein Edel-Öko-Spießertum, umgeben von Bioläden, Kompost und erneuerbaren Energien. Doch ihre Nachbarn machen den Caradecs schon bald die Idylle zur Hölle. Erst fallen die Lecoqs nur durch ihr unangenehmes Verhalten auf, durch laute Partys und gehässige Bemerkungen. Dann wird ein aufdringlicher roter Kater massakriert aufgefunden. Schließlich aber verschwindet die aufreizende Annabelle Lecoq zusammen mit dem kleinen Sohn samt Hund spurlos. Die französische Autorin Julia Deck spinnt ihre Ich-Erzählerin Eva Caradec in ein immer dichter werdendes Netz von Unbehaglichkeiten ein. Schon bald nach ihrem Umzug verliert die gewandte und beruflich erfolgreiche Frau den Boden unter den Füßen. Ist sie dem Leser zu Beginn wegen ihrer übergroßen Selbstbeherrschung noch unsympathisch, nimmt sie im Verlauf der Geschichte mit zunehmend bröckelnder Fassade menschlichere Züge an. »Privateigentum« ist Evas innerer Monolog, den sie an ihren psychisch labilen Mann richtet. Die vorherrschende indirekte Rede liest sich stellenweise etwas unlebendig, passt aber zur Ich-Erzählerin, die sich krampfhaft bemüht, die Fäden ihres Lebens in der Hand zu behalten. Am Ende bleiben – trotz eines befreienden Knalls – einige Fragen offen. Andrea Kathrin Kraus

Bildungsreise – Folge vier: Kartografie

Bildungsreise – Folge vier: Kartografie

Bildungsreise – Folge vier: Kartografie. 382 S.

Aus somalischer Perspektive auf Äthiopien schauen: Nuruddin Farahs Roman »Maps« wurde als erster Teil einer Trilogie 1986 auf Englisch veröffentlicht, 1992 ins Deutsche übersetzt und spielt, wie die meisten Bücher des Autors, hauptsächlich in Somalia. Er beginnt jedoch im Ogaden, einem Gebiet zwischen Äthiopien und Somalia, in dem die meisten Bewohner Somalis sind, das aber dennoch einen Teil Äthiopiens bildet. Dort wächst Askar fast symbiotisch mit seiner Ziehmutter Misra auf, die ihm seine verstorbenen Eltern ersetzt. Misra stammt aus Äthiopien und kann aus Wasser, Blut und Fleisch die Zukunft wahrsagen. Askars Kindheit verläuft zwischen Verkleidungsspiel und Koranschule, umgeben von einem – immerhin nicht ihn – prügelnden Onkel und dem verhassten Koranlehrer, deren abwechselnde nächtliche Besuche Misra ertragen muss. Als somalische Freiheitskämpfer den Ogaden aus äthiopischer Vorherrschaft zurückerobern wollen und der Krieg immer näher rückt, wird Askar in die Hauptstadt Somalias, Mogadiscio, geschickt, wo er bei seinem Onkel Hilaal, einem gut kochenden Universitätsdozenten, und dessen Frau Salaado, einer gut Auto fahrenden Lehrerin, unterkommt. Ausgiebige, kontroverse Gespräche, besonders über Politik, das Ringen um nationale Identität der Länder Afrikas und den Konflikt zwischen Somalia und Äthiopien, sind mit ihnen Teil des Alltags. Landkarten sind in »Maps« ein Schlüsselgegenstand, seit Askar eine erste Karte nach seiner Beschneidung im Kindesalter geschenkt wurde: Auf ihnen werden nicht nur Truppenrouten, sondern auch, einem Spiegel ähnlich, das Selbst verortet. Kurz bevor er sich zwischen einem Studium und dem Dienst an der Waffe entscheiden muss, taucht Misra in Mogadiscio auf – und wird beschuldigt, die somalischen Kämpfer an das äthiopische Militär verraten zu haben. Farahs Stärke liegt im sensiblen Blick für Unterdrückung und Ungleichheit, vor allem die der Geschlechter. Dafür muss man etwas vage Metaphern und einige leicht ermüdende, mythologisierende Traumsequenzen verkraften.  Alexandra Ivanova

Bildungsreise – Folge 2: Krieg und Frauen

Bildungsreise – Folge 2: Krieg und Frauen

Bildungsreise – Folge 2: Krieg und Frauen. Das Wunderhorn 2012. 290 S.

