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Rezensionen

Shitney Beers

Shitney Beers

Amity Island

Amity Island

Dieser Hinweis ist sicher nicht neu, aber wer bislang keine Berührungspunkte mit Shitney Beers hatte, mag beim ersten Hören überrascht sein. Während der Name süffigen Streetpunk verheißt, erzählt das »Intro« eher von musikalischer Nähe zu Acts wie Boygenius. Wo deren Melodien allerdings teilweise so gewollt sperrig scheinen, dass es an Prätention grenzt, ist das Songwriting auf »Amity Island« zugänglicher. Das bedeutet nicht, dass es den Titeln der LP an Tiefgang mangelt. Schon in der Auskopplung »Maya Hawk«, die mit gniedeliger Gitarre auf einem entschieden lässigen grungey Soundteppich quasi das vertonte Pendant ist zur erfolgreichen Bemühung, vorm eigenen Crush cool dazustehen, wird nicht unreflektiert taggeträumt. Dem lyrischen Ich ist durchaus bewusst, dass eine Zukunft mit der amerikanischen Angebeteten die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung bedeuten könnte. Und auch abseits des Tiktok-tauglichsten Songs der Platte bleibt man textlich, wenn auch zum Teil hüpfend, recht bodennah. In »N4N« beispielsweise werden schmerzhafte Fragen zu Genderidentität und der Deutungshoheit darüber gestellt – ganz ohne theoretisches Gefasel, stattdessen unmittelbar und eindringlich. Entsprechend ist »Amity Island« trotz nostalgischer Instrumentation – da ist ordentlich 90s-College-Rock drin – vielen anderen Alben des Jahres weit voraus. Laura Gerlach

Cathy Krier

Cathy Krier

Piano Poems

Piano Poems

Das Album »Piano Poems« der Luxemburgerin Cathy Krier ist eine Zusammenstellung unterschiedlichster Programmmusik, die jeweils einen literarisch-poetischen Hintergrund hat. Krier unterstreicht darin, dass sie eine hervorragende Pianistin ist, deren »Gaspard de la nuit« – Ravels berühmtes, durch seine pianistischen Anforderungen geradezu berüchtigtes Werk – den Vergleich mit zahlreichen Veröffentlichungen dieses ungeheuer populären Werkes nicht scheuen muss. Wunderbar gespielt auch Prokofjews Cinderella-Stücke, in denen Charles Perraults Märchen (ein Vorläufer vom »Aschenputtel» der Brüder Grimm) lebendig wird. Ein wenig beliebig wirken hingegen die drei Liszt-Bearbeitungen der Schubert-Lieder, die Liszt natürlich in romantischer Manier für sich selbst geschrieben hat und die durch Salon-Ornamente oft einfach kitschig wirken (»Ständchen«!). Wirklich interessant und im Zentrum des Albums stehen die beiden kurzen Welt- ersteinspielungen zweier zeitgenössischer Komponistinnen: Catherine Kontz und Konstantia Gourzi. »Murmuration« nennt Kontz ihr Stück, das seine Inspiration aus den poetisch anmutenden Formationen der Vogelschwärme schöpft – ein Naturphänomen, das poetisch wahrgenommen und gedeutet wird. Ein Meisterwerk ist Konstantia Gourzis »Ithaka«, bei dessen Ausführung, wie bei Kontz, auch der Flügelinnenraum genutzt wird. Ein Gedicht des griechischen Schriftstellers Konstantinos Kavakis, das Odysseus’ Rückkehr in seine Heimat Ithaka thematisiert und in dem es letztlich um Selbstfindung geht, liegt dem Werk zugrunde. Die Musik ist eine spirituelle Miniatur, zeitlos, sprechend, wundersam meditativ und poetisch. Musik als Essenz des Lebens. Silke Peterson

