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Rezensionen

Hypochondrische Ängste

Hypochondrische Ängste

Real Authentic Berlin Street Love

Real Authentic Berlin Street Love

Die Trommel wirbelt und treibt den stolpernden Bass voran. Es folgen die Bewusstseinsströme von Jorinde Minna Markert, deren Assoziationen nur so sprudeln und Hörerinnen und Hörer allzu leicht mitreißen. Mit ihren Texten baut sie Kulissen, Kostüme, Dialoge und Stimmungen, formt so ganze Szenen, um die titelgebende »Real Authentic Berlin Street Love« zu beleben. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr, denn Markert arbeitete als Schauspielerin, schreibt nun fürs Theater und ist frische Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig. Die Stücke erzählen beispielsweise davon, wie es ist, eine Liebesbeziehung neu auszuloten: »Du so Negation, du Postpostrevolution / Du so Kaffee aus Gerste und Milch ungeschäumt / Du so ungesüßt, du so ungeträumt / Ich so: Hab dich so gern! / Du so: Du hast mich nicht / Haben hat nur der Konzern«. Die verbalen Eindrücke sausen in einer bemerkenswerten Geschwindigkeit vorbei, passen ganz gut zur Schnelllebigkeit unserer Zeit. So grenzt sich die Wirkung der Spoken-Word-Kunst deutlich von namhaften Personen aus dem Genre ab, wie etwa Kae Tempest oder Mira Mann, die sich mehr darauf besinnen, ihre Worte atmen, wachsen und viel gediegener wirken zu lassen. Zu den Texten hieven Hypochondrische Ängste mittels Gitarre, Vibrafon, Bass und Drums zumeist hektische, bisweilen auch ruhig flirrende Klanggefilde ihren Hörerinnen und Hörern über – und das beeindruckt durchgehend. Claudia Helmert

The Swell Season

The Swell Season

Forward

Forward

Die Geschichte begann vor rund zwanzig Jahren. Der irische Singer-Songwriter Glen Hansard, Frontmann der auf der Insel enorm populären Band The Frames, und die junge tschechische Pianistin Markéta Irglová sind seit vielen Jahren befreundet. Auf musikalischer Ebene treffen sie sich mit dem Projekt The Swell Season. Als Hansards Freund, Regisseur John Carney, die beiden Hauptdarsteller für seinen Film »Once« sucht, eine Liebesgeschichte zwischen zwei Musikern, übernimmt der Sänger kurzerhand den männlichen Part und empfiehlt Irglová für den weiblichen. Der Rest ist eine Erfolgsgeschichte, wie sie die Tabloids lieben. Sie erhalten den Oscar für »Falling Slowly« und verlieben sich ineinander. Der nachfolgende Ruhm, die gemeinsame Tour und die Trennung behandelt der Dokumentarfilm »The Swell Season« und nach dem Break-up-Album »Strict Joy« ist 2009 erst mal Schluss. Hansard und Irglová beginnen erfolgreiche Solokarrieren, finden neue Partner und ein neues Zuhause. 14 Jahre später ist die Zeit nun reif für ein neues Album. Die neun Stücke von »Forward« zeigen beide in songschreiberischer Bestform und ergeben ein harmonisches Ganzes, trotz ihrer unterschiedlichen Ausdrucksformen. Hansards kraftvolle Folksongs strahlen ebenso wie Irglovás gefühlvolle Balladen und zu großen Pop-Songs finden beide Stile wunderbar zusammen. Lars Tunçay

Superspace

Superspace

Superspace

Superspace

KI als Bedrohung für die Kulturszene? Maurice Summen und Tom Hessler scheinen unbesorgt zu sein. Zumindest könnte man das denken, wenn man das Debütalbum der beiden Musiker hört, das dieser Tage unter dem superben Alias Superspace veröffentlicht wurde. Denn so düster das Gros der gegenwärtig diskutierten Zukunftsszenarien erscheint, so zuversichtlich und unbekümmert groovet das selbstbetitelte Werk des Duos, das sich musikalisch irgendwo zwischen House, Dub, Minimal Techno und Ambient bewegt. Entstanden ist es an der Schnittstelle von Mensch und Maschine, im Zusammenspiel von Vintage-Equipment und KI-Anwendungen. Damit werfen Summen und Hessler bewusst Fragen nach Urheberschaft und der Einzigartigkeit künstlerischen Ausdrucks auf. Doch auch fernab philosophisch-ethischer Fragestellungen bieten Stücke wie »Superspace Heaven«, »Superspace Feeling« oder »Superspace Business« feinste Electronica-Tunes, die wahlweise an Gruppen wie Nightmares on Wax, Air, Thievery Corporation oder Massive Attack erinnern. Das ist zwar musikalisch nicht durchgehend begeisternd, doch stellt das Album im Wechselspiel mit der thematischen Meta-Ebene eine längst überfällige künstlerische Intervention dar. Wer also über die wahlweise utopischen oder dystopischen Potenziale der KI im Kontext künstlerischer Arbeit nachdenkt, hört dabei zukünftig am besten Superspace. Luca Glenzer