Maaza Mengiste wird in Addis Abeba geboren und ist früh auf der Flucht bis nach New York, wo sie heute auf Englisch Romane und journalistische Essays über äthiopische Geschichte schreibt. Ins Deutsche übersetzt wurde bislang ihr Debüt »Unter den Augen des Löwen«. Ihr zweiter Roman »The Shadow King« brachte ihr den Vergleich mit Toni Morrison und eine Nominierung für den Booker Prize ein. Beide Romane handeln von Äthiopien im 20. Jahrhundert, die Protagonisten reichen sich von Buch zu Buch die Hand. »The Shadow King« spielt überwiegend im Jahr 1935, in dem Mussolinis Armee in Äthiopien einmarschiert, um eine alte Niederlage in »Abessinien« zu rächen und die lang ersehnte Kolonie auf dem afrikanischen Kontinent nach faschistischem Prinzip zu errichten. Dieser Versuch misslingt, die Jahre italienischer Pseudo-Herrschaft sind 1940 zu Ende. Doch die Gewalt traumatisierte, wie Mengiste zeigt, Äthiopiens Bevölkerung nachhaltig. Im Jahr 1974, zentral für »Unter den Augen des Löwen« und Endstation von »The Shadow King«, begannen die Tumulte, die auf die Befreiung von der Feudalherrschaft zielten, aber in Terror endeten. Mengistes Protagonistin Hirut durchlebt besonders den Krieg mit Italien in »The Shadow King« auf schmerzliche Weise. Im feudalen System Äthiopiens nimmt sie den Rang einer Magd ein, für die nicht mehr als der Objektstatus vorgesehen ist, der sich durch Peitschenhiebe ihrer eifersüchtigen Dienstherrin Aster wie auch die sexuelle Gewalt ihres Dienstherrn Kidane manifestiert. Zur Subjektwerdung Hiruts kommt es dann, ausgerechnet, in einer Armee unter Kidanes Führung zur Verteidigung des äthiopischen Hinterlandes. Hirut entwickelt zum ersten Mal eine positive – wenngleich fragwürdige – Identität als Soldatin. Mengistes erklärtes Anliegen mit »The Shadow King« war es, über Frauen im Krieg zu schreiben und ihnen damit eine aktive Rolle in der an sich problematischen Geschichte der Siege und Niederlagen der Völker Äthiopiens zu geben. Eine Reflexion über die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen des Kriegs und Hiruts Soldatinnen-Dasein fehlt neben der teils langatmig-deskriptiven Glorifizierung der äthiopischen militärischen Verteidigung. Alexandra Ivanova

Das Wunderhorn

Florence Brokowski-Shekete: Mist, die versteht mich ja!

Florence Brokowski-Shekete: Mist, die versteht mich ja!

Florence Brokowski-Shekete: Mist, die versteht mich ja!. 250 S.

Brokowski-Sheketes Leben ist eigentlich nicht außergewöhnlich. Sie wächst als Pflegetochter einer liebevollen, alleinstehenden Frau in Buxtehude auf, spielt gerne mit den Nachbarskindern, kommt in die Schule, macht ihr Abitur und beschließt, Lehrerin zu werden. Aber weil »Flori«, wie ihre Pflegemutter sie nennt, Schwarz ist und nigerianische Wurzeln hat, ist es eben doch ein von vielen Schwierigkeiten begleitetes Leben. Die in ebenso emotionaler wie klarer Sprache geschriebene Geschichte eines kleinen Mädchens, das zur Jugendlichen und zur Frau wird; das sich in Deutschland zu Hause fühlt und dem dennoch immer wieder vermittelt wird, anders zu sein. »Es ist nicht immer lustig, im Supermarkt zwischen Obst und Gemüse eine Kurzfassung der eigenen Biografie zu präsentieren, die dann womöglich auch noch hinterfragt wird.« Trotzdem dreht sich in »Mist, die versteht mich ja!« längst nicht alles um gesellschaftliche Vorurteile und strukturellen Rassismus, gleichwohl die Autorin vielfältige Erfahrungen mit beidem macht. Florence Brokowski-Shekete geht mit viel Geduld und Humor auf Spurensuche. Sie schildert Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen, Perspektiven und Reaktionen – und liefert damit den sensiblen Bericht einer Identitätsfindung, die nicht aufgrund von Herkunft, sondern mithilfe von Empathie und Liebe gelang. Alexandra Huth

Ian McEwan: Erkenntnis und Schönheit

Ian McEwan: Erkenntnis und Schönheit

Ian McEwan: Erkenntnis und Schönheit. 179 S.

