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Rezensionen

Big Special

Big Special

Postindustrial Hometown Blues

Postindustrial Hometown Blues

Wir leben in einem Zeitalter der großen Depression – persönlich, sozial und generationsübergreifend. So bezeichnet es Joe Hicklin und er hat allen Grund dazu. Nicht nur, weil er mit seinen eigenen Dämonen ringt, sondern weil er es im Black Country tut. Die Gegend rund um Birmingham ist geprägt von der Kohle- und Stahlindustrie, die ihr den Namen verlieh. Der rußgefärbte Himmel ließ schon vor 200 Jahren kaum Platz zum Träumen. Im Post-Brexit-Britannien und mit dem Niedergang der Industrie ist der Horizont noch ein wenig schwärzer geworden. Sänger Hicklin und Schlagzeuger Callum Moloney fühlen sich der Arbeiterklasse verbunden. Als Big Special rotzen sie den Frust der Menschen in die Welt. Die stilistischen Grenzen sind dabei fließend. »Postindustrial Hometown Blues« bezeichnet die Band treffend ihren Sound. Mal erinnert das an das amerikanische Duo Black Keys, mal grenzt es an den Rap von Mike Skinner aka The Streets, ebenfalls ein Brummie, wie die Einwohner Birminghams traditionell genannt werden. Zur druckvollen Kombination aus Schlagzeug und Sprechgesang gesellen sich Gitarre und Keyboard. Der Sound von Big Special klingt roh und reduziert, aber stets aufregend. Das Debütalbum versammelt etliche Singles und EPs, die im Zeitraum eines Jahres erschienen sind, klingt divers, aber dennoch unverkennbar. Eine fulminante Feel-Bad-Platte einer chronisch schlecht gelaunten Band, von der man sich nur allzu gerne anschnauzen lässt. Lars Tunçay

Christian FP Kram

Christian FP Kram

Verso l’interno – Klavierwerke

Verso l’interno – Klavierwerke

Düster ziehen die ersten Anschläge der »Impressions« – eingespielt von Pianistin und kreuzer-Redakteurin Anja Kleinmichel – in die neue Veröffentlichung »Verso l’interno« aus sieben Klavierwerken von Christian FP Kram. Den ersten Tönen wohnt eine bisweilen unheimliche und stets vereinnahmende Energie inne, die in ruhigen Momenten dazu einlädt, zu sinnieren, zu schwelgen, zu träumen. Die Welthaltigkeit, die Kram in seine Musik verwebt, zeigt sich deutlich in den beiden Stücken »Pace!« und »Adesso« aus dem Jahr 2014. Jene fügen sich nahtlos aneinander und fordern, übersetzt man die Titel, zu sofortigem Frieden auf. Die Melodien der beiden Soloklavierstücke (eingespielt von Max Ernst) erklingen auf einem scheinbar fernen, anfangs am Klavierkorpus geklopften Rhythmus, der eine vereinnahmende Weite suggeriert. Der Rhythmus gleicht Morsezeichen, die die emphatischen Stücktitel einmal mehr vermitteln. In anfänglich fragilen Höhen flirren, säuseln die Töne, die Melodie erstarkt zum Schluss. So hallt die Wucht, das Drängen des titelgebenden Imperativs wider. Das Album versammelt Kompositionen aus den Jahren 1995 bis 2015 und ist damit nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Schaffen des Wahlleipzigers, das neben etlichen Klavierwerken auch szenische und orchestrale Stücke wie Ensemble-, Chor- und Kammermusik umfasst. Ob in zarten, fragilen Momenten, wie etwa in »Deux poèmes – in memoriam Alexander Skrjabin« (2015), eingespielt von Alexander Meinel, oder mit stürmischen Impulsen wie den Akkordkaskaden im letzten Teil der »Three Postludes« (1995): Krams Klavierstücke klingen nach Musik gewordenen Introspektionen. Sie zeichnen eine düstere Stimmung, die selten verloren, weltabgewandt, sondern zumeist erzählerisch, nachdenklich tönt – und dem lauscht man gern und fasziniert. Claudia Helmert