Philipp Orlowski

Philipp Orlowski

Zu Hause

Zu Hause

Okay, das hier könnte ein wenig wie Tabu-Spielen werden: Bitte rezensieren Sie Philipp Orlowskis neue EP »Zu Hause«, ohne folgende Acts zu nennen: Max Müller bzw. Mutter, Christoph Schreuf bzw. Kolossale Jugend, Brezel Göring, Chris Imler … Das Ohr sucht ja immer nach Orientierung. Aber das würde Philipp Orlowski nicht gerecht werden, er hat seinen ganz eigenen Blick auf die Welt und seine ganz eigene Art, diesen in Kunst umzusetzen. Das hat der Leipziger seit Jahren in verschiedenen Kunstformen wie Malerei oder Comic und unter verschiedenen Pseudonymen bewiesen. Mit Bands wie Centaur, Schgrampf oder als Dave Bowman zeigt er, dass er selbst in einer einzigen Kunstform – in diesem Fall der Musik – viel auszuloten vermag, egal ob mit Punk, Electro, Indie oder Psychedelic. Die Texte der hier vorliegenden vier Tracks sind getragen von einer Spannung aus abstrakten Fragmenten und subjektiver Konkretheit. »Akzeptanz ist das Gefühl, das dein Herz befreit / Wenn du plötzlich Liebe siehst, ist es schon längst zu weit«, singt er an einer Stelle und ruft damit ein Sammelsurium an Assoziationen hervor. Wörter wie »Liebe« und »Akzeptanz« sind als Gefühle bekanntermaßen konkret, als Konstrukte aber unendlich weit. Ähnlich komplex funktioniert auch die Instrumentierung: Minimalistisch getragen von Bass oder Schlagzeug, gibt sie Melodie und Gesang den nötigen Raum. Unter den straighten Basslinien und Gitarren sind kleine Soundspielereien eingebaut. Mitunter lockern Melodieschnipsel das Geschehen auf. Damit knüpft Orlowski immer wieder an den Sound von Centaur an und liefert wunderbare Dada-geprägte Gesellschaftskritik und Alltagsbeobachtungen. Kerstin Petermann

The Smile

The Smile

Cutouts

Cutouts

Mit »Ok Computer«, dem Überalbum, begann 1997 ein neues Kapitel in der Bandgeschichte von Radiohead. Das dritte Werk bedeutete nicht nur den kommerziellen Durchbruch, es verschaffte der Band auch Freiheit, aus der »Kid A« und »Amnesiac« geboren wurden. Die gestiegene Aufmerksamkeit machte aber auch den kreativen Prozess komplizierter. Die Band füllte Stadien, die Alben wurden aufwendiger und es wurde immer schwieriger, alle fünf Köpfe zeitgleich ins Studio zu bekommen. In der Pandemie begannen Thom Yorke und Johnny Greenwood damit, sich Ideen hin- und herzuschicken, aus denen schließlich The Smile entstand. Gemeinsam mit dem Sons-of-Kemet-Drummer Tom Skinner steht die Improvisation im Vordergrund, der schnelle kreative Arbeitsprozess. So entstand nun bereits das dritte Album, nach »Wall of Eyes« das zweite innerhalb von einem Jahr und das bisher schlüssigste. »Cutouts« entstammt denselben Aufnahmesessions wie der Vorgänger, ist aber doch einen Schritt weiter. Der Geist von Krautrock verschmilzt perfekt mit Greenwoods Arrangements, Yorkes Strom aus Worten und dem jazzigen Schlagzeugspiel von Skinner. Die wiedergewonnene Freiheit ist spürbar, der Spaß daran zeigt sich auch in den regelmäßigen Liveauftritten. Besonders Greenwood und Skinner haben hier eine gemeinsame rhythmische Sprache gefunden, über der Yorke improvisiert. Die zehn Stücke sind keinesfalls Fragmente, sondern stilistisch vielfältige Miniaturen, die Inspiration aus allen Richtungen ziehen. Lars Tunçay

JPD

JPD

Chat JPD

Chat JPD

»Zukunftsmusik« ist der Auftakt für das Album »Chat JPD«. So beweist Julian Philipp David aka JPD auch mit seiner zweiten Veröffentlichung, dass er sich auf mehr als nur klangvolle Akronyme versteht. Für jenen Titeltrack wattiert der 32-jährige Musiker Gedanken an das Leben im Hier und Jetzt und den Zwang zur Zukunftsvorstellung in eingängigen, tanzbaren Pop. Die elektronischen Klangströme bremst der Wahlleipziger deutlich, wenn er mit seinen Rapeinlagen den katastrophalen Größenwahn Elon Musks anklagt. Doch statt in Wut umzuschlagen, bleibt der Sprechgesang leichtfüßig: »Du und ich sind Space Invaders / klettern hoch auf die Wohncontainer / füllen das Gras in die langen Papers / gegen die Traurigkeit / und so Katastrophen denken wir uns / möglichst weit entfernt von hier / eine neue Zukunft für uns aus.« So träumt sich JPD mit seinen Hörerinnen und Hörern zum »Mars«. Doch angreifen kann JPD sehr wohl: So erstarkt der Slogan »Fick die Investoren / Die Häuser denen, die drin wohnen« gemeinsam mit der pulsierenden Melodie im Song »Investoren«. Mit ein bisschen Self-Care (»Augenblick (für mich)«) und dem verspulten Song »Ruhetag« klingt das ultragegenwärtige Album aus – stark! »Chat JPD« birgt tanzbare Fluchtimpulse aus der erschöpfenden Gegenwart, umarmende Lyrics, die bisweilen von herzerwärmenden Träumen einer schöneren Welt erzählen. Herrlich! Claudia Helmert