Allo Darlin’

Allo Darlin’

Bright Nights

Bright Nights

Mit »Bright Nights« veröffentlicht das britisch-australische Quartett nach ganzen elf Jahren Pause leicht unerwartet ein neues Werk. Immerhin klang die Auflösung im Jahr 2016 nach drei Alben und ausgiebigem Touren recht endgültig. Die Veröffentlichung kommt aber eben nur leicht überraschend, da die Mitglieder von Anfang an freundschaftlich eng miteinander verbandelt waren. Das rückblickend temporäre Ende erfolgte nicht aufgrund eines Zerwürfnisses, sondern war viel eher das Resultat der zum damaligen Zeitpunkt unterschiedlichen Lebenspläne. In der Zwischenzeit widmeten sich Sängerin Morris und Bassist Botting jeweils ihren Solo-Projekten. Das vorliegende Allo-Darlin’-Album schließt quasi nahtlos an ihr letztes vor der Pause an. Die Band klingt so vertraut, als ob sie nie weg gewesen wäre. Musikalisch gibt es die bewährte Mischung aus Country, Folk und Twee-Pop. Album Nummer vier ist ein Spiegel der letzten Jahre, in denen sich die Mitglieder insbesondere während der Corona-Pandemie regelmäßig via Zoom trafen. Die Texte der zehn Songs behandeln mit Liebe, Geburt und Tod klassische Erwachsenen-Themen. Botting steuert erstmals auf einem Album von Allo Darlin’ einen Song mit seinem Leadgesang bei. Morris singt so wunderbar nahbar und samtig wie eh und je und versüßt uns damit den Sommer. Alles in allem ist »Bright Nights« ein gleichermaßen reflektiertes wie frisches Album, das die Band in ihrer Kontinuität bestätigt. Kay Engelhardt

Black Honey

Black Honey

Soak

Soak

Wenn etwas Selbstverständliches wie Milch dir Gänsehaut macht, dann wird’s gruselig. In »Clockwork Orange« schafft Gang-Leader Alex das unter anderem mit dem immer wieder süffisant verlangten »Moloko«, dem gar nicht so harmlosen milchhaltigen Cocktail, und einem zynischen Blick. »I know what You like« singt Izzy B. Phillips in »Dead« und diese unschuldige Textzeile kriecht genauso direkt unter die Haut wie der »Moloko«. Der leichte Gesang täuscht nicht darüber hinweg, wie die Zeile weitergeht: »Just press on the Knife« und dann noch weiter: »You can’t kill me now / Cause I’m already dead«. Die einfache Gitarren-Melodie verdichtet sich zu einem drohenden Gewitter. Und das Schlagzeug stampft unbeirrt im monotonen Rhythmus weiter, während Izzy von existenziellen Krisen und schreienden Stimmen im Kopf singt. Das ist also die zweite Single von »Soak«, dem vierten Studioalbum des britischen Indie-Vierers Black Honey. Die zwölf Songs des Albums atmen Stanley Kubricks Geist: Da ist keine brachiale Gewalt, sondern kriechende, leise Spannung. »Insulin« zum Beispiel beschreibt fast poetisch den Tod durch eine Überdosis Insulin. Und wieder der leichte, aber auch süffisante Gesang, begleitet vom reduzierten, sich langsam aufbauenden Schlagzeug. Es ist aber nicht nur die Stimmung, die an Stanley Kubrick denken lässt, sondern auch die Ästhetik der Videos bis hin zum Albumcover: Immer wieder taucht vor allem eines auf: die durch Klammern weit aufgerissenen Augen. In »Clockwork Orange« ist das die zentrale Szene, in der Alex psychologisch umprogrammiert werden soll. Bei Black Honey ist es der Trigger eines schleichenden, unguten Gefühls. Es erinnert uns daran, dass etwas nicht stimmt und dass sich ein Unheil zusammenbraut. Vielleicht in der Welt, in der Gesellschaft oder in der Natur … »Soak« ist der Appell, nicht wegzuschauen und es zu ignorieren, sondern vorbereitet zu sein. Kerstin Petermann