Prince Istari Meets Erik Satie

Prince Istari Meets Erik Satie

Inna Heavy Dub Encounter

Inna Heavy Dub Encounter

Elektronische Klassik-Adaptionen sind nicht neu, erinnert sei an die Recomposed-Serie oder gar Wendy Carlos. Sogar Satie in Dub gab es schon, von Mark Stewart & The Maffia, 1987. Aber Prince Istari – das Dub-Alter Ego von Istari Lasterfahrer – griff wohl ohne Kenntnis jener Version zur gleichen Methode. Nämlich, bedächtig rollenden, extrem skelettierten Dub ohne viel Effekt-Dramatik mit Saties Hits zu koppeln, den Gnossiennes und Gymnopédies, seinem »Best-of der 1880er und 1890er Jahre«. Deren melancholische Einfach- und leichte Durchhörbarkeit markierte den Weg zur Möbelmusik. Ambient-Klänge also, wie aus einem RFT-Soundsystem sinkend, installiert in der rumänischen Pressholz-Schrankwand im sozialistischen Plattenbau. Imaginiert allerdings in Hamburg, wobei die bildungs- wie antibürgerliche Annäherung im Finale konkreter wird, bricht da doch punky Breakcore durch, während die Istari-Mutter am Klavier sitzt, die den kleinen Prinzen früh und nachhallend infizierte. Alexander Pehlemann

Prince Istari

Prince Istari

Meets Erik Satie

Meets Erik Satie

Elektronische Klassik-Adaptionen sind nicht neu, erinnert sei an die Recomposed-Serie oder gar Wendy Carlos. Sogar Satie in Dub gab es schon, von Mark Stewart & The Maffia, 1987. Aber Prince Istari – das Dub-Alter Ego von Istari Lasterfahrer – griff wohl ohne Kenntnis jener Version zur gleichen Methode. Nämlich, bedächtig rollenden, extrem skelettierten Dub ohne viel Effekt-Dramatik mit Saties Hits zu koppeln, den Gnossiennes und Gymnopédies, seinem »Best-of der 1880er und 1890er Jahre«. Deren melancholische Einfach- und leichte Durchhörbarkeit markierte den Weg zur Möbelmusik. Ambient-Klänge also, wie aus einem RFT-Soundsystem sinkend, installiert in der rumänischen Pressholz-Schrankwand im sozialistischen Plattenbau. Imaginiert allerdings in Hamburg, wobei die bildungs- wie antibürgerliche Annäherung im Finale konkreter wird, bricht da doch punky Breakcore durch, während die Istari-Mutter am Klavier sitzt, die den kleinen Prinzen früh und nachhallend infizierte. Alexander Pehlemann

DIIV

DIIV

Frog in boiling Water

Frog in boiling Water

Das Drama gehört zur Geschichte von DIIV. Die New Yorker mussten in der Vergangenheit schon einige Krisen durchstehen. Bassist Ruben Perez flog wegen rassistischer Pöbeleien aus der Band; Sänger Zachary Cole Smith entwickelte eine branchenübliche Heroinsucht; nach ihrem gefeierten 2019er Album »Deceiver« standen sie ohne Label da; die Pandemie machte das Touren unmöglich – Bands haben sich schon aus weniger gravierenden Gründen aufgelöst. Vier Jahre brauchten DIIV für ihr viertes Album, das sie an die Grenzen des Bandgefüges trieb. Sie investierten alles in das nun fertige Werk, setzten ihre Freundschaft und ihre Zukunft aufs Spiel. Es ist bemerkenswert, wie kohärent der Sound ist, trotz der individuellen Probleme, die im Aufnahmeprozess offen zutage traten. Im Proberaum werden sie zum Kollektiv. Bei all den privaten Problemen und gegenwärtigen Krisen in der Welt finden DIIV Rettung darin, auf den Quadratmeter zu ihren Füßen zu starren und den Rest auszublenden. »Frog in boiling Water« ist Shoegaze in Reinform – mächtig und intim, düster und erhaben, psychedelisch und hypnotisch. Die Gitarrenwände laden dazu ein, sich an sie zu lehnen und für einen Moment den Rest der Welt auszublenden. Cole Smith’ Gesang ist gleichermaßen klagend und umarmend, der Titel des Albums ein zynischer Kommentar zur Lage der Welt. Lars Tunçay