Nola

Nola

Blindly and fast

Blindly and fast

Wer kennt nicht Gefühle der Reizüberflutung und Überforderung? Genau darum geht es auf der zweiten EP von Nola. Schnell dreht sich unsere Welt und blind müssen wir im Alltag manchmal darauf reagieren. Bei dem Leipziger Quartett klingt das sehr tanzbar. Das Trio um Sängerin Nola Fuchs präsentiert dabei fünf Tracks, die zwar an Trip-Hop erinnern, aber dies vor allem wegen der Beats und Keyboard-Sounds, die das Fundament bilden, über das sich Fuchs’ kräftige Stimme legt. Hier gibt es aber keinen Drumcomputer und keine Soundprogramme, sondern live eingespielte Instrumente. Heraus kommt ein überraschend warmer und organischer Klang, der wunderbar zum Thema der EP passt, bei dem ja durchaus starke Gefühle wie Resignation oder Verzweiflung mitschwingen. Das zeigen besonders eindrücklich die beiden Singles, »Some Parts« und »ADHD«. Was könnte auch ein besseres Sinnbild für Überforderung sein als die Aufmerksamkeitsstörung ADHD? »Some Parts« beschreibt dabei ein diffuses Gefühl von Orientierungslosigkeit, das sich ergibt, wenn wir die ganz große Welt erklären wollen oder herausfinden wollen, wer wir eigentlich sind. Damit ist es zugleich das passende thematische Titelstück, denn aus dieser emotionalen Gemengelage speist sich ja allzu oft die Überforderung. Damit schaffen Nola es nicht nur, thematisch einen roten Faden zu ziehen. Das eher bedrückende Thema reibt sich ganz wunderbar an den spielerischen Beats und Melodiefragmenten der Instrumente. Kerstin Petermann

Geordie Greeps

Geordie Greeps

The New Sound

The New Sound

Der Spruch, Geschichte wiederhole sich, kommt nicht von ungefähr. Ein Beweis dafür ist folgender Fall musikalischer Synchronizität: Am 3. Oktober 1989 veröffentlichte ein experimentierfreudiger David Byrne sein Solo-Debüt-Album »Rei Mono«, in dem der Talking-Heads-Leadsänger Musikenthusiasten auf der ganzen Welt mit einer schrecklichen Salsa-Rock-Fusion konfrontierte – wenig später löste er die Post-Punk-Band aus New York auf. Im August 2024 löste sich wiederum die Math-Rock-Avantjazz-Band Black Midi aus London auf, womit sie unzähligen Fans das Herz brach. Und am 4. Oktober kam Black Midis Leadsänger Geordie Greep mit der Veröffentlichung seines Solo-Debüt-Albums »The New Sound« um die Ecke. Und womit experimentiert der 25-Jährige auf seiner Befreiungsscheibe? Natürlich mit mannigfaltiger »Tropicália«! Mal Salsa, mal Mambo, mal Tango oder einfach alles gleichzeitig. Ja, warum denn nicht? Dieser neue Klang, so wie Creep es nennt, integriert nicht nur den Rhythmus südamerikanischer Tanzmusik, sondern verbindet diesen mit dem für Black Midi charakteristischen progressiven Post-Rock-Sound, dem Crooner-artigen Gesang Creeps, seiner mal punkigen, mal theatralischen Stimmabgabe – und das mit der Unterstützung von 30 Gastmusikerinnen und -musikern! Das Album wurde in wenigen Tagen in Brasilien aufgenommen und ist wahrhaftig die Tür zum intersektionalen Wahnsinn. Mach sie auf und du wirst sehen, wie kräftig David Byrne die Hüfte dazu schwingt. Libia Caballero-Bastidas