Little Simz

Little Simz

Lotus

Lotus

»Lotus« steht für Reinheit, Wiedergeburt, Reinigung. Klingt nach Zen – ist es vielleicht auch. Aber eben auch zornig. Die Rede ist von Little Simz’ sechstem Album, benannt nach der Blume. Es ist ihr erstes ohne Kindheitsfreund und Stammproduzent Inflo (Sault). Der Grund für den Bruch ist skandalös und öffentlich: Im Dezember 2023 verklagte Simz ihn wegen des Diebstahls von 1,7 Millionen Pfund. Drama genug für ein Konzeptalbum – so let’s go! Mit dem neuen Produzenten Miles Clinton James entwirft Simz eine 50-minütige Klanglandschaft aus Rap, R&B, Afrobeat, Post-Punk, Jazz und Rock – voller Features (u. a. Michael Kiwanuka, Yussef Dayes, Wretch 32), wie man es aus ihrer Diskografie kennt, was natürlich die klangliche Vielfalt des Albums verstärkt. Schon die ersten Tracks sind eine offene Abrechnung, mit zwischen Wut und Enttäuschung oszillierenden Zeilen wie: »Thief / And you know what it means / Selling Lies / Selling Dreams«. Doch mit dem Song »Young« kippt die Stimmung: Simz klingt plötzlich verspielt, kindlich, punkig. Ab hier wird’s weicher: Bossa Nova, dreamy Keys, Streicher (viele Streicher), R&B-Gesang von Sampha und Obongjayar, Tropicalia und sogar Dance-Punk à la ESG. Das Album mäandert also zwischen Zorn, Tanzfläche, spielerischer Indifferenz und Traurigkeit. Vielleicht etwas zu breit für echte Kohärenz – aber trotzdem stark. Vielschichtig, eigenwillig, königlich gerappt. Simz bleibt: Rapping King und Rapping Queen. Libia Caballero Bastidas

Clipse

Clipse

Let God sort em out

Let God sort em out

Sechzehn Jahre ist es her, seit die Gebrüder Thornton – Pusha T und Malice – ihr letztes Album als Clipse veröffentlicht haben. Die beiden Rapper aus Virginia machten um die Jahrtausendwende von sich reden – mit Songs über den Handel mit Kokain und Beobachtungen aus dem Milieu, die der alten Trope neues Leben einhauchten. Über die wegweisenden Beats des Produzentenduos Neptunes, die sich nicht vor Synthie-Elementen scheuten, flogen ikonische Kokain-Vergleiche, die gleichermaßen schmunzeln wie staunen ließen. Nach drei Alben war 2009 Schluss: Genervt von Labelquerelen und persönlichen Differenzen gaben die Brüder bekannt, sich auf Solokarrieren zu fokussieren. Pusha T fand Gefallen daran, den Bogeyman der Szene zu spielen, Malice zu Jesus. 2025 nun das große Reunion-Album: produziert von Ex-Neptune Pharrell Williams, die Erwartungen hoch an das spektakulärste Release des Jahres. Mit 48 (Pusha T) und 52 (Malice) sind die beiden im jungen Rapgame graue Eminenz. It’s a young Man’s game? Keine Spur. Kalte Sprüche dafür en masse, die erste Veröffentlichung »So be it« schaffte Tatsachen. Über ein geniales Sample saudi-arabischer Volksmusik rappt Pusha T: »Your Soul don’t like your Body, we’ll help you free it« und in der letzten Strophe wird Travis Scott gedisst, als wäre es nichts. Die Beats von Pharrell haben immer noch die Tiefe und die einzigartigen Drums, »All Things considered« klingt wie ein finsteres Schachspiel um Leben und Tod während Clipse über Macht und ihre Implikationen rappen, als wären es Cäsar-Zitate. Ein Sample zieht sich durch das Album, auf dem eine KI-Frauenstimme emotionslos »This is culturally inappropriate« sagt. Hip-Hop im Jahr 2025 braucht das. Jan Müller

Motusneu & Steve Swell

Motusneu & Steve Swell

War der Clown gar nicht echt?

War der Clown gar nicht echt?