TOTL XS. CTRL

TOTL XS. CTRL

Baptist

Baptist

Think About Mutation (TAM) sind Legende. Deren Erbe zu pflegen, nicht totzureiten, daran machten sich TOTL XS. CTRL um Mastermind Adler seit 2015. Als das Wort Crossover noch nicht erfunden war, mischten die Leipziger TAM in den frühen neunziger Jahren Metal mit Techno; was Bands wie Rammstein später abkupferten. Das ist auch das Grundkonzept bei »Baptist« – nur viel feiner und komplexer. Vier musikalisch sehr unterschiedliche Nummern vereint die Platte, während es inhaltlich um menschliche Urängste geht. Gleich im ersten Song gibt es eine Überraschung mit dem Gast-Sprechsänger Rummelsnuff. Fast zum hübschen Krächzen setzt er an, als er sich über den teilweise nach Southern-Stoner klingenden Gitarrenteppich erhebt, um die Stimme dann in väterlichen Bass zu senken. Mit elektronischem Echoausloten geht »Isolation« los, in das schwirrende Saitenanschläge und das Howling von Stewa dringen. Gemütlich schwingt »Liebe« los, das nach 90 Sekunden in treibende Raserei übergeht, die so hübsch nach groovigem Neunziger-Metal-Techno klingt und direkt an TAM erinnert. In jedem Song sind zusätzlich Schnipsel aus Noise, Acid, verzerrte Samples und vieles mehr verbaut und feingeschliffen. Beim Schleifehören lässt sich immer Neues entdecken. Tobias Prüwer

Alan Vega

Alan Vega

Insurrection

Insurrection

»Dream Baby Dream« – bis heute klingen jene Zeilen in den Ohren Tausender frischverliebter Nihilisten. Sie stammen aus dem gleichnamigen Song des US-amerikanischen Duos Suicide aus dem Jahr 1977. Sänger Alan Vega und sein kongenialer Partner Martin Rev dekonstruierten darin schon Punk, als dieser gerade erst im Begriff war, sich herauszubilden. Ab den frühen achtziger Jahren war Vega darüber hinaus als Solomusiker tätig: 15 Alben folgten im Laufe der Jahre. Und selbst sein Tod im Jahr 2017 konnte seinem Schaffensdrang offenbar kein Ende setzen: Denn mit »It« und »Mutator« folgten zwei starke, bis dahin unveröffentlichte Werke aus seinem Nachlass. Mit »Insurrection« ist nun das dritte posthum veröffentlichte Album Vegas erschienen. Aufgenommen hatte er es bereits in den späten Neunzigern. Ähnlich wie auf »Mutator« klingt er auch darauf über weite Strecken so, als hätte der tote Elvis Presley im Jahr 1982 spontan mit der australischen Noise-Rock-Combo The Birthday Party im Proberaum von Kraftwerk gejammt. Will heißen: »Insurrection« vereint Schöngeistigkeit und Destruktionskraft, ganz so, als ob es sich dabei um eine geradezu naheliegende Melange handelte. Man muss es sich leisten können, so starke Songs wie »Crash«, »Invasion« oder »Cyanide Soul« über 20 Jahre in den Archiven verstauben zu lassen. Alan Vega konnte das. Luca Glenzer

Kitty Solaris

Kitty Solaris

James Bond

James Bond

Wo immer James Bond auftaucht, ist Krieg und Auseinandersetzung irgendwie auch schon da. Für ein friedvolles Miteinander steht er jedenfalls nicht unbedingt. Und trotzdem benennt die Berliner Indie-Singer/Songwriterin Kitty Solaris ihr aktuelles Album nach dem Geheimagenten und verhandelt unter dieser Überschrift das Thema Frieden. Und ihr James Bond weiß genau, wie es geht: Mit bezaubernder Leichtigkeit singt er (beziehungsweise: Kitty Solaris), dass das ja wohl keine Art sei zu kommunizieren und man doch bitte mal die Waffen niederlegen solle. In verschiedenen Facetten taucht dieses Ideal des Friedens in den neun Songs des Albums auf. Dabei hinterfragt Kitty Solaris auch naives Wunschdenken oder die harmoniesüchtige Einstellung der Beatniks. Frieden um des lieben Friedens willen als Nicht-Lösung. Dann sucht sie aber auch wieder verzweifelt nach einer Lösung, falls es mit James Bonds Kuscheldiplomatie doch nicht klappen sollte: Aya-huasca könnte vielleicht helfen, ein Sud aus einem Kaffeestrauchgewächs, der in Mittel- und Südamerika als Droge in religiösen Zeremonien verwendet wird. Aber sind Menschen nur friedvoll und verträglich, wenn sie benebelt sind, und im nüchternen Zustand nicht zu ertragen? Wieder einmal wirft uns Kitty Solaris einige Fragen und Songzeilen zum Nachdenken vor die Füße. Dies aber auch mit so leichten Rhythmen und Melodien, dass diese Füße eben auch tanzen können. Immer ist es Pop, etwas anderes erlaubt ihr leichter Gesang gar nicht. Daneben gibt sie den neun Songs aber sehr individuelle Noten von Dream-Pop bis Dance. Besonders zeigt sich das beim Robert-Palmer-Cover »Johnny and Mary«, das durch Vocoder und Hall nicht nur überrascht, sondern Marys Suche nach innerem Frieden atmet. So, wie Kitty Solaris mit lässigen Melodien und Rhythmen des Drumcomputers ernste Themen verhandelt, hat sie vielleicht doch etwas von James Bond, der sich beim Retten der Welt auch selten überanstrengt. Kerstin Petermann