Torx

Torx

Torx

Torx

Bereits Anfang September erschien das selbstbetitelte Debüt der Leipziger Band Torx via Splitter Rec & U-Bac und hat in der hiesigen Musiklandschaft einigen Wirbel erzeugt. Nicht zuletzt, weil man die Band einige Male live erleben konnte in den coolen Punk- und Indieläden der Stadt. Digital und als schön gestaltete Kassette in Grün, Orange und Blau kann man das Album bei Bandcamp erwerben. Schon das Artwork verrät, wie künstlerisch gearbeitet wird. Die Musik löst das Versprechen ein. Das Trio schafft dabei den bemerkenswerten Spagat, die Kompositionen raffiniert zu gestalten, ohne dabei Eindringlichkeit und Energie zu verlieren. Ein Konzept, das an Devo oder die Talking Heads erinnert – was auch durch die zackigen, edgy Licks und den nüchtern-nervösen Gesang naheliegende Assoziationen sind. Das Geschehen wird dabei bestimmt von sich wiederholenden Patterns, kurzen, repetitiven Parts und einem Gesang, der immer wieder von Gitarrenmelodien gedoppelt wird. Dazu gesellen sich catchy Lyrics, die nicht im Vordergrund stehen, aber neugierig machen und die man wohl erst bei häufigerem Hören erfasst. Konsequent hat man das Ganze trocken aufgenommen und auch in der Produktion Effekte gemieden. Eine spannende Neuentdeckung. Bleibt nur die Frage, in welcher Farbe man die Kassette am besten kauft. Fiona Lehmann

Aude St-Pierre

Aude St-Pierre

Rediscovering Maria Herz

Rediscovering Maria Herz

Das Label Genuin setzt mit dieser zweiten CD seine Reihe zur Veröffentlichung der Werke von Komponistin Maria Herz (1878–1950) fort. Die kanadische Pianistin Aude St-Pierre widmet sich mit großem Engagement den drei Klavierwerken, die Maria Herz hinterlassen hat und die Flucht und Exil überdauert haben. Schon die Variationen über Chopins Prélude c-Moll, als Opus 1 vor 1914 komponiert, zeigen Maria Herz’ meisterhafte Kompositionstechnik, großen Einfallsreichtum und vor allem tief empfundenen Ausdruck. Auch ihre zwölf Valses/Ländler Opus 2 sind zauberhafte Charakterstücke – ebenfalls in der Tonsprache der Romantik, wunderbar farbig und ausdrucksstark, von Aude St-Pierre mit Verve interpretiert. 1922 entstand die grandiose Sonate f-Moll, deren Tonsprache deutlich moderner ist. Wie aus einem Guss der kraftvolle erste Satz, auch die drei folgenden Sätze bezwingen in ihrer packenden Charakteristik nicht zuletzt durch die – für Maria Herz so bezeichnende – perfekte Balance von Inhalt und Form. Maria Herz flüchtete 1934 aus Deutschland; im Exil in England und später in den USA komponierte sie nicht mehr. 1939 wandte sie sich an Vladimir Horowitz, der sich leider ihrer Klavierstücke nicht annahm. Dass ihre Werke jetzt veröffentlicht und damit hoffentlich bekannt gemacht werden, ist also umso mehr ein großes Glück. Silke Peterson

Public Service Broadcasting

Public Service Broadcasting

The Last Flight

The Last Flight

Historische Tonaufnahmen untermalt mit instrumentaler Gitarrenmusik – klingt nicht unbedingt nach einem musikalischen Erfolgsrezept, funktioniert bei der Londoner Band Public Service Broadcasting aber überraschenderweise ziemlich gut. Bereits im ersten Album »Inform – Educate – Entertain« untermalte die Band verschiedene historische Ereignisse mit ihrem atmosphärischen Art-Rock: von der Erfindung des Farbfernsehens bis zur ersten erfolgreichen Besteigung des Mount Everest. Um ihren popmusikalischen Geschichtsunterricht authentisch rüberzubringen, verzichtet die Gruppe dabei weitestgehend auf Gesang und verwendet stattdessen vor allem alte Tonaufnahmen aus verschiedenen Filmarchiven. Weil das Ganze wider alle Erwartungen ziemlich gut ankam, ist die Band diesem Konzept dann auch treu geblieben. So auch auf »The Last Flight«, ihrem mittlerweile fünften Album. Das erzählt die Geschichte der US-amerikanischen Flugpionierin Amelia Earhart, die als erste Frau alleine den Atlantik und Pazifik überquerte, bevor sie bei einer geplanten Erdumrundung spurlos verschwand und für tot erklärt wurde. Instrumental durchaus vielschichtig zwischen sphärischen Gitarrenwänden, opulenten Streichern und hektischen Synthesizer-Arpeggios kreieren Public Service Broadcasting einen cineastisch anmutenden Histotainment-Post-Rock-Hybriden. Für das Bestehen der nächsten Geschichtsklausur dürfte das zwar nicht reichen, bringt einem aber die vor fast 90 Jahren verstorbene Protagonistin mit ihren Leidenschaften und ihrem Draufgängertum auf jeden Fall näher. Dafür, dass die Platte neben dokumentarischem Wert auch noch einiges an Pop-Appeal besitzt, sorgen unter anderem Gesangseinlagen von Gästen wie Andreya Casablanca (Gurr) oder Kate Stables (This is the Kit). Yannic Köhler