So verspielt wie das farbenfrohe Mixed-Media-Cover aus fabelhaft überzeichneten Pola- roids (Oskar Rottenbach) ist auch die Musik von Motusneu. Das 2022 gegründete Trio mit Bruno Angeloni am Saxofon, Stephan Deller am Kontrabass und Steffen Roth an Schlagzeug, Zimbeln und anderen Objekten schafft gemeinsam mit dem US-amerikanischen Musiker Steve Swell an der Posaune Improvisationen mit einer Kraft von mindestens 1,8 Meganewton. Ausgezeichnet ist die Arbeit des Trios – und zwar mit dem jüngst verliehenen Jutta-Hipp-Preis in der Kategorie Improvisation. Mit der aktuellen Veröffentlichung »War der Clown gar nicht echt?« bewegen sich die Musiker durch filigrane, herrlich versponnene Klanggewebe. So heben im dritten Song (»1«) die Bläsermelodien in außerweltliche Höhen ab, woraufhin sich die tiefen Kontrabass-Spielereien leichtfüßig um das eher dezent tönende Schlagwerk winden. Mit dem vierten Song (»8«) wird die Energie, die der Musik innewohnt, ganz unmittelbar durch den Atem der Bläser hörbar. Die Musiker experimentieren organisch mit allerlei Geräuschen, die sie auf ganz unterschiedliche Weisen ihren Instrumenten entlocken. Diese Eindrücke unterlaufen die Erwartungen, die der erste Track (»7«) weckt, der eher in das Album hineinpoltert und mit eifrigen Tönen die Hörerinnen und Hörer mit sich zerrt. Es lohnt sich allerdings, dem zu folgen, denn die Kraft, die sich mit den Livekonzerten der Musiker entlädt, wirkt auch gebannt auf der Platte – und das ist wirklich bemerkenswert. Claudia Helmert

Sally Shapiro

Sally Shapiro

Ready to live a Lie

Ready to live a Lie

Mit ihrem fünften Studioalbum sind Sally Shapiro und Johan Agebjörn auf dem US-Label Italians do it better angekommen. Das passt nicht nur wegen des Namens perfekt, sondern auch wegen Labelmates wie den Chromatics. Mit denen teilt das Duo die Liebe zu Synthwaves der Achtziger, der melancholischen, artifiziellen Seite des Pop. 18 Jahre nach ihrem Debüt »Disco Romance« sind die Schweden ihrem Sound treu geblieben. Ein Klangkosmos, der keine Veränderung braucht. Immer noch baden sie im sehnsuchtsvollen Italo-Disco-Sound von Giorgio Moroder und italienischen One-Hit-Wundern wie Raf, Baltimora und Gazebo, die diesen Stil Mitte der Achtziger prägten. Shapiros Gespür für eingängige Popmelodien und Agebjörns kristallklare Produktion machen daraus ein einzigartiges Studioprojekt, das auf Promo- oder Liveauftritte verzichtet. Die Melancholie ist auf »Ready to live a Lie« präsenter denn je. War auf den ersten Alben noch die Euphorie des Verliebtseins zu spüren, zeigen sich jetzt überall Risse in den Beziehungen, die Zweisamkeit ist einer vorherrschenden Einsamkeit gewichen. Eine umarmende Traurigkeit umspielt die zehn Stücke, zu denen auch ein makelloses Cover des Pet-Shop-Boys-Hits »Rent« zählt. Sehnsucht verpackt in Synthflächen, Electro-Drums und Shapiros gehauchtem Gesang. Der melancholische Soundtrack zum Sommer. Lars Tunçay

Bed

Bed

Everything hurts

Everything hurts

Samstag, 7. Juni, Kantine am Berghain. Auf der Bühne: eine weißbezogene, herzförmige Matratze – grenzwertig kitschig, ja, aber irgendwie auch sexy und verdammt passend zum Abend. Denn die Band heißt schließlich Bed und singt Zeilen wie: »Heart-shaped Bed / Bugs in my Head / My Life is a Lie / That sells well.« Nicolás Astorga (Gesang), Sol Astolfi (Bass, Gesang) und Jon Brinkmann (Gitarre) stellen ihr Debütalbum »Everything hurts« vor. Statt bravem Shoegaze-Bodenstarren gibt’s Interaktion und zarte Erotik. Im roten Licht verschmelzen Stimme, Gitarre und Bass zu einem dichten Soundschleier. Astorgas Gesang ist kaum verständlich, völlig verfremdet: Durch den Octaver-Effekt wirkt die Stimme weiblich, engelsähnlich, choral, verhallt, verhüllt. Live bleiben Bed fast exakt am Albumklang. Musikalisch irgendwo zwischen My Bloody Valentine und Cocteau Twins – nur eben ausgesprochen queer, clubbig und mit Spoken Word. Ein bisschen mehr Körper würde sicher nicht schaden (wir sagen nur: Schlagzeug!), aber das wird schon noch. Entstanden aus toxischen Liebesgeschichten ist das Album hochpoetisch und klingt wie etwas, das man sicher kennt, ohne es je gehört zu haben: ein Phantomschmerz im eigenen Musikgedächtnis. Verwirrend schön oder angenehm falsch. Libia Caballero Bastidas