Arroganz

Arroganz

Quintessenz

Quintessenz

»Poser, lasst die Finger von diesem Material! « – Ohne freche Schnauze geht’s nicht bei Arroganz. Tatsächlich hört sich das Death-Black-Metal-Sandwich des Cottbuser Trios gewohnt kompromisslos an. »Quintessenz« meidet das Gefällige, will kein kleinster gemeinsamer Nenner sein. Die gutturalen Entäußerungen des Frontmanns haben klare Vorbilder im Schwarzmetal. Der Gitarrenhimmel hängt tief, tempomäßig liegen die Songs vor allem im Mittelfeld. Im Eröffnungssong schälen sich aus nebligem Doom-Geschleppe Death-Klänge heraus. Heftiger und schneller sind die Deathund Thrash-Anleihen bei »Dungeon Soul« und »Deadened Rawness of Life«. Dazwischen ist das düster-atmosphärische »The Devil and my Companion« als Puffer geschaltet. Mit »Guardian of old Scars« folgt Black-Metal-Gitarrensägen, das von geradlinigem Schlagzeugtreiben begleitet wird. Blast- und D-Beats sind gut über die Platte verteilt, Keif-Gesang hält die Elemente zusammen. Inhaltlich geht es vor allem um innere Dämonen und das Seelenleben – ganz ohne satanisches Gehabe. Das sprengt keine Ketten, sondern zwingt solche auf. Die ausgefeilten Kompositionen nehmen die Hörenden in Beschlag. Merkwürdigerweise wirken die Songs trotz dosierter Schnörkelei kompakt. »Quintessenz« ist kein peitschender Nackenbrecher, sondern stimmungsvolle Dampfmaschine. Tobias Prüwer

Various Artists

Various Artists

Der Text ist meine Party (Die Hamburger Schule 1989–2000)

Der Text ist meine Party (Die Hamburger Schule 1989–2000)

Eins gleich vorab für alle Zuspätgeborenen und Szeneunkundigen: Die Hamburger Schule ist keine irre Facebook-Sekte, zumindest war sie das nicht immer. Nachdem eine zweiteilige NDR-Dokumentation in ebenjenem sozialen Netzwerk Anfang Juni in erhitzten Diskussionen voller Kränkung, Neid und Missgunst der damals Beteiligten gipfelte, konnte dieser Eindruck ja entstehen. Parallel zur Dokumentation und zum Buch »Der Text ist meine Party« ist auch eine Compilation erschienen, die in Erinnerung ruft, dass es in der Hamburger Musikszene der späten achtziger und frühen neunziger Jahre tatsächlich einen musikalischen Zusammenhang gab, der innerhalb weniger Jahre mit Bands wie Kolossale Jugend, Blumfeld, Die Sterne, Die Braut Haut Ins Auge oder Tocotronic substanziell Neues hervorgebracht hat. Das verbindende Element dieser musikalisch letztlich doch sehr unterschiedlichen Bands lag dabei weniger in einem kohärenten Stil als vielmehr in der Art und Weise, wie getextet wurde: nämlich (überwiegend) auf Deutsch, aber ohne den patriotisch konnotierten Jetzthaben-wir-uns-endlich-von-den-Fesselndes-Zweiten-Weltkrieges-befreit-Dünkel von Protagonisten wie Kunze, Grönemeyer & Co. Dafür verkopft, alltagsnah, gebrochen, gewitzt und stets – ganz wichtig! – mit klarer Haltung. All das und noch viel mehr bildet diese tolle Compilation ab, auf der neben den weiter oben genannten Bands auch etwas abseits des üblichen Kanons stehende Acts wie Stella, Die Fünf Freunde oder Concord vertreten sind. Luca Glenzer