»Ich verkümmere regelrecht, weil ich niemanden habe, mit dem ich über Insekten reden kann.« Hach ja, die Probleme junger Männer! Der englische Schriftsteller Ian McEwan zitiert diesen Satz aus einem Brief des jungen Charles Darwin in seinem Essayband »Erkenntnis und Schönheit – Über Wissenschaft, Literatur und Religion«. Das Diogenes-typische schöne Leinenbändchen versammelt vier Vorträge, die McEwan (u. a. »Abbitte« sowie zuletzt »Maschinen wie ich« und »Die Kakerlake«) seit 2003 in Oxford, Santiago de Chile, Athen und Stanford gehalten hat, sowie einen Artikel, der 2006 im Guardian erschien. Vom Leben Darwins (gelesen »wie einen Roman«) geht es über Einstein und Newton (über Bande gespielt mit Voltaire) hin zur Frage, wer der erste moderne Mensch ist (»die mitochondriale Eva oder Alan Turing?«) und weiter zum Erkennen und Benennen des Ichs in der Literatur und dessen Lokalisierung durch die Naturwissenschaft zur »Endzeitstimmung« (mit oder ohne Johannes-Offenbarung). Dabei können sich Parallelen schon mal vor der Unendlichkeit schneiden: »Liest man Berichte über die systematischen, nicht intrusiven Beobachtungen von Bonobos …, kann man sehen, wie sie sämtliche große Themen des englischen Romans des neunzehnten Jahrhunderts ausagieren.« Ha! McEwan ermutigt: »So wie wir mit Freunden um den Küchentisch sitzen und über eine Fernsehserie reden, einen Song, einen Film, ohne selbst Schauspieler, Komponist oder Regisseur zu sein, so sollten wir uns auch die wissenschaftliche Tradition zu eigen machen und dieses Fest organisierter Neugier feiern, diese grandiose Errungenschaft akkumulierter Kreativität.« Dass dieser Satz erstmals an einem 1. April im Guardian erschien, verbuchen wir mal unter »englischer Humor«. Und der ist ja bekanntlich eine ganz eigene Wissenschaft. Benjamin Heine

Martina Lisa, Chris Michalski (Hg.): wer hier ist – eine Anthologie

Martina Lisa, Chris Michalski (Hg.): wer hier ist – eine Anthologie

Martina Lisa, Chris Michalski (Hg.): wer hier ist – eine Anthologie. 54 S.

Begonnen hatte es mit einem offenen Aufruf im August dieses Jahres auf diversen Online-Kanälen. Der Hochroth Verlag Leipzig ermutigte Schreibende »mit migrantischem Hintergrund«, ihre Kurztexte einzureichen. Einen Bezug zu Leipzig sollten die Verfasserinnen oder das Geschriebene haben. Das Ergebnis: eine dünne Anthologie, an der neun Autorinnen und Autoren beteiligt sind, untermalt von der melancholischen Analogfotoserie »Freibad«. Politisch sind die Texte – mal ganz explizit, mal eher im Persönlichen verborgen. Ein eindringliches Gedicht über die zerarbeiteten Väter, die nach Deutschland auswanderten, von Irina Nekrasov/a, der innere »Monolog eines zwanghaften Aufschiebers« von Gyan Zetina oder die Schilderungen kindlicher Erinnerung an die Sommer in Ungarn von Iosif C Holzer. In »Socken stopfen« sinniert Maria Bujanov über Platz: »ohne Loch klingt wie die Negation einer Negation / und doch bleibt eigentlich noch viel weniger übrig als nichts – / vielleicht trotzdem ein Raum zum Füllen«. Gegenstand sind das Hierbleiben, das Dortgewesensein und das weite Spektrum dazwischen. Die Auswahl zeigt vor allem, wie heterogen migrantische Stimmen und Geschichten sind. Was sie verbindet, verrät der Titel der Sammlung: da sein und sich durch Sprache verlautbar machen. »Ich warte auf dich, bis die Pandemie überstanden ist und wir wieder Tischkicker im Peter K. spielen«, heißt es im Gedicht von Xoşewîst. Der Titel von Kaśka Brylas Beitrag lautet »April«. Ein Monat, der den meisten nachhaltig in Erinnerung bleiben wird. Auch das Virus hat Einzug gehalten in diese Sammlung neuer Literatur und mit ihm seine Begleiterscheinungen: Schlange stehen beim Bäcker, Unverständnis ob der Sorglosigkeit anderer, Stirnrunzeln bei der Phrase »Krise als Chance«. Lucia Baumann