Jeanines

Jeanines

How long can it last

How long can it last

Alicia Jeanine und Jed Smith stecken hinter diesem etwas schwer auszusprechenden Projektnamen. Ihre Wahlheimat ist New York. Aber seit beinahe zehn Jahren huldigen sie dem Sound der späten Achtziger und frühen Neunziger Großbritanniens. Gemeinsam mit ihrer langjährigen Tour-Bassistin Maggie Gaster haben sie dieses flotte und knackige Album eingespielt. Die Bands auf Sarah Records im Besonderen und das C86-Genre im Allgemeinen sind fraglos gute Koordinaten in ihrem Klangkosmos. Textlich handelt »How long can it last« vom üblichen Fluch und Segen des Lebens: Turbulenzen in zwischenmenschlichen Beziehungen, dem Suchen und Finden von Verbindung und verschiedenen Formen des Scheiterns. Das Markenzeichen der Jeanines ist es, Pop auf den Punkt zu bringen. Elf der hier versammelten dreizehn Songs sind kürzer als zwei Minuten. Dennoch enthalten sie alles, was einen guten Song ausmacht: großartige Melodien, tolle Basslinien und vor allem jangly Gitarren. Auch wenn wir es nicht anders von dieser Band kennen, ist es doch immer wieder verblüffend, mit welcher Perfektion und Präzision ihr das gelingt. Stimmlich erinnert Alicia Jeanine oft an Vashti Bunyan, auch wenn der Sound der Jeanines ein anderer ist. The Garlands, Pale Lights und Dolly Mixture sind weitaus bessere Referenzen, wenn es darum geht, das Album musikalisch dingfest zu machen. Kay Engelhardt

Wet Leg

Wet Leg

Moisturizer

Moisturizer

»All Day long on the Chaise Longue«, mit diesem Reim für die Pop-Geschichtsbücher und dem dazugehörigen Song über gepolsterte französische Liegemöbel begann vor vier Jahren der – hier kann man diesen abgegriffenen Superlativ ruhig mal verwenden – kometenhafte Aufstieg der Indie-Band Wet Leg. Das Duo von der britischen Isle of Wight wurde mit seinem schnoddrigen Mix aus Indie-Rock, Post-Punk und Riot-Grrrl-Attitüde quasi über Nacht zu einer der gefragtesten Gitarren-Bands des Landes. Nun kam in Diskussionen über das Phänomen Wet Leg gelegentlich die Frage auf, ob es sich bei der ganzen Sache womöglich bloß um eine medial gehypte popmusikalische Eintagsfliege handele. Zumindest das lässt sich nach dem Hören des zweiten Albums »Moisturizer« mit einem ganz energischen Nein beantworten. Der Platte merkt man an, dass das anfängliche Just-for-Fun-Projekt mittlerweile zu einer eingespielten und musikalisch ehrgeizigen Einheit verschmolzen ist. So ist Wet Leg nun auch ganz offiziell kein Duo mehr, sondern zur fünfköpfigen Band angewachsen. Insgesamt legt »Moisturizer« auf die bewährten Wet-Leg-Sound-Komponenten noch mal eine ordentliche Schippe drauf (und spart allerhöchstens beim Ohrwurmpotenzial). Die Songs sind tighter, rotziger, lauter, crunchier, sassier, selbstbewusster (man könnte noch so einige weitere Adjektive aufzählen), verlieren dabei aber auch nicht die frische Unbekümmertheit und charmante Selbstironie des Debüts. Die gewohnt nonchalanten Lyrics drehen sich um das obsessive Chaos des In-Love-Seins, aber auch um das Gegenteil, sprich: unangenehm aufdringliche Typen: »I just threw up in my Mouth, when he just tried to ask me out.« Also alles in allem hat der Pressetext Recht: »Fun and freaky and fabulous!« Yannic Köhler

Pulp

Pulp

More

More

Oasis oder Blur?, lautete in den Neunzigern eine (viel) zu oft gestellte Frage, auf die es stets nur eine Antwort geben konnte: Pulp. Nicht nur, weil das Quintett aus Sheffield stets cleverer, subtiler und humorvoller war als seine prominente Konkurrenz, sondern vor allem, weil es mit Mastermind Jarvis Cocker sowohl den besten Songschreiber als auch den begabtesten Sänger in seinen Reihen hatte. Mit ihren beiden Alben »His ’n’ Hers« und »Different Class« stiegen Pulp ab 1994 in den britischen Pop-Olymp auf, bevor 2001 nach dem siebten Album »We Love Life« Schluss war. Doch ebenso wie ein klassischer Pulp-Song steckt auch die Geschichte der Band voller unerwarteter Wendungen. Und so erschien just im Juni nach 24 Jahren der langersehnte Nachfolger – mit dem schlichten Titel »More«. Und mehr meint in diesem Falle wirklich mehr, denn das Album ist weit entfernt von einem lauen Aufguss früherer Tage. Noch immer sprudeln lupenreine Hits aus Cockers jung gebliebenem Geist, der immerhin auch schon 61 Jahre zählt. Mit Songs wie »Spike Island«, »Grown ups« oder »Got to have Love« gelingt der Formation der Spagat zwischen den Neunzigern und der Gegenwart, was auch phänomenale Zeilen wie »I haven’t got an Agenda / I don’t even got a Gender« unterstreichen. Ein besseres Comeback wird es 2025 nicht mehr geben. Da werden höchstens die Gallagher-Brüder widersprechen. Luca Glenzer