Ensemble Nobiles & Ensemble Leipziger Salon

Ensemble Nobiles & Ensemble Leipziger Salon

Es rappelt im Salon

Es rappelt im Salon

Neben den Comedian Harmonists gab es im Zeitalter der charmanten Schlager der zwanziger und dreißiger Jahre auch andere Ensembles, die Bühne, Radio und Schallplatte eroberten. Doch die Kardosch Sänger, die Melody Gents und andere sind heute in Vergessenheit geraten. Das Leipziger Ensemble Nobiles und das Ensemble Leipziger Salon haben nun ein wirklich unterhaltsames Doppelalbum veröffentlicht, zu dem der Rundfunkjournalist Claus Fischer interessante Einführungen in dieses Kapitel Zeitgeschichte und Tondokumente aus seiner Schellackplattensammlung beigesteuert hat. »Es rappelt im Salon« dokumentiert diese versunkene Welt einerseits in kommentierten Originalaufnahmen und lässt auf der zweiten CD die alten Hits wieder auferstehen. Da wird in »Ich möchte heiraten« Mendelssohns Hochzeitsmarsch eingebaut und auch sonst lustvoll-witzig hineinarrangiert. An der Seite der ehemaligen Thomaner des Ensemble Nobiles sind bei dieser Neueinspielung die Musikerinnen und Musiker des Ensembles Leipziger Salon zu hören. Das Ergebnis ist eine nostalgische Zeitreise, voll beschwingter Leichtigkeit, Charme und Eleganz. Nobiles intonieren astrein und artikulieren verständlich bis ins Detail, so dass man den amüsanten Geschichtenliedern ganz entspannt folgen kann, während die historischen Aufnahmen teilweise nur rudimentär zu verstehen sind. Dafür bestaunt man dort auch heute noch die speziell historische Mischung aus Zack, Leichtigkeit und Vitalität. Anja Kleinmichel

Fat White Family

Fat White Family

Forgiveness is yours

Forgiveness is yours

Die Zeiten, in denen man mit so ollen Sachen wie Sex, Drugs und Rock’n’Roll noch groß provozieren konnte, sind ja eigentlich vorbei. Der Band Fat White Family gelingt es aber trotzdem immer wieder. In den 13 Jahren ihres Bestehens haben sich die Briten dabei eine Art eigenen düster-ekstatischen Rockmythos geschaffen, der sehr wenig mit Glamour zu tun hat und viel mit Destruktivität, Selbsterniedrigung und dem Hang zum Verstörenden. Das wird in Interviews und Pressestatements dann auch viel und gerne zur Schau gestellt. Und so verwundert es kaum, dass auch das neue Album »Forgiveness is yours« mal wieder in einem Strudel aus Psychosen, Drogenmissbrauch und Angst vor dem Sozialamt entstanden sein soll. Anhören tut man es der Platte nicht unbedingt, jedenfalls nicht sofort. Wie schon das letzte Album »Serfs up!« kommt auch sie weitestgehend ohne den psychedelischen Noise-Rock früherer Tage aus. Stattdessen gibt es angenehm eklektische Pop-Perlen – samt heimeligen Flötenklängen, tanzbaren Disco-Grooves und opulenten Streicheinlagen: catchy, funky und sexy! So richtig gemütlich machen kann man es sich dann aber doch nicht. In gewohnter Manier werden die Arrangements immer dann zersägt, wenn es gerade zu nett wird. Und auch textlich holt Sänger Lias Saoudi alles raus, was an existenziellen Abgründen gerade so vorhanden ist. Von Begegnungen mit John Lennons Geist auf Ketamin bis zur extrem eindrücklichen Schilderung der traumatischen Beschneidung seines Bruders. So viel Beklemmung so wohlklingend und aufregend zu verpacken, ist dann schon ein Kunststück. Yannic Köhler