Fat Dog

Fat Dog

Woof

Woof

Wie machen die das? Die Welle vielversprechender frischer Bands aus Großbritannien reißt einfach nicht ab. Da braucht es schlicht keine Reunion von Oasis, geschweige denn ein neues Album, wenn der stete Nachschub an Neuem doch viel spannender ist. Schon Radiolegende John Peel wusste: Das Leben ist zu kurz für alte Musik. Schmelztiegel ist dabei seit einigen Jahren der Süden von London. Hier fanden sich auch Fat Dog zusammen und fühlen sich trotzdem keiner Szene zugehörig. Vielmehr finden sie ihre Nische irgendwo zwischen Prodigy, Underworld, Fontaines DC und Big Special: Sprechgesang und Beats und eine unbändige Energie, die sich im Lockdown aufgestaut hat. Der Ravegestus, den sie leben, ist dabei klar verortet in den Neunzigern, gekreuzt mit Gabba und der Partypower von Klezmer und Ska. Das ist breitbeinig, rotzig und höchst infektiös. Die Energie ihrer Live-Auftritte traf von Anfang an auf ein ausgehungertes Publikum. Das dadurch entstandene Momentum brachte ihnen eine erste, von James Ford (Blur, Depeche Mode) produzierte EP ein und schließlich den Plattenvertrag beim traditionsreichen Label Domino. Das Debüt erfüllt nun alle Erwartungen, ist dick aufgetragen und sprengt selbstbewusst Geschmacks- und Genregrenzen. 35 Minuten Ekstase. Nach diesen ersten, atemlosen neun Stücken darf man höchst gespannt sein, wohin die Reise geht. Hoffentlich bald auch wieder auf unsere Bühnen. Lars Tunçay

Die Nerven

Die Nerven

Wir waren hier

Wir waren hier

Die Gitarren raunen, das Schlagzeug kracht und der Bass brodelt – Die Nerven wuchten ihr neues – und sicher nicht letztes – Album »Wir waren hier« in die Welt. »Auf der Flucht vor der Wirklichkeit ist mir kein Weg zu weit«, heißt es im ersten Song. Die Zeile klingt energisch nach Eskapismus und genau das markiert auch die Stimmung, die sich durch den überwiegenden Teil der Platte zieht. Verglichen mit ihren Vorgängerwerken wirkt die Musik weniger konfrontativ, obgleich die Gruppe aus Julian Knoth, Kevin Kuhn und Max Rieger nichts an ihrer klangvollen Kraft verloren hat. Besonders eindrücklich wirbelt der Titeltrack eingängige Gitarrenmelodien auf, steigert sich in die Energie der Basstöne und wallenden Drums hinein, um in einem brachialen, mitreißenden Rocksong zu kulminieren. Dass die Tonspuren der einzelnen Instrumente dabei nicht verschwimmen, sondern klar und präsent zu hören sind (Produktion und Mix: Max Rieger), lädt einmal mehr dazu ein, das Album wieder und wieder neu zu hören. Nachdem die Musik der Band zu ausgereift für den Genrebegriff Punk erscheint, gilt sie als das exemplarische Beispiel für gegenwärtigen, deutschsprachigen Indierock. Die Zeit kürte die Nerven einst zur »am miesesten gelaunten Rockband«, der Standard bezeichnete sie als »das beste deutsche Trio seit Trio«. Mit ihrem sechsten Studioalbum setzen sie sich nun ihr eigenes, gewichtiges Denkmal – warum nicht. Claudia Helmert

Various Artists

Various Artists

Das schöne Leben des Herrn K.

Das schöne Leben des Herrn K.