Kae Tempest

Kae Tempest

Self titled

Self titled

Mit dem fünften Studioalbum machen wir eine sehr persönliche Tour zu den Wurzeln und der Entwicklung von Kae Tempest. Es ist deshalb nur logisch, dass das Album »Self titled« heißt. Die zweite Single schlägt mit dem Titel »Know yourself« auch den thematischen Bogen. Sie heißt aber nicht nur »Kenne dich selbst«, sondern ist eine ganz aktive und reale Vergangenheitsarbeit: Mit älteren Samples wird Tempests frühere, höhere Stimme der jetzigen Stimme gegenübergestellt. Gleichzeitig spiegeln die Samples auch (innere) Dialoge wider, die Tempest zu der Zeit geführt hat. Sie nehmen uns mit auf den Weg einer Identitätsfindung. Wie schwierig und schmerzhaft diese Identitätsfindung sein kann – insbesondere für eine queere Person –, zeigt die erste Single des Albums »Statue in the Square«. Sie beinhaltet die bittere Erkenntnis, als queere Person vielleicht aus Gründen des Pink-Washings oder sonstiger Bigotterie geehrt zu werden, als »so eine« aber eigentlich nicht gewollt zu sein. Auf den zwölf Songs geht es aber nicht nur um Queerness, sondern ebenso um Selbstbestimmung und Selbstliebe. Diese Themen verhandelt »Self titled« sehr persönlich entlang der eigenen Biografie und Erfahrungen Kae Tempests. Auf dem Album sind deshalb auch Artists wie die Young Fathers, Connie Constance oder Neil Tennant vertreten, die Tempest über die Jahre hinweg begleitet und inspiriert haben. Trotz aller Intimität, die in diesem Album steckt, ist dieses auch eine gesellschaftliche Ansage und Anklage: Anklage, weil es zeigt, welche Unsicherheit und Diskriminierung mit Queerness immer noch verbunden sind. Ansage, weil es auch zeigt, welches Empowerment und welche Schönheit in Queerness stecken. Mit »Self titeld« ist nicht nur im Juni Pride Month, sondern immer. Kerstin Petermann

Various Artists

Various Artists

Jahtarian Dubbers Vol. 5

Jahtarian Dubbers Vol. 5

Mehr als eine Dekade brauchte es, bis sich die »Dubbers« von Jahtari, des in Connewitz residierenden, ansonsten aber weltweit agierenden wie wahrgenommenen Labels, zur fünften Runde versammelten. Wobei die zweiten zehn Jahre der Label-Existenz – deren XXer-B-Day-Party noch aussteht – nicht zuletzt eine Phase vermehrter Dub-Diversitäts-Suche waren. Nach Sound-Entgrenzung jenseits der zur Erfolgsformel gewordenen Trademark-Mixtur, die 8Bit-Trashigkeit mit Bass-Schwere verbinden konnte, verwiesen sei auf Waq Waq Kingdom, The Other Others, Cosmic Threat oder das letzte Tapes-Album. Nachdem also Erwartungen unterlaufen oder neue geschaffen wurden, scheint es nun mit Volume 5 umso leichter, an die Ursprünge anzuschließen. Nämlich, ohne sich einzwängen zu lassen. Wobei der beschwingte Electric-Reggae-Bogen von Teneriffa, Japan (im Nebenzimmer) oder Neuseeland über Frankreich, die Niederlande oder UK bis zurück nach Connewitz schlägt. In einer Selection mit Rewind-Effekt. Alexander Pehlemann