Goat Girl

Goat Girl

Below the Waste

Below the Waste

Dass der Goat-Girl-Sound von »Below the Waste« noch dröhnender als die raue Debüt-Perle von 2018 des Post-Punk-Trios aus Brixton klingt, hätte wohl niemand erwartet. Zumindest nicht, nachdem Holly Mullineaux neue Bassistin der Band wurde und ihre Sammlung hochwertiger Synthesizer vorstellte. Mit diesen hatten sie nämlich auf dem zweiten Album »On all fours« (2021) einen Kompromiss zwischen pavementesken, verzerrten Gitarrenwänden, Indie-Disko, Synthie-Pop, Noise-Rock, clubbigen Soundlandschaften und dem Gesang von Clottie Cream geschlossen. Eine ganz schöne Up-Tempo-Geschichte also, von der nun auf »Below the Waste« keine Spur mehr ist. Die dritte Platte der Londoner behält zwar die Synthesizer, das Folk-Artige und No-Wavige, ist aber träumerischer, obskurer, voller Blasinstrumente, Streicher und von repetitiven Harmonien durchdrungen. Dieser Rekurs auf Strukturen der minimalistischen Musik ist ein Trend in der gegenwärtigen britischen Post-Punk-Szene, auch auf den letzten Alben von Squid, Black Midi und Maruja zu hören. Da wundert es nicht, dass John »Spud« Murphy von Black Midi das Album mitproduzierte. Das Ergebnis überzeugt. Libia Caballero

Marina Allen

Marina Allen

Eight pointed Star

Eight pointed Star

Marina Allen aus Los Angeles ist mit »Or Else« im Jahr 2022 ein waschechter kleiner Indie-Hit gelungen: Ausgestattet mit tollem Text, vorgetragen mit wahnsinnig präzisem, ausdrucksstarkem Gesang und geerdet durch grandioses Songwriting. Und das nahezu unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit. Wäre derselbe Song Anfang der Siebziger herausgekommen, hätte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit wenigstens die amerikanischen Charts erobert. Im Hier und Jetzt wird es jedoch immer schwieriger herauszustechen. Dabei besitzt Allen, die aus New Jersey stammt und die es mit zehn Jahren nach Kalifornien verschlug, eine unverkennbare Stimme. Ohne Probleme kann sie es mit großen Vorbildern wie Carole King und Karen Carpenter aufnehmen. Auf ihren ersten beiden Alben präsentierte sich Allen der Melancholie sehr zugeneigt. Diese weicht auf ihrem dritten Longplayer »Eight pointed Star« einer weitaus hoffnungsvolleren, stellenweise gar unbeschwerten Stimmung. Die neun aktuellen Stücke klingen erstmals nach Bandgefüge und weniger nach Singer/Songwriterin am Piano mit gelegentlicher musikalischer Unterstützung, was Allens Soundkosmos öffnet und den Songs guttut. »Swinging Doors« etwa hört sich fast schon so überschwänglich und jangly an wie die Lemonheads. Ganz großes Kino! Kay Engelhardt

Dumbo Tracks

Dumbo Tracks

Move with Intention

Move with Intention

Als Elementarteilchen will man nicht alleine sein. Erst mit den anderen ist man etwas und bildet das große Ganze. In diesem Falle ist Jan Philipp Janzen aka Dumbo Tracks das Elementarteilchen und sein zweites Album das große Ganze. Dumbo Tracks liefert das Gerüst für die neun Tracks von »Move with Intention«, sorgt als Produzent auch für den Kitt, der die vielen kleinen Versatzstücke wie Loops und Dub-Reverbs zusammenhält. Das Besondere und Bunte, das das Album ausmacht, liefern aber die anderen Teilchen, die über die 39 Minuten des Albums herumschwirren und ihm Farbe verleihen. Das fängt schon bei der Vielfalt der Stimmen an: Kollaborationen mit Rubee Fegan (von Smile) oder der aus dem House bekannte Portable versprechen eine Vielfalt an Tonfärbung. Nothingspecial aus Bonn und die Hamburgerin Ada erweitern das Spektrum zudem noch um weitere Genres und ergänzen die musikalischen Einflüsse um Dark Pop und Techno. Und dazwischen sorgt Jan Philipp Janzen mit Orgel oder Drumcomputer dafür, dass alles fließt und groovt. Er schafft es, diese unterschiedlichen Teile zu einem stimmigen Album zusammenzufügen, das man als Groove Pop bezeichnen kann. Elektronisch und absolut vielseitig zwar, aber durchweg poppig ist es geworden. Poppiger noch als der Vorgänger, weil die Gäste sich im Studio zu Hause fühlen durften. Dumbo Tracks hat sie nicht eingeladen, um ihnen zu sagen, was sie machen sollen, sondern weil er sie machen lassen wollte. Bekommen hat er eine Bereicherung seiner eigenen Ideen. Kerstin Petermann