Der Schlager hat wahrlich schon bessere Tage erlebt. Während heute Andrea Berg und Florian Silbereisen über den Bildschirm flimmern, erinnern sich die betagteren Schlagerästheten von einst an die goldenen Zeiten zurück, in denen Stars wie Hildegard Knef (in der BRD) oder Manfred Krug (in der DDR) die Hitparaden dominierten. Längst vergessen sind sie, rufen sie sodann verbittert aus, während sie sich in der wohligen Kulturpessimismus-Suppe suhlen. Doch so oft sie recht behalten mögen, in diesem Punkt liegen sie falsch. Beweis gefällig? Die neue Compilation »Das schöne Leben des Herrn K.«, die Neuinterpretationen von Manne-Krug-Evergreens bereithält und von Florian Sievers aka Das Paradies sowie Albrecht Schrader herausgegeben wurde. Die beiden Musiker vereinen darauf das Who’s-who der hiesigen Indie-Szene, darunter Charlotte Brandi, Masha Qrella, Stefanie Schrank und Albertine Sarges. Die Songs gehen dabei zumeist weit über ein übliches Cover hinaus. Stattdessen werden Stücke wie »Kalt und weiß«, »Niemand liebt dich so wie ich« oder »Um die weite Welt zu sehen« vom Staub ihrer Zeit befreit und erklingen im neuen Soundgewand wie Eigenkompositionen ihrer Interpretinnen. Gleichwohl offenbaren die zwölf Songs, dass Indie und (guter) Schlager am Ende eben doch nicht so weit voneinander entfernt sind, wie es der durchschnittliche Distinktions-Indieboy gerne glauben möchte. Vielleicht wird er mit dieser Compilation darüber hinwegkommen. Luca Glenzer

Suki Waterhouse

Suki Waterhouse

Memoir of a Sparklemuffin

Memoir of a Sparklemuffin

Die in London geborene Suki Waterhouse hat augenscheinlich jede Menge Energie. Mit 16 Jahren wurde sie als Model entdeckt und warb in Kampagnen etwa für H & M und Pepe Jeans. Drei Jahre später begann sie ihre Karriere als Schauspielerin und war unter anderem in »Daisy Jones & the Six« zu sehen.2022 folgte ihr Albumdebüt als Musikerin auf dem namhaften Indie-Label Sub Pop. »Memoir of a Sparklemuffin« ist nun ihr zweiter Longplayer. Auf selbigem wechseln sich krachige Nummern, die schwer an Bands wie Dum Dum Girls und The B-52s erinnern, mit bittersüßen Balladen ab. Alles wird durch die honiggetränkte Stimme von Waterhouse zusammengehalten. Auch Vorbilder wie Camera Obscura und The Raveonettes klingen hierauf angenehm durch. Ausgeholfen haben zudem ein paar Prominente im Indie-Kosmos, unter anderem Greg Gonzalez von Cigarettes After Sex und Jonathan Rado von Foxygen. »Memoir of a Sparklemuffin« ist lupenreiner Breitwand-Pop, der ein großes, heterogenes Publikum ansprechen dürfte, da Waterhouse hier der perfekte Brückenschlag zwischen Underground und Mainstream gelingt. Kay Engelhardt

Ätna

Ätna

Lucky Dancer

Lucky Dancer

Wie eine gut geschriebene Kurzgeschichte verliert das dritte Studioalbum des Dresdner Duos Ätna keine Zeit mit einer Exposition: Ein knackiger Percussion-Part, eine Stimme, die kurz wie eine Schallplatte hängt – und schon nach sieben Sekunden entsteht das Gefühl, im ersten Refrain des Albums zu sein. Das Streichorchester klingt episch, wie sich das gehört, und die Stimme schraubt sich in hymnische Höhen. Dass mit dem Lied »My Fist high« auch noch des Freiheitskampfs iranischer Frauen gedacht wird, gibt den Ton und die Richtung des Albums vor: Texte zum Nachdenklich-aus-dem-Fenster-Starren, Musik für die Diskothek am Ende der Zeit. Sphärisch oszillieren die Klänge, verspielt treiben die Basslines, zwischendurch knurpsen Schritte durch den Waldboden in die Ohren. Von lediglich melodiös aufgepeppter elektronischer Tanzmusik ist »Lucky Dancer« so weit entfernt wie ein lauwarmer Drückkannenkaffee von einem frisch gebrühten italienischen Espresso. Hier und da hätte etwas weniger Autotune Inéz Schaefers Gesang gutgetan, doch dieser Eindruck tut dem Gesamterlebnis keinen Abbruch. Das letzte Lied »All that I am« geht musikalisch und inhaltlich noch einmal in die Vollen: Es entstand für das Me-Too-Theaterstück »Noch wach?« am Hamburger Thalia-Theater und behandelt wie ebenjenes die leider immer noch meist oberflächlichen Bewertungsmechanismen der Gesellschaft und die Selbstliebe als möglichen Umgang damit. Somit endet diese Kurzgeschichte ähnlich gesellschaftlich relevant und musikalisch hymnisch, wie sie eine knappe halbe Stunde zuvor begann. Martin Burkert