Various Artists

Various Artists

Free/Future/Music Volume 1

Free/Future/Music Volume 1

Zukunftsmusik? Hani Mojtahedy erinnert mit ihrem Track »Passaporte« an ihre Kindheitsträume von einem Pass, der damals einem Zukunftsversprechen auf Freiheit glich. Die im Iran geborene, kurdische Sängerin träumt dabei in traditionellen Melodien, die sich um hypnotische Rhythmen winden. Konturiert von Andi Tomas (Mouse on Mars) elektronischen Akzenten, erhebt sich aus der Musik Mojtahedys starkes Timbre, ihr energetisierender Gesang. Mit dem Track »General Assembly« zeigt sich eine ganz andere Kollaboration: The Space Lady – die in den Achtzigern ihren Namen erst wegen ihres Sounds und Looks vom Publikum zugeschrieben bekam – durchbricht mit ihren Worten und ihrem rauschvollen Klang einen gleichförmigen Dub. Jene Repetitive des Hamburger Trios Cloud Management sollen dabei gar nicht den Eindruck von Einfallslosigkeit aufkommen lassen, sondern schaffen vielmehr eine klare Fläche, auf der die Worte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte leuchten, die die US-amerikanische Künstlerin rezitiert. Und das sind nur zwei Beispiele für die Vielfalt, die das Leipziger Label Altin Village & Mine auf »Free/Future/Music« versammelt. Verbundene und befreundete Künstlerinnen und Künstler finden für den Sampler teilweise erstmals zueinander und zeigen, wie ihre Synergien nicht nur besondere Klänge schaffen, sondern auch ein Zeichen für Zusammenhalt und Solidarität in und durch die Musik sind. Die rhizomartigen Verbindungen, also Verflechtungen, reichen über Genres, Länder, Generationen und Künste hinaus – und sind erst der Anfang, auf den, laut Label, weitere Essays und künstlerische Interventionen folgen werden. Und das ist gut, denn diese Musik macht Lust auf mehr. Claudia Helmert

Haim

Haim

I quit

I quit

»Das war’s. Ich bin dann mal weg.« – Die drei Schwestern von Haim sagen auf ihrem vierten Album: »I quit«. Es gehört schoneiniges dazu, um sich so zu verabschieden: Mut zum Beispiel. Oder Wut. Und Abenteuerlust und Selbstbewusstsein. Genau darum geht es auch auf »I quit«. Es ist kein Abschiedsalbum und auch kein Tritt in den Hintern der Musikindustrie. Es ist eine Ode ans Sich-Durchbeißen und an den Mittelfinger. Und gegen wen hebt man diesen? Gegen alles, was einem nicht passt und was nervt, das Patriarchat beispielsweise. Oder gegen die eigene Unsicherheit und gegen das, was andere über einen denken. So feiert die Single »Relationships« die Freiheit, die eine Trennung auch bedeuten kann. Danielle am Schlagzeug setzt den treibenden Beat und steht damit für die Energie, die die neue Beziehungslosigkeit freisetzt. Noch mehr Kraft steckt aber in »Down to be wrong«. Auch dieser Song feiert die Unabhängigkeit. Er ist der Soundtrack zum Alles-hinter-sich-lassen-und-Abhauen. Dabei schwingt in Zeilen wie »I’m on the next Flight and you can’t talk me out of it« kein bisschen Wehmut oder Zögern mit. Im Gegenteil: Danielle Haims Gesang ist nicht nur gradlinig-kraftvoll wie nur was – in der Melodie schwingt auch eine Leichtigkeit mit, als würde sie vom Flug in den Urlaub singen. Während »Relationships« eher electro-poppig und mit Dance-Appeal daherkommt, wirkt »Down to be wrong« durch den unmittelbaren Gesang fast schon roh und kraftvoll. An anderer Stelle verzichten Danielle und Rostam Batmanglij bei der Produktion auf Synthies und Spielereien und lassen einen eher folkigen Popsound stehen. Damit gelingt Haim ein wunderbar abwechslungsreiches Pop-Album. Die Schwestern zeigen auf »I quit«, auf wie viele Arten Pop Kraft und Energie freisetzen kann. Kerstin Petermann