Justice

Justice

Hyperdrama

Hyperdrama

Vom Bombast ihres Erstlings über das hymnische »Audio, Video, Disco.« bis hin zum Elektro-Funk von »Woman«: In rund zwanzig Jahren haben sich Justice ihre eigene Bühne geschaffen. Nicht zuletzt durch die exaltierten Live-Shows, die jeweils auf eigenen Tonträgern festgehalten wurden. »Hyperdrama« ist da der logische nächste Schritt und nicht nur dem Titel nach all das, wofür Gaspard Augé und Xavier de Rosnay stehen. Ihre Mischung aus Future-Funk und Disco durch den Filter von French-House reichern sie auf ihrem vierten Studio-Album durch handverlesene Gäste an. Das Album beginnt mit der Kombination aus dem melodiösen Funk von Justice und dem entrückten Falsettgesang von Kevin Parker aka Tame Impala. Eine dermaßen perfekte Mischung, dass es sie drei Stücke später bei »One Night/All Night« gleich noch mal zu hören gibt. Aus Neuseeland stößt Psychedelic-Rocker Connan Mockasin hinzu, aus L.A., der zweiten Heimat von Justice, der R&B-Sänger Miguel und Bassist Thundercat. Die 13 Songs fügen sich nahtlos in das makellos produzierte Set, das live dann wieder zu einem eigenen Hybriden verschmelzen wird. »Hyperdrama« mag die Ecken und Kanten des Justice-Debüts vermissen lassen, vereint aber die Stärken des Duos, ohne wie zuletzt an den Rändern zu zerfransen. Lars Tunçay

Die Wende

Die Wende

Die Wende

Die Wende

Die Wende nennt sich eine neue Band aus Sachsen, die sich aus dem Chemnitzer Duo Baumarkt und der Leipziger Solokünstlerin Baustelle zusammensetzt. Die erste gemeinsame Veröffentlichung des Trios ist ein Experiment. Es verwebt assoziativ Texte von irgendwoher – »Ich les mal was vor / Fragen an Johnny Rotten« –, versucht, die Band zu verorten, etwa mit Zeilen wie: »Denke nach und verurteile Ironie aufs Schärfste«. Dabei adressieren Die Wende nonchalant ihre Zuhörerschaft: »Hallo Kunstliebhaber:innen aus den Achtzigern, hier ist etwas, das so ist wie früher!« Genauso assoziativ reihen sie für die Melodien klangvolle Synthiebruchstücke aneinander. Mal dröhnt es geräuschvoll, mal klirren Akzente willkürlich auf den humpelnden, bisweilen blechernen Rhythmen. Dass zwischendurch das Mikrofon ausfällt, wird direkt in die nahtlose, über 60-minütige Live-Improvisation aufgenommen. So ist jede Sekunde des Tapes »Die Wende« nicht nur für die Musikerinnen und Musiker, sondern auch für die Zuhörenden eine Überraschung. Keine davon sollte man verpassen. Es lohnt sich, gespannt zu lauschen, wie die Klänge fließen, rauschen und prasseln – Die Wende sind wirklich genial dilettantisch. Claudia Helmert

Martin Helmchen

Martin Helmchen

Bach Six Partitas

Bach Six Partitas

Historische Kompositionen auf dem Instrumentarium der Entstehungsepoche darzustellen, ist für Interpreten faszinierend und aufschlussreich. Auf seiner neuesten CD spielt Martin Helmchen alle Bach-Partiten auf einem Tangentenflügel ein und lässt so seine Hörerinnen und Hörer an einer Entdeckungsreise teilhaben. Das gespielte Original-Instrument von Spät & Schmahl aus dem Jahre 1790 wurde 40 Jahre nach Bachs Tod gebaut, Helmchen geht davon aus, dass es eine Weiterentwicklung dessen ist, was Bach kannte und sich zu Lebzeiten möglicherweise erträumt hat. Unzufriedenheiten mit den Limitationen des gegebenen Instrumentariums gab es immer. Helmchen selbst begeistert sich insbesondere für die Farben, die » Symbiose der Charakteristika von Cembalo, Clavichord und frühem Hammerflügel … diese Registerzüge«. Die klangliche Qualität der majestätischen und kraftvollen Akkorde in den Eröffnungssätzen der D-Dur- oder der c-Moll-Partita und die besondere Transparenz der Darbietung lassen durchaus aufhorchen. Und ja, es ist eine ganz besondere Farbe, wenn Helmchen den weichen Lautenzug im Air der e-Moll-Partita einsetzt, in Wiederholungen die Registrierung in andere Farben ändert. Wer das Spiel des Pianisten Martin Helmchen am modernen Flügel jedoch kennt und seine feinsinnige, hochindividuelle Art, rhythmische Komponenten aus schwingendem Klang abzuleiten, bemerkt, dass er hier in eine abstraktere, weniger subjektiv geprägte Bachwelt eintritt, die ganz anderen Gesetzen gehorcht. Ein interessanter Ausflug, von dem aus man jedoch gern wieder heimkehrt, zu diesem ganz besonderen Klavier-Interpreten. Anja Kleinmichel