Jan Gerdes

Jan Gerdes

East-West-Central-South

East-West-Central-South

Mit seinem neuesten Album stellt Jan Gerdes eine persönliche Auswahl afrikanischer zeitgenössischer Klaviermusik aus dem Zeitraum 1987–2022 vor – die im Kontext westeuropäisch-amerikanisch geprägter Neuer Musik durchweg vertraut und recht traditionsbewusst wirken. Deren sechs Komponistinnen und Komponisten stammen aus Südafrika, Äthiopien, Nigeria und dem Kongo. Den meisten Klavierstücken liegt dabei eine klangorientierte, postimpressionistische Haltung zu Grunde. Umso mehr freut sich der Hörer an punktuell aufleuchtenden individuellen Seitenwegen, musikalischen Randbemerkungen, Strukturen und besonderen Rhythmen. Clare Lovedays (*1967) erste Johannesburg-Etüde eröffnet die Platte dabei recht eigenwillig, mit rauen, dichten Akkordmustern, die sich – nach immer mehr Raum greifend – energetisch und irregulär pulsierend über die gesamte Klaviatur ausdehnen, während sich Lovedays kontemplativere Etüde Nr. 2 eher mit Nachklängen und Resonanzen beschäftigt. Atmosphärisch sind auch die drei Stücke »Schau-fe(r)n-ster« von Andile Khumalo (*1978), denen man die klangorientierte Prägung durch Komponisten wie Salvatore Sciarrino oder Tristan Murail anhört, die Jan Gerdes nuancenreich auslotet. Mit Chidi Obijiako (*1990) durchwandert man bei »A Walk in a misty Morning« verschiedene unerwartet auftauchende Situationen in einer Stadtlandschaft – teils klanglich, manchmal eher rhythmisch grundierte Bilder. Den fünf charaktervollen Miniaturen von Ezra Abate Yimam (*1961) liegt ein nahezu ungebrochen romantischer Gestus zugrunde. Jan Gerdes stellt das Repertoire mit viel Sinn für Charakter, Klangfarbe und die individuellen Besonderheiten jeder einzelnen Komposition vor. Anja Kleinmichel

Brigitte calls me Baby

Brigitte calls me Baby

The Future is our Way out

The Future is our Way out

Angeblich geht der Name der fünfköpfigen Band aus Chicago auf einen Briefwechsel des jugendlichen Wes Leavins mit Leinwandgöttin Brigitte Bardot zurück. Das passt ebenso zum großen Narrativ wie die Beteiligung des Sängers am Musical »Million Dollar Quartet«, in dem es um das Treffen zwischen Elvis, Johnny Cash, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins 1956 in einem Studio geht. Mit dem Musical ging Leavins sieben Monate auf Tour und lernte Dave Cobb kennen, neunfach Grammy-prämierter Produzent. Cobb gewann Leavins für den Soundtrack des Films »Elvis« von Baz Luhrmann und produzierte schließlich auch das Debüt von Brigitte calls me Baby, der Band die Leavins mit seinen Mitstreitern in Chicago gegründet hatte. Eine erste EP erschien bereits im Herbst letzten Jahres; wie die übrigen nun auf »The Future is our Way out« versammelten Stücke im legendären RCA-Studio in Nashville aufgenommen. In ihren Songs verbinden die fünf die üppige Romantik des Pop aus der Mitte des Jahrhunderts mit der frenetischen Energie und Intensität des Indierocks der Jahrtausendwende. Cobb lässt der Musik Luft. Da bleibt mal eine Gitarre, mal ein Schlagzeugrhythmus stehen. Über allem schwebt der hymnische Gesang von Leavins, dem Crooner, dessen Timbre an Morrissey erinnert, aber mehr noch an Elvis Presley und Roy Orbison, mit deren Musik er aufwuchs, ebenso wie mit den Songs der New Romantics. All das vermischt das Quintett zu einer nicht wirklich homogenen, aber stets melodiefixierten Melange. Da ist für jeden Pop-Aficionado was dabei. Und nicht zuletzt für alle Smiths-Fans, die sich zu Recht von Morrissey abgewandt haben. Lars Tunçay

Ensemble Ambidexter

Ensemble Ambidexter

Ensemble Ambidexter

Ensemble Ambidexter

Die ersten Takte von »T. Wave« wirken unkonventionell, doch schon bald entfaltet sich eine Klangwelt, die zwischen Jazz und zeitgenössischer Klassik eine eindrucksvolle Symbiose eingeht. Mit seinem Debütalbum bietet das achtköpfige Ensemble Ambidexter einen reizvollen Spagat zwischen den zwei Genres. Die Dramaturgie des Albums folgt einem subtilen Spannungsbogen, der die Hörenden mal sanft, mal kraftvoll durch unterschiedliche Stimmungen leitet. Jazz und Klassik treten zuweilen als ebenbürtige Partner auf, die sich gegenseitig bereichern und inspirieren. Gelegentlich überlässt einer dem anderen das Feld. Die Musikerinnen und Musiker verweben jazzige Elemente mit klassischen Strukturen, die sich nahtlos ergänzen und zu einem harmonischen Ganzen verschmelzen. So entsteht ein Klangteppich, der zugleich vertraut und neu wirkt, der zum Träumen einlädt und durch seine Vielschichtigkeit fesselt. Das Album ist eine Reise durch zwei musikalische Welten, die auf beeindruckende Weise zusammengeführt werden. Ein Debüt, das mit jedem Hören an Tiefe gewinnt und Lust auf mehr macht. Isabella Guzy

Ghost Dubs

Ghost Dubs

Damaged

Damaged

Dub hat per se etwas Raum Schaffendes, wenn die Elemente in Hall fallen oder die Delays zwischen Talwänden fliegen. Die massiven und zugleich skelettierten Geisterdubs von Michael Fiedler – der auf mehr als zwanzig Jahre Produzenten-Sein blicken kann und zuletzt vor allem als Jah Schulz Respekt sammelte – rollen dabei schon dem Namen nach im vibrierenden Dunklen und walzen über eine verfinstert karge, anscheinend schwer beschädigte Landschaft. Dabei treffen die abstrakteren Momente der letzten Jah-Schulz-LPs auf die minimalistischen Soundscapes, die er unter bürgerlichem Namen veröffentlicht – verfeinert mit urbanen Dub-Ästhetiken aus der Hardwax-Schule: Chain Reaction, Basic Channel, Rhythm & Sound oder Pole aka Stefan Betke, der hier auch gemastert hat. Gekrönt wird das Ganze von jener Bass-brutalen Unerbittlichkeit und klanglichen Schärfe, die von Pressure-Produkten erwartet werden darf, ganz im sensualistischen Sinne der Hardcore-Attitude des Label-Masterminds Kevin Martin aka The Bug. Dystopie-Dance der Saison! Alexander Pehlemann

Chime School

Chime School

The Boy who ran the Paisley Hotel

The Boy who ran the Paisley Hotel

Andy Pastalaniec ist das Mastermind hinter dem Projekt Chime School. Im zarten Alter von vier Jahren machte er bereits mit sichtlichem Vergnügen Tanzschritte zu Motown-Songs, wie ihm seine Eltern kürzlich auf Filmmaterial zeigten. Definitiv kein schlechter Start in die Welt der Musik. Ein paar Jahrzehnte später haben es ihm eher britische Bands der späten Achtziger und frühen Neunziger angetan: Orange Juice, Talulah Gosh und Teenage Fanclub sind gute Adressen im Chime-School-Kosmos, was bereits das gleichnamige Debüt klangvoll unter Beweis stellte. »The Boy who ran the Paisley Hotel« ist nun die konsequente Fortsetzung des Erstlings. Wieder springen uns zuckersüße Melodien und flirrende Gitarren entgegen. An allen Ecken und Enden der Platte gibt es kleine, feine Details zu entdecken. Pastalaniec ist im positiven Sinne ein Kontrollfreak. Mit seiner Erfahrung als DJ, Radiomoderator und Toningenieur in Los Angeles war es eine lehrreiche Herausforderung für ihn, auch das zweite Album im Alleingang aufzunehmen und zu produzieren. Und selbst wenn ein Song »(I hate) The Summer Sun« heißt, lassen wir uns nicht beirren und genießen den sonnengetränkten Sound dieses Albums in vollen Zügen. Kay Engelhardt