Etienne de Crécy

Etienne de Crécy

Warm up

Warm up

Neue Musik gab es in den vergangenen zwei Dekaden ja durchaus von Etienne de Crécy. Neben der Reihe »Superdiscount« waren das vor allem Singles und EPs. Sein letztes »reguläres« Studioalbum war sein Debüt »Tempovision« im Jahr 2000. Mit »Warm up« kommt nun also ein neues Werk vom Mitbegründer des French Touch und gleichzeitig die Weiterentwicklung seines Sounds. Der erste von zahlreichen Gästen auf dem Album ist Alexis Taylor von Hot Chip. Der schwedische Singer-Songwriter Peter von Poehl ist auf dem poppigen »Brass Band« zu hören. Der britische Hip-Hop-Künstler Master Peace rappt mit Frank Leone. Olivia Merilahti von The Dø ist mit dabei, Kero Kero Bonito, eine britische Indie-Band, und Damon Albarn auf dem wundervollen Closer »Rising Soul«. Etienne de Crécy legte die Tracks als Instrumentals an und schickte sie an die Künstlerinnen und Künstler, die ihre Texte und Vocals beisteuerten. Sie haben aber hörbar auch eigene Soundideen mit hineingebracht und dem Ganzen so ihren eigenen Touch verliehen. »World away« könnte auch ein Hot-Chip-Track sein. »Rising Soul« mischt die melancholische, verschrobene Note von Damon Albarn mit dem Elektrosound von Crécy. So ist die Handschrift der Gäste bei jedem der elf Stücke zu spüren. Das geht erstaunlich gut zusammen. Etienne de Crécy zielt hier nicht wie in der Vergangenheit auf den Dancefloor. »Warm up« ist entspannter, chilliger und von der Pandemie beeinflusst, als wir uns den House eher ins Haus holten. Lars Tunçay

Ezra Furman

Ezra Furman

Goodbye small Head

Goodbye small Head

Eine angenehme Begleiterscheinung des Daseins als Musikjournalist ist es, viele Konzerte besuchen zu können. Dies wiederum ist mit der weniger angenehmen Begleiterscheinung verbunden, dass das Gros der besuchten Konzerte im Angesicht der schieren Quantität in der Erinnerung schon nach kurzer Zeit zu einem unentwirrbaren, mittelmäßig guten großen Ganzen verkommt. Anders aber ist das bei Ezra-Furman-Konzerten. Woran das liegt, ist schwer zu sagen. Vielleicht daran, dass man als Zuschauer das Gefühl hat, in die inneren Abgründe der US-amerikanischen Musikerin zu blicken. Was man dabei zu sehen bekommt, ist eine in dieser Intensität selten erfahrene Mixtur aus roher Punk-Energie und tief empfundener Verletzlichkeit. Diese beiden Parameter sind auch auf den ersten neun Alben maßgeblich – ebenso wie auf dem nun just erschienenen »Goodbye small Head«, das mitunter so klingt, als hätten sich The Stooges, MGMT und Joni Mitchell zu einem gemeinsamen Jam getroffen. Schwer zu sagen, wie man das nennen soll. Furman schlägt »orchestrales Emo-Prog-Rock-Album mit Samples« vor, nicht unpassend, vielleicht aber ein bisschen sperrig. Ganz anders als Songs wie »Sudden Storm«, »Jump out« oder »Veil Song«, die sich spätestens nach dem zweiten Hören in die Hirnrinde fräsen. Bleibt nur zu hoffen, dass Furmans bisherigem Tourneeplan demnächst noch ein paar Deutschland-Termine folgen. Luca Glenzer

Drangsal

Drangsal

Aus keiner meiner Brücken die in Asche liegen ist je ein Phönix emporgestiegen

Aus keiner meiner Brücken die in Asche liegen ist je ein Phönix emporgestiegen

Die Asche lügt nicht. Sie erinnert nur an das, was war, was brannte und erlosch. Daraus formt Max Gruber alias Drangsal sein viertes Album und sein neues Projekt. Drangsal ist tot – es lebe Drangsal. Nach dem persönlichen und künstlerischen Kollaps in Folge des 2021er-Albums »Exit Strategy« hat Gruber sein bisheriges Soloschaffen abgewickelt und Drangsal als Kollektiv wiederbelebt. Mit Lukas Korn und Marvin Holley an Grubers Seite ist ein Album entstanden, das sich nicht auf alten Stärken ausruht: »Aus keiner meiner Brücken die in Asche liegen ist je ein Phönix emporgestiegen« trägt einen Titel, der so sperrig ist wie die Songs darauf. Statt des finsteren Synth-Pops der frühen Jahre dominieren nun warme analoge Klänge: Akustikgitarren, Streicher, Holzbläser und viel Raum. Titel wie »Ich hab von der Musik geträumt« oder »Inkomplett« spielen mit Reduktion und Intimität, lassen Dissonanzen und Fragmente zu. Die Arrangements wirken teils unaufgeräumt, was Max Riegers Produktion und dem Credo »so wenig wie möglich, so viel wie nötig« geschuldet ist. Das Album driftet aber nie ins Beliebige ab, dafür sind die beteiligten Musiker zu achtsam und Grubers Texte zu präzise in ihrem Blick auf Grenzen und Brüche. Inhaltlich folgt die LP den Rändern der Selbstauflösung: Identitätsverlust, Angststarre, Kontrollverzicht – aber da ist auch das vage Versprechen, dass Kunst tröstet. Laura Gerlach