Kissing Disease

Kissing Disease

Erster Kuss

Erster Kuss

Die düsteren Melodien der Synthesizer schmiegen sich an die repetitiven Drumsounds, während die Gedanken des lyrischen Ichs verloren, sehnsuchtsvoll und ziellos kreisen: »Meine Farben reichen nicht, um mir eine Dystopie auszumalen ohne dich«. Mit dem ersten Song »Exil« taucht die Gruppe Kissing Disease ihre Umgebung in Melancholie, die nicht nur aus dem Sound, sondern auch aus den Texten tropft. »Sollen die Geister mich doch holen«, entgegnet die NNDW-Künstlerin Larasüß nonchalant, die den Song featurt. Die Band setzt mit ihrem Namen auf die Ambivalenz, die in Kissing Disease mitschwingt: zum einen das Lustvolle, das man hinter einer Kusskrankheit vermuten vermag – das übrigens in dem treibenden Track »Kusskrank« anklingt –, zum anderen auch der Schmerz, die ganz profane Übersetzung mit »Pfeiffersches Drüsenfieber«, eine Infektionskrankheit, die durch Speichel übertragen werden kann, also auch durchs Küssen. Sehnsucht und Schmerz sind obendrein die Themen der Debüt-EP »Erster Kuss«. Wie durch die Künstlerinnen und Künstler Edwin Rosen, Modular und Skuppin – um nur einige Beispiele zu nennen – schwappt mit Kissing Disease aus Halle die Neue Neue Deutsche Welle einmal mehr über. Und es lohnt sich, sich auf den selbst gebauten, tanzbaren Synthietönen, die den Charme der Dark-Wave-Klänge und der 80s versprühen, treiben zu lassen. Claudia Helmert

Camera Obscura

Camera Obscura

Look to the East, look to the West

Look to the East, look to the West

Camera Obscura starteten Ende der Neunziger als so etwas wie die kleine Schwester der befreundeten Belle & Sebastian. Beide Bands gelten als wichtige Vertreter des Twee-Pop, also des »hübschen« Indie-Pop. Spätestens mit dem dritten Album »Let’s get out of this Country« entwickelten Camera Obscura ihr komplett eigenständiges Profil. Zwischen 2001 und 2013 brachten sie fünf Longplayer raus. – Doch auf dem Gipfel des Erfolgs verstarb 2015 Keyboarderin Carey Lander an Knochenkrebs. Ihr Einfluss war so immens, dass es lange unklar war, ob ihr Tod auch das Ende der Band bedeutete. »Look to the East, look to the West« ist nun das erste Lebenszeichen nach vielen Jahren Pause. Donna Maciocia wurde als zusätzliches Bandmitglied angeheuert und unterstützt auch das Songwriting. Das neue Werk kommt anders als die restliche Diskografie ganz ohne Streicher- und Bläser-Arrangements aus. Konsequent wird aber der auf dem letzten Album vor der Auszeit eingeschlagene Weg in Richtung Country fortgesetzt. Und die unvergleichliche Tracyanne Campbell singt noch so schwelgerisch und herzzerreißend wie eh und je. Mit Songs wie »Denon« wird auch mal wieder der Motown-Sound gefeiert. Ebenso spielend schütteln Camera Obscura Pop-Kracher wie »Big Love« aus dem Ärmel. Überaus rührend ist die minimalistische Ballade »Sugar Almond«, eine Liebeserklärung an die schmerzlich vermisste Freundin und Bandkollegin Lander. Kay Engelhardt