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Rezensionen

Florian Bissig

Florian Bissig

Samuel Taylor Coleridge. Eine Biografie. Zürich: Dörlemann 2022. 272 S., 22 €

Florian Bissig: Samuel Taylor Coleridge.

Der Redner und politische Essayist Samuel Taylor Coleridge sei zu seiner Zeit erfolgreicher und beliebter gewesen als der Dichter. Überliefert sind dennoch die geschriebenen Gedichte, die Reden sind verstummt, die Essays veraltet. So wartet der Schweizer Übersetzer Florian Bissig auch mit der ersten Sammlung von 20 Gedichten Coleridges auf. Im zweisprachigen Band »In Xanadu« finden sich nicht nur die berühmten Poeme »Kubla Khan« und »Die Ballade vom alten Seemann«, sondern auch Coleridges eigentümliche Konversationsgedichte wie etwa »Frost um Mitternacht« oder seine kunstvollen Selbstdenunziationen als minderwertiger Dichter wie zum Beispiel »Schwermut: Eine Ode«. Versehen ist die Auswahl außer mit einem kontextualisierenden Vorwort überdies mit erhellenden Kommentaren zur Publikationsgeschichte der übersetzten Texte. Dass Coleridge getreu den romantischen Präferenzen gerne Dichter gewesen wäre, sich selbst aber – vor allem in seinen späteren Jahren – immer wieder als uninspiriert und untalentiert wahrgenommen hat, lenkt den Blick wieder auf den politischen und philosophischen Schriftsteller. Mit der ersten deutschsprachigen Biografie, die zusammen mit den Gedichtübersetzungen im Dörlemann Verlag erschienen ist, weckt Bissig eine Ahnung vom Leben des englischen Romantikers. Bissig liefert eines der besseren Beispiele dessen, was manche als »Schlafzimmerphilologie« abtun, gerade weil er nicht nur eine Coleridge-, sondern auch eine gut informierte Werkbiografie schreibt. Coleridge erscheint darin als politisch umtriebige und philosophisch ambitionierte Person, die immer wieder an der Welt und sich selbst scheitert. Dass der opiumkranke Coleridge auch Gedichte geschrieben hat und heute eben für diese bekannt ist, erscheint angesichts dessen beinahe nebensächlich. Aber um Gedichte – oder Texte ganz allgemein – ging es im Leben doch noch nie: Es geht jederzeit um Menschen. Und das ist der einzige Wermutstropfen des Bands (...) Fabian Schwitter

Manja Präkels

Manja Präkels

Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte? Essays. Berlin: Verbrecher 2022. 192 S., 19 €

Manja Präkels.

Mit klarer antifaschistischer und antirassistischer Haltung sind Manja Präkels’ vierundzwanzig Essays geschrieben. In ihrem neuen Buch »Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?« greift sie auf Erfahrungen aus den letzten Jahren der DDR, der Wende- und Nachwendezeit zurück und verwebt diese mit Ereignissen, die bis in die aktuelle Gegenwart reichen. Die Autorin betrachtet unter anderem eine »Nachbarschaft, deren Mischung die weltweiten Verteilungskämpfe und kriegerischen Konflikte der letzten Jahrzehnte abbildet«, die Bundesrepublik (»In den halbleeren Abteilen des Regionalzugs funken Fahrgäste vielsprachig in andere Provinzen der Welt hinaus«), Odessa und andere Orte. In den Essays zeigen sich die Kontinuitäten und Zusammenhänge zwischen dem Ende der DDR, der Vereinnahmung durch die BRD und heutigen Ressentiments und Hetzjagden deutlich. Präkels schaut genau, mit einem scharfen, differenzierenden Blick. Ihr zentraler Bezugspunkt ist die Provinz – die vergangene, in der Präkels selbst aufgewachsen ist; die gegenwärtig-abgehängte, auch die durch das Ankommen Geflüchteter und aus den Städten Zugezogener neu belebte. Und die Provinz als Konzept im globaleren Kontext. Präkels kennt sich aus, berichtet von ihren Lesetouren, Begegnungen mit Einheimischen, von ihrer Schlossschreiberinnenzeit mit Hund Scheriff in Rheinsberg und ihren Reisen in ehemalige Sowjet-Republiken. Sie schreibt Opfer-Geschichten, ohne Opfer zu schreiben, historische Lücken und selten gehörte Stimmen werden erzählt. Die Autorin zieht aus ihren Beobachtungen kluge Schlüsse, die in mir rumoren, mich als jüngere Brandenburgerin aus der Provinz retrospektiv neu schauen, Dinge anders begreifen lassen. »Wahrnehmung als Expander, umflirrt von all den Geistern der Vergangenheit und dem utopischen Leuchten der Möglichkeiten einer radikalen Veränderung der Verhältnisse.« Dieses präzise Schauen bündelt sich in Präkels’ dringlichen Texten, die Fragen in die Welt werfen, die widerhallen. Suse Schröder

Ivana Sajko

Ivana Sajko

Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer. Berlin/Dresden: Voland & Quist 2022. 180 S., 22 €

Ivana Sajko.

»Weg-von-hier – das ist mein Ziel«, heißt es in Kafkas Kurzerzählung »Der Aufbruch«, die der deutschen Übersetzung von Ivana Sajkos drittem Roman »Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod« vorangestellt wird: »Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.« Auf so eine Reise begibt sich auch Sajkos Protagonist – ein gescheiterter, von Depressionen geplagter Schreibender, der sich an einem kroatischen Küstenort in den Zug nach Berlin setzt, um neu anzufangen, um (endlich wieder) zu schreiben, um all die Abgründe hinter sich zu lassen. Dass das Rattern des Zuges all das Grausame aus den Untiefen herholt, liegt auf der Hand: »Im Zug nach Berlin gibt es keine Zeit, obwohl es vorwärts geht, bewege ich mich zurück.« Wir folgen der atemlosen Fahrt des Protagonisten, beschrieben in kapitellangen Sätzen, nur durch Kommata getrennt, die wie Bahnschwellen den Rhythmus vorgeben, und ringen zusammen mit ihm nach Luft. Und dieses Ringen nach Luft ist zugleich ein Ringen um die Sprache, nach den richtigen Worten. Es ist eine schonungslose Reise, auf die uns Ivana Sajko in diesem schwarzen Buch schickt – schwarz wie das Notizbuch des Protagonisten. Eine genau komponierte, höchst politische und poetische Parabel, mit etlichen Bezügen und Zitaten – es geht viel um Gewalt, private, geerbte wie gesamtgesellschaftliche, um die Heuchelei der glatt geschliffenen Worte in Kongresshallen und die grausame europäische Flüchtlingspolitik, aber auch um das Schreiben: »vielleicht interessierte ich mich deshalb für Literatur (...), damit ich mich befreien konnte, damit ich in jedem Augenblick die Landschaft, die Sprache, das Schicksal, das Geschlecht ändern konnte« – und darin steckt auch die Hoffnung: im Finden der Sprache. Martina Lisa

Fiston Mwanza Mujila

Fiston Mwanza Mujila

Kasala für meinen Kaku & andere Gedichte. Klagenfurt: Ritter 2022. 250 S., 23 €

Fiston Mwanza Mujila.

Es wird gestorben, verstümmelt, gemordet und immer wieder gehofft in Fiston Mwanza Mujilas gut gesättigten Gedichten. Nachdem er ins Exil nach Europa ging, wurde er eine schreibende Stimme seines Geburtslandes Kongo. Das ist Privileg und Bürde gleichermaßen für ihn, der in vielen Kulturen zu Hause ist, vielleicht in keiner ganz — aber das kann für einen, der mit Sprache arbeitet, auch von Vorteil sein. Bereits der Titel des Buches, »Kasala für meinen Kaku und andere Gedichte«, eröffnet Sprachräume: Kasala bedeutet in Tschiluba, einer Sprache aus dem Südosten des Kongo, Anrufung oder Lobpreisung, und die Kaku ist die Urgroßmutter des Autors. Weil die Kaku in den Erzählungen der Region bis dahin immer männlich konnotiert war, kam dem kleinen Mujila die Urgroßmutter vor wie ein Mann. »Während ich das ihr gewidmete Gedicht komponierte, habe ich ganz bewusst beschlossen, mit dieser Zweideutigkeit zu spielen«, lesen wir am Ende des zweisprachigen Bandes im erhellenden Interview mit dem Autor. Leider ist das Buch nicht in Deutsch/Tschiluba, sondern in Deutsch/Französisch erschienen. Tschiluba hätte uns beim Lesen womöglich durch den Klang betört, uns einen erweiterten Zugang zu seinen Gedichten eröffnet. Doch auch in ihrer deutschen Übertragung sind die Gedichte ein großes, zuweilen im besten Sinne verstörendes Leseereignis, weil es Mujila gelingt, uns in eine ekstatische Welt zu führen, in der »jeder in seinem Winkel / die Kiefer zerschmettert / die Hosen voll« hat. Mujila beschwört historische Ereignisse herauf und spielt auf Begebenheiten in seiner kongolesischen Familie an. Er bezeichnet sich als »Verfechter der Opazität«, der Undurchsichtigkeit, und schafft damit freie Sicht auf Sprache und Geschichte. Frank Willmann

Jaroslav Rudiš

Jaroslav Rudiš

Durch den Nebel. Salzburg: Sonderzahl 2022. 103 S., 16 €. Transpanenzhinweis: Bei kreuzerbooks ist ein Buch von Jaroslav Rudiš erschienen.

Jaroslav Rudiš.

Jaroslav Rudiš vorzuwerfen, er schreibe schon wieder über Bahn, Bier und Böhmen, wäre so, als werfe man einem Zug Pünktlichkeit vor. Und wir schätzen die pünktlichen Züge sehr, ja, ja. Denn wir wissen, dass auch auf immergleichenGleisen jede Fahrt anders ist – je nachdem, wo man sitzt (oder steht …), wer einem gegenübersitzt, welche Zeitung man liest oder was der Typ irgendwo da hinten gerade in sein Telefon brüllt. Es ist immer ein bisschen anders, obwohl es immer dasselbe ist. Wir sitzen also mit Rudiš’ schmalem Büchelchen im Zug – und schauen mit ihm aus dem Fenster, wo die Werke des böhmischen Autors und damit auch »the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins« vorbeiziehen, das heißt: Europa, genauer Mitteleuropa. Wir sehen die wechselnden Landschaften und sehen die wechselhafte Geschichte, die den Gebäuden und den Ländern ins Gesicht geschrieben steht. »Durch den Nebel« ist in der Reihe der Stefan-Zweig-Poetikvorlesungen erschienen, zu denen jedes Jahr Autorinnen und Autoren nach Salzburg an die Paris-Lodron-Universität eingeladen werden, denen die »Vermittlung zwischen den Kulturen ein zentraler Aspekt ihrer künstlerischen Arbeit ist«. Bisher waren das zum Beispiel Feridun Zaimoglu, Terézia Mora, Michael Stavaric und Ann Cotten. Nun also Jaroslav Rudiš, dem – wie Stefan Zweig – »die europäische Idee ein wichtiger Bezugspunkt seines literarischen Schaffens« ist. Das weiß, wer Rudiš’ Werk kennt, und es zeigt sich en miniature vermeintlich unabsichtlich auf S. 94 des neuen Buches. Unter einem Foto, auf dem der Österreich-Ungarn-Reiseführer von Baedeker aus dem Jahr 1913 und der »European Rail Timetable« von 2021 zu sehen sind, steht dort geschrieben: »›Baedekers Österreich-Ungarn‹ und Kursbuch für die Welt«. Und das ist ganz richtig, denn Europa, das ist Jaroslav Rudiš’ Welt. Übrigens taugt »Durch den Nebel« längst nicht nur für Fans, Experten und Expertinnen von Rudiš’ OEuvre, sondern auch sehr gut als Einstieg in dessen Schaffen. Benjamin Heine

Christopher Buehlman

Christopher Buehlman

Der schwarzzüngige Dieb. Aus dem amerikanischen Englisch von Urban Hofstetter und Michael Pfingstl. Stuttgart: Klett-Cotta 2022, 518 S., 26 €

Christopher Buehlman.

Fluchen und Flachsen ist sein Hobby. Wenn er nicht gerade seine Mitmenschen um Goldschmuck und Geldkatzen erleichtert, verliert sich Kinsch N Schannack in Sprachspielereien. Der kleingewachsene Dieb hat das Glück gepachtet und ist vieler Zungen mächtig. Allerdings steht er bei seiner Gaunergilde tief in der Kreide, weshalb er in Spelunken zur seltsamen Vogelfreiheit verdammt ist: Man darf ihn schlagen und er muss ein Bier ausgeben. Da kommt der Riesenangriff, der die Welt erschüttert, eigentlich gerade recht. Seine abgefahrene High-Fantasy-Story hat Christopher Buehlman in ein bunt geschecktes Gewand gehüllt. Natürlich geht es wendungsreich zu, wenn Schannack seine Schulden abarbeitend einer Kämpferin samt mysteriösem Kriegsraben hilft, eine Thronerbin zu finden. Mit von der Partie ist eine Hexenadeptin, unsanfte Motivationsschübe besorgt eine Gilden-Attentäterin. Das klingt so, als ob man solches schon vielfach gelesen hätte. Aber Buehlman hat mehr auf Lager – neben starken Frauen. Mal erzählt er atmosphärisch dicht, mal fast in rasenden Stichpunkten: was an seiner Figur des Ich-Berichters liegt. Denn der ist ein Schlingel, unstet und durch einen eigenen ethischen Wertekompass geprägt. Chaotisch-neutral würde der im Rollenspiel heißen. Und so einer berichtet nicht in geruhsam verästelten Satzkonstruktionen. Immer wieder wendet er sich direkt an die Lesenden, erklärt dies, kommentiert das, nimmt Sachen vorweg. Zwischen Lakonie und Zynismus bewegt er sich bei diesem Aus-der-Rolle-Fallen, dass es eine pure Lesefreude ist. Hier wird man nicht mit verkünstelt blumiger Sprache malträtiert, die einer neuen »Edda« gleichkommen will. Es geht fetzig zu, ist lustig, derb und manchmal auch zart. Wie im richtigen Leben eben – nur in einer anderen Welt. Tobias Prüwer

Olga Ravn

Olga Ravn

Die Angestellten. Aus dem Dänischen von Alexander Sitzmann. Berlin: März 2022. 144 S., 20 €

Olga Ravn.

Olga Ravns zweiter Roman, der erste in – hervorragender – deutscher Übersetzung, schlägt Wellen in der Bücherwelt. Diese schlanke Publikation aus Dänemark sollte gelesen werden. Dafür keine Zeit zu haben, ist keine Entschuldigung. Verfasst mit dem Feingefühl einer wahren Dichterin, zieht Ravn altbewährte Tropen des Sci-Fi-Genres neu auf und verfasst eine Allegorie auf unsere Arbeitswelt. Grundlage dabei ist die Frage nach dem Potenzial künstlicher Intelligenz, Menschen so zu imitieren, dass wir sie vielleicht nicht einmal mehr von uns unterscheiden können. Was aber, wenn beide miteinander existieren und auf etwas Fremdes stoßen, das ebenfalls menschlich scheint? Der Text sammelt die Zeugenaussagen der Arbeitscrew auf einem Raumschiff, die unbekannte Objekte sichergestellt hat – auf diese reagieren humanoide wie menschliche Angestellte intensiv. Die Leitung des Schiffes sammelt, katalogisiert und kommentiert die Aussagen der Crew in einer buchdicken Akte – die Ereignisse spitzen sich zu einem dramatischen Höhepunkt zu. Die Textfragmente mögen zunächst schwer zugänglich sein, doch geht von ihnen ein faszinierender Sog aus. Obgleich der Roman eine Übung in Verdichtung und bewusst eingesetzter Ellipsen ist, so ist er doch auch wirksam in seiner figurativen Sprache. »Die Angestellten« ist ein Buch, das man nicht nach seinem Cover beurteilen sollte. Weshalb hier sowohl für die englische als auch die deutsche Ausgabe nicht das modernistische Design der Originalausgabe lizensiert wurde, ist mir schleierhaft. Denn Ravns Buch ist das bewusste Resultat der Interaktion zwischen der Autorin und den sozialkritischen wie zukunftsorientierten Kunstwelten Lea Guldditte Hestelunds und Barbara Krugers. Doch ohne sie bleiben am Ende Bilder im Kopf, die sowohl die Magie als auch das Geheimnis dieses Romans ausmachen. Marcel Hartwig

Christian Meyer

Christian Meyer

Flecken. Berlin und Dresden: Voland & Quist 2022. 292 S., 24 €

Christian Meyer.

Der erwachsene, kontrollierte, scheinbar unterkühlte Erik taucht gleich am Anfang des Romans in Flecken auf. Und zwar in doppelter Hinsicht, denn »Flecken« ist sowohl der Titel von Christian Meyers literarischem Debüt als auch die Bezeichnung für einen kleinen, aber lokal bedeutenden Provinzort. Der Grund für Eriks Besuch in seiner alten Heimat ist ein trauriger: der Tod seiner ehemals besten Freundin Neele. Doch bei ihrer Beerdigung fühlt er nichts. Den jugendlichen Erik lernen wir gemeinsam mit Neele im nächsten Kapitel kennen. Seit der Kindheit unzertrennlich, teilen die beiden ihr Leben. Neele fände es nur logisch, wenn sie auch zusammen wären, doch Erik verspürt kein körperliches Verlangen – zu niemandem. Sein übersexualisiertes Umfeld nimmt er mit Verwunderung wahr, genau wie Neeles scheinbare Sucht nach dem Gefühl, begehrt zu werden. Nach Verletzungen versucht er sie stets aufzufangen. Bis er den Flecken verlässt. Und sie bleibt. Durch den kontinuierlichen Sprung zwischen Gegenwart und Vergangenheit von Kapitel zu Kapitel kommt man dem Protagonisten und dem Bruch zwischen den beiden näher. Überhaupt lebt der Roman von diesem Aufbau. Der scheinbar langweilige Provinzort gewinnt mit den sozialen Verflechtungen seiner Bewohnerinnen und Bewohner zunehmend an Tiefe. Je länger Erik im Flecken bleibt, desto weiter schlittert er aus seiner Komfortzone. Am Ende erhält er Antworten auf Fragen, die er nie zu stellen gewagt hat. Christian Meyer hat einen vielschichtigen ersten Roman geschrieben, der gesellschaftliche Bilder von Männlichkeit, platonische Liebe und die Bedeutung der eigenen Wahrheit verhandelt. Durch die zeitlichen Sprünge lässt er den Charakteren Raum zur Entwicklung und sorgt immer wieder für Überraschungsmomente. Sarah Nägele

Tsitsi Dangarembga

Tsitsi Dangarembga

Verleugnen. Aus dem Englischen von Anette Grube. Berlin: Orlanda 2022. 306 S., 24 €

Tsitsi Dangarembga.

Mitte der siebziger Jahre ist die gesellschaftliche Stimmung in der britischen Kronkolonie Südrhodesien angespannt. Tambudzai ist sechzehn Jahre alt, als sie in den Ferien mit ansehen muss, wie ihr Onkel wegen seiner zweifelhaften Einstellung von Dorfbewohnern fast zu Tode geprügelt wird und ihre jüngere Schwester ein Bein verliert. Danach kehrt das Mädchen in die Missionsschule zurück, in der sie als Schwarze Schülerin in der Minderheit ist. Von ihrem Klassenzimmer aus kann man die Berge sehen, das Grenzgebiet zum Nachbarland Mosambik, einem Rückzugsraum der Rebellen. Mit nahezu übermenschlicher Anstrengung versucht Tambudzai, nicht aus dem Fenster zu sehen und damit alle Gedanken an ihre Schwester, den Guerillakrieg, ihre Herkunft auszuschließen. Gute, bessere Noten und dabei angepasst und unauffällig bleiben sind ihre einzigen Ziele. Aber auch die besten Noten des Jahrgangs, die kaum zu ertragende Einsamkeit und die Transformation des Landes zur unabhängigen Republik verhelfen ihr nicht zur ersehnten Anerkennung. Im ständigen Kampf gegen die totale Resignation erträgt die Protagonistin dieses Romans Rückschlag um Rückschlag. Die mehrfach preisgekrönte simbabwische Autorin Tsitsi Dangarembga hat mit dem zweiten Teil ihrer Tambudzai-Trilogie ein Psychogramm der Mehrfachdiskriminierung geschrieben. Für die unterprivilegierte junge Frau kann es weder in der (post-)kolonialen Welt noch in der patriarchalen Kultur einen sozialen Aufstieg geben. Keine Inseln der Freundschaft und kein familiärer Zusammenhalt wärmen die beklemmende Geschichte. Überall begegnen Tambudzai nur Ignoranz und Zurückweisung – auch in sich selbst. Dangarembgas scharfer Blick schont weder ihre Hauptfigur noch die Leser und Leserinnen und macht sie damit zur unverzichtbaren Stimme der Gegenwartsliteratur. Jennifer Ressel

Realitäten

Realitäten

30 queere Stimmen. Berlin: Etece-Buch 2022. 187 S., 20 €

Realitäten.

Das Wort »queer« hat eine schnelle Entwicklung erfahren. Ursprünglich war es im englischsprachigen Raum eine Beleidigung für homosexuelle Menschen, aber ab den neunziger Jahren wurde es als Kampfbegriff und Konzept der Gender-Studies verwendet. Heutzutage ist es ein Sammelbegriff für Menschen, die nicht der Heteronormativität entsprechend leben, und es taucht mittlerweile sogar in Werbung und Social Media auf. Ist es also noch nötig, über queere Themen zu reden? Die Antwort auf diese Frage findet sich in »Realitäten«, dem neuen Sammelband des Verlagskollektivs Etece-Buch. Dreißig größtenteils nicht binäre Autor*innen schildern darin verschiedene Aspekte der queeren Community und sprechen über ihre Lebensrealität. Neben der deutschen bilden viele andere Sprachen den Gegenstand der Texte, darunter Lyrik und Prosa, aber überwiegend Essays. Es zeigt sich im Laufe des Bands, wie sich durch Wörter Gewalt präsentiert und repräsentiert: Viele der Autor*innen verbinden linguistische Überlegungen mit Bezügen zu ihrer eigenen Lebensrealität und erzählen, wie es von verbalen Übergriffen zu physischen kommt. Es entsteht eine neue queere Grammatik, die für die Lesenden wie eine Reizüberflutung wirken kann. Es handelt sich aber um eine positive Irritation, denn am Ende des Buches hat man das Gefühl, näher an der Realität zu sein, in der wir alle leben. »Realitäten« zeigt, dass selbst im Jahr 2022 queere Menschen in Europa nicht sicher und nicht sichtbar sind, dass man über queere Belange noch reden muss und dass der Weg in Richtung einer diskriminierungsfreien Welt noch sehr lang ist. Aber dieser Meilenstein der deutschsprachigen Literatur ist auf jeden Fall ein guter Wegweiser. Giorgio Ferretti

Pilar Quintana

Pilar Quintana

Abgrund. Roman. Aus dem kolumbianischen Spanisch von Mayela Gerhardt. Berlin: Aufbau 2022. 245 S., 22 €

Pilar Quintana.

»Meine Mama sagt, von allen Müttern in der Klasse ist deine die hübscheste.« – Das hört Claudia, die achtjährige Ich-Erzählerin, von ihrer Schulfreundin. Hübsch ist auch der Urwald aus Zimmerpflanzen in der Wohnung von Claudias Eltern, schön sind die Trompetenbäume, auch wenn Claudias Mutter von deren Blüten Heuschnupfen bekommt, weshalb sie wochenlang im Bett bleibt. Schön sind die Frauen auf den Zeitschriften, mit deren Lektüre Claudias Mutter sich die Zeit vertreibt. Schön ist Gonzalo, mit dem Claudias Mutter hinter dem Rücken ihres Mannes eine Affäre beginnt. Schön sind die Berge, in denen Claudias Familie den Sommer verbringt, schön ist die hochgiftige Korallenotter, die der Hausverwalter köpft und in den Abgrund wirft. Schön war Claudias Puppe Paulina, ehe auch sie in den Abgrund fiel. Nur – die versierten Lesenden ahnen es bereits – Claudias Vater ist hässlich, »kahl und alt«, und Claudia kommt ganz nach ihm: Sie war »das hässlichste Baby im ganzen Krankenhaus«. Schönheit ist nur ein Diskurs, den die kolumbianische Autorin Pilar Quintana in ihrem hochkomplexen und spannungsreichen Roman »Abgrund« verhandelt. Die Kraft der Natur und die Brutalität der Architektur ziehen sich durch den Text, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Weitergabe familiärer Wunden und vor allem jenes Thema, das Quintana bereits in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman verhandelte: Mutterschaft. Diese Vieldeutigkeit transportiert der spanische Titel ungleich besser: »Los abismos« bezeichnet auch »Kluft« und »Hölle«, »verwirren« und »versinken« stecken darin. Es ist Pilar Quintanas Kunstfertigkeit anzurechnen, dass die Lesenden selbst entscheiden müssen, wer hier versinkt: Claudias Mutter in der Unfähigkeit, ihre Rolle auszufüllen, Claudias Vater im Zwang der Ernährerrolle oder die achtjährige Claudia in einer Kindheit, die ihr keinerlei emotionalen Halt zu bieten vermag. Katharina Bendixen

Angela Steidele

Angela Steidele

In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Berlin: Insel Verlag 2021. 326 S., 24 €

Angela Steidele.

Mit der Biografie »In Männerkleidern« legt der Insel Verlag ein Buch neu auf, dessen Protagonistin im November 1721 hingerichtet wurde. Vor 300 Jahren also, in der Frühen Neuzeit, einer Epoche radikaler Umwälzungen, in der sich vieles veränderte und die Menschen immer wieder neue Blickwinkel auf scheinbar Altbewährtes entdeckten – auch wenn daraus nicht automatisch mehr Toleranz erwuchs. Das musste auch Catharina Linck, deren ereignisreiches Leben Angela Steidele unter die Lupe nimmt, am eigenen Leib erfahren. Sie wuchs in großer Armut auf, begann als Fünfzehnjährige, Männerkleider zu tragen, im Stehen zu pinkeln und in der Welt herumzureisen. Dabei gab sie sich fantasievolle Männernamen, beglückte zahlreiche Frauen mit einem Lederdildo, kämpfte als Musketier, wurde schon einmal fast als Deserteur hingerichtet und heiratete eine andere Frau, deren Mutter den seltsamen Schwiegersohn schließlich anzeigte. Angela Steidele schildert diesen Lebensweg in schlichter, extrem fesselnder Sprache und unterfüttert ihn mit meisterhaft recherchierten Details. Wie nebenbei erfährt man einiges über die religiösen Verhältnisse, das harte Leben preußischer Soldaten und das komplizierte Rechtssystem der damaligen Zeit. Die Autorin folgt nicht nur dem roten Faden Catharina Lincks (oder Anastasius Rosenstengels, wie sie sich anfangs nennt), sondern webt einen ganzen erzählerischen Teppich, um die Lebensverhältnisse und den Zeitgeist greifbar zu machen. Dabei berührt sie zwar auch die Frage, ob Catharina Linck nun queer, lesbisch oder trans gewesen sein mag. Allerdings geht es vor allem um die Erlebnisse einer Persönlichkeit, deren faszinierendes Moment Steidele ohne großes Kategorisieren hervorzuheben versteht. Alexandra Huth

Elizabeth Wetmore

Elizabeth Wetmore

Wir sind dieser Staub. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné. Frankfurt/Main: Eichborn 2021. 319 S., 22 €

Elizabeth Wetmore.

»Valentine« heißt Elizabeth Wetmores Debütroman im Original und verweist auf den Tag der Liebenden, den 14. Februar. An diesem Tag im Jahr 1976 wird die 14-jährige Gloria Ramírez in Odessa, Texas von einem Mann brutal vergewaltigt. Körperlich und seelisch zerschlagen schleppt sie sich über eines der sonnenverbrannten, staubigen Ölfelder, die das Leben der Menschen in diesem Landstrich bestimmen. Auf einer abgeschiedenen Farm kommt ihr Mary Rose Whitehead zu Hilfe, die Glorias Peiniger mit einer Winchester und viel Mut vertreibt. »Wir sind dieser Staub« schildert die Tat und ihre Folgen aus weiblicher Perspektive. Der etwa von Debra Ann, einem verwahrlost wirkenden Mädchen, dessen Mutter die Stadt vor einigen Monaten fluchtartig verlassen hat. Oder aus der Sicht der wesentlich älteren Corrine Shepard, die ihren Ehemann vermisst, der sich – schwer krebskrank – das Leben nahm. Durch die Augen dieser und weiterer Frauen lernt der Leser einen Ort kennen, in dem Liebe nur als Ausnahme existiert. Das System der Ölfelder – die gefährliche Arbeit, das schnelle Geld – fördert Brutalität. Es beutet seine Arbeiter aus; viele von ihnen gehen physisch wie psychisch zugrunde. Die dort herrschende indirekte Gewalt lassen die Männer ganz direkt an den Frauen aus, zu Hause, in der Bar, auf einer einsamen Straße. Elizabeth Wetmore wuchs in Odessa auf, als junge Frau kehrte sie der Stadt den Rücken. In ihrem ersten Roman, geschrieben mit 52, widmet sie sich intensiv dem Ort ihrer Herkunft – mit Figuren, die vom Schmerz getrieben sind, und einer Landschaft, deren Versehrtheit diesen Schmerz widerspiegelt. Andrea Kathrin Kraus

Tatjana Böhme-Mehner

Tatjana Böhme-Mehner

Leipziger Mörderquartett. Meßkirch: Gmeiner-Verlag 2021. 249 S., 12 €

Tatjana Böhme-Mehner.

Anna Schneider ist Musikredakteurin und wird bei einem Konzert Augenzeugin, als ein Bratscher von einem Scheinwerfer erschlagen wird. Anna wittert die lang ersehnte Enthüllungsgeschichte, die sie nun ganz groß rauskommen lässt. Sie erforscht die Zusammenhänge und Hintergründe, tatkräftig unterstützt vom Gewandhaus-Bratschisten Habakuk C. Brausewind und einer Mordkommissarin. Glücklicherweise haben Anna und Habakuk viele Freunde in der Musikszene und sammeln immer mehr Hintergrundinformationen. Der tote Bratscher entstammte einer berühmten Leipziger Musikerfamilie, doch seine Homosexualität passte so gar nicht zu dem familiären Selbstverständnis; vor allem seine Mutter, ehemalige Opernsängerin und Grande Dame der Szene, störte sich daran. Zudem war er ein krankhafter Egomane mit extremem Kontrollwahn und niedriger »Frustrationsschwelle«, der seiner Zerstörungswut freien Lauf ließ, wenn etwas nicht in seine Pläne passte. Der Autorin gelingt es, die Spannung langsam zu steigern und die Leser immer wieder mit neuen Informationen auf falsche Fährten zu schicken. Sprachlich überreizt sie gelegentlich mit unpassenden Formulierungen und Wendungen. Die ausführlich beschriebenen persönlichen Probleme der Charaktere lenken von der eigentlichen Geschichte ab und tragen nichts zu deren Entwicklung bei. Anna Schneider und Habakuk Brausewind kommen sich im Laufe ihrer gemeinsamen Ermittlungen immer näher. Zum Schluss nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung, fast ohne Zutun von Anna, Habakuk und der Kommissarin. Der Roman ist eine entspannende und amüsante Lektüre, insbesondere für Leipziger und ganz besonders für solche, die sich schon immer für die Musikszene und deren Hintergründe und Abgründe interessiert haben. Joachim Schwend

Suzanne Maudet

Suzanne Maudet

Dem Tod davongelaufen. Wie neun junge Frauen dem Konzentrationslager entkamen. Aus dem Französischen von Ingrid Scherf. Hrsg. Patrick Andrivet & Pierre Sauvanet. Berlin: Assoziation A 2021. 127 S., 16 €

Suzanne Maudet.

April 1945, das KZ-Außenlager Leipzig-Schönefeld wird evakuiert, der Todesmarsch gen Osten beginnt. Neun junge Frauen aus Frankreich, den Niederlanden und Spanien wagen die Flucht in die Freiheit, um »dem finalen Massaker zu entkommen«. 1944 wurden sie von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald und Leipzig-Schönefeld gebracht, wo sie für die Rüstungsfirma HASAG arbeiten mussten. Nun können sie hinter Oschatz fliehen, ihr Fußmarsch nach Westen beginnt, den Amerikanern entgegen. Maudet schildert mit distanzierter Selbstironie die Flucht der halb verhungerten jungen Frauen, verdreckt, in zerlumpten Kleidern und »Holzpantinen«. Der Wunsch nach Freiheit ist größer als ihre physischen Qualen, und sie wissen, dass sie nur gemeinsam überleben können. Trotz gesprengter Brücke überqueren sie die Mulde – denn in Colditz warten schon die Amerikaner, »die Hände voll mit Schokolade, Zigaretten, Keksen«. Auf ihrem Marsch treffen sie verschiedene Menschen: amtliche Würdenträger, die die Polizei rufen, Bauern, die sie verjagen, und wieder andere, die ihnen Essen kochen und sie in der Scheune schlafen lassen, darunter auch Wehrmachtssoldaten. Sie werden als »Jüdinnen« bezeichnet und so könne man sie behandeln, wie man will. Der Bericht ist ein »lebendiges und authentisches Dokument und auf geheimnisvolle Weise optimistisch«. Das Böse hier ist die SS, »dieses teuflische Spinnennetz«. Ursprünglich sollte der Titel »Ohne Hass, aber kein Vergessen« lauten – ein passender Ansatz für das heutige Europa, damit der »Geist des Hasses und Unsegens« sich nicht weiter verbreitet. Das kleine Buch regt zum Nachdenken an und vielleicht auch zu einem Besuch der Gedenkstätte in Leipzig-Schönefeld. Joachim Schwend

Oleg Senzow

Oleg Senzow

Haft. Aus dem Russischen von Claudia Dathe. Berlin und Dresden: Voland & Quist 2021. 432 S., 26 €

Oleg Senzow.

145 Tage lang war der ukrainische Regisseur und Maidan-Aktivist Oleg Senzow im Hungerstreik. In dieser Zeit hat er Tagebuch und Kurzgeschichten geschrieben. 337 Seiten lang folgt man ihm bei seinen Analysen über Fußball, Literatur und Film sowie bei der detaillierten Beschreibung des russischen Strafvollzugssystems. Immer mit dem Bewusstsein, dass jeder weitere Tag einer ist, an dem Senzow dem Tod ein Stück näher rückt. Und auf ebendiesem Untergrund sticht jener Satz in seiner Schlichtheit hervor: »Ich war verwundert, als ich von meinem Anwalt hörte, dass nicht der ukrainische Staat die Kosten für seine Reisen und Honorare zahlt, sondern dass russische Regisseure zusammenlegen.« Eine Erkenntnis, die Oleg Senzow am vierzigsten Tag seines Hungerstreiks ereilt. Ein Staat, für den er letztlich auf der Krim und am Maidan gekämpft hat, zahlt nicht einmal die Reisekosten seines Anwalts. Man ist versucht zu glauben, dies könnte ein Wendepunkt im Denken, eine Abkehr von seiner Haltung bewirken. Aber es gibt keine Wendepunkte in den 145 Hungerstreiktagen, nur ein Festhalten an einem Vorhaben, das im Kern die Freilassung ukrainischer politischer Gefangener zum Ziel hat. Und wahrscheinlich ist es auch nicht möglich, nachdem einmal ein solcher Entschluss gefasst wurde, sich ohne Weiteres davon zu lösen. Die Umsetzung fordert ja die gesamte Kraft. Eindringlich und roh sind die Beschreibungen des Haftalltags in der russischen Strafkolonie »Eisbär« in Labytnangi am Polarkreis. Man kommt nicht umhin, Bewunderung allein für die konsequent geführten Tagebucheinträge zu empfinden, wirkt sich doch die vollkommene Absenz von Nahrung auch stark auf das psychische Befinden aus. In jedem Fall ein eindringliches Kapitel Widerstandsliteratur, das sich allein aufgrund seiner Vielschichtigkeit zu lesen lohnt. Kaśka Bryla

Clemens Meyer

Clemens Meyer

Stäube. Drei Erzählungen und ein Nachsatz. Mit Fotografien von Bertram Kober. Leipzig: Faber & Faber 2021. 128 S., 22 €

Clemens Meyer.

Unermüdliche Schaufelradbagger durchpflügen, verändern und zerstören Lebensräume, bestimmen den Alltag und das Schicksal mehrerer Generationen in Clemens Meyers neuem Buch. Drei Erzählungen und einen Nachsatz verkündet uns der Untertitel. Eine der Geschichten handelt von einem Höhlenforscher, der sich auf der Suche nach der Königin der Tiefe in den Stollen seines eigenen Forschungsobjekts verliert, die anderen beiden erzählen von Menschen, die in Tagebaugebieten leben. Figuren, die ihre Heimat nicht verlassen wollen, bis ihnen der Bagger buchstäblich den Boden unter den Füßen weggräbt, werden von Meyer in einer Sprache beschrieben, die dieses Gefühl des Kurz-vor-dem-Abgrund-Stehens in den Leser hineinbrennt. Das Bild auf dem Schutzumschlag – ein mächtiges Schaufelrad eines alten Kohlebaggers – stammt vom Fotografen Bertram Kober, dessen weitere Aufnahmen sich in einem eigenen Bildteil an die drei Erzählungen im Buch anschließen. Sie eröffnen kleine Welten, in denen industrielle Überreste dem Zerfall und dem Verschwinden trotzen und landschaftliche Folgeerscheinungen zum Symbol der Zerstörung werden. Die Fotografien schaffen zugleich eine Reflexionsphase zwischen den literarischen Texten und dem darauf folgenden literaturwissenschaftlichen Exkurs Meyers. In seinem Nachsatz über die Frage »Wozu Literatur?« nimmt der Autor dem Leser Anstrengungen zur Intertextualität in seinem Werk ab, indem er die Entwicklung des eigenen Schreibens anhand seines persönlichen Literaturkanons skizziert. Dies geschieht gleichzeitig auch als Gegenposition zur Tendenz, Bücher rein im Kontext der Autorenbiografie zu rezipieren. Literatur ist für Meyer die einzige Möglichkeit, »Steine zu erweichen, Felsen weinen zu lassen, Menschen zu verzaubern …« und Drachen durchs Erdreich ziehen zu lassen. Hanna Schneck

Aminata Touré

Aminata Touré

Wir können mehr sein. Die Macht der Vielfalt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021. 272 S., 14 €

Aminata Touré.

Der sogenannte Vorbild-Effekt ist belegt: Wenn Frauen andere Frauen in bedeutsamen Positionen erleben, steigen ihr Selbstbewusstsein, ihr Potenzial und ihre Motivation. Für mehrfach marginalisierte Gruppen fehlen die Vorbilder häufig, zum Beispiel in der politischen Landschaft Deutschlands. Das Buch »Wir können mehr sein. Die Macht der Vielfalt« will genau diese Lücke füllen. Dessen Autorin, die Grünen-Politikerin Aminata Touré, kam 1992 in Neumünster als Kind von geflüchteten Eltern auf die Welt, seit 2017 sitzt sie im schleswig-holsteinischen Landtag. Bis zu ihren Teenager-Jahren lebte sie permanent mit der Gefahr, nach Mali abgeschoben zu werden. Dabei lebte sie dort nie. Ihre alleinerziehende Mutter brachte Touré und ihren Geschwistern früh bei, dass sie als Schwarze Jugendliche und junge Frauen mehr leisten müssen, um dieselbe Anerkennung zu bekommen wie ihre weißen Mitmenschen. Dass nicht-weiße Jugendliche im deutschen Schulsystem aufgrund rassistischer Einstellungen der Lehrkräfte benachteiligt werden und bei gleicher Leistung schlechtere Noten bekommen, wurde mehrfach wissenschaftlich belegt. Insofern hatte Tourés Mutter, die als Autorin eines der Kapitel im Buch auch selbst zu Wort kommt, recht. Tourés Sprache ist zugänglicher als viele Bücher, die man von Politiker:innen kennt. Das ist wertvoll, weil sie viel vom politischen Alltag erzählt – eine Welt, die für Außenstehende unzugänglich sein kann. Tourés Gedichte zwischen den Kapiteln liefern zudem Einblicke über ihre Innenwelt. Sibel Schick

Stefan Heym

Stefan Heym

Flammender Frieden. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. München: C. Bertelsmann 2021. 477 S., 24 €

Stefan Heym.

Lieutenant Bert Wolff, 1933 vor den Nazis geflohen, landet als amerikanischer Soldat in Algerien und kämpft gegen machtbesessene Nazis und korrupte Franzosen des Vichy-Regimes. Er verteidigte bereits im Spanischen Bürgerkrieg in der Internationalen Brigade seine Ideale einer linken Utopie und in Nordafrika geht der Kampf weiter. Als Vernehmungsoffizier sammelt er möglichst viele Informationen. Sein größter Feind aus Spanien ist wieder da: Major Ludwig von Liszt, überzeugter Faschist und Machtmensch, der die Ideale der Amerikaner voller Verachtung abtut: Sie denken »immer viel zu christlich«. In dem autobiografisch gefärbten Roman schildert Heym mit klarer und direkter Sprache, wie die teilweise doch etwas naiven Amerikaner vieles nicht verstehen, weil es nicht in ihr Weltbild passt. Heym stellt als allwissender Autor eine Fülle von Protagonisten vor, die mit langen Rückblicken in ihre Vergangenheit die Vielschichtigkeit ihres Charakters offenbaren. In komplexen Handlungssträngen entwickeln sich die Ereignisse langsam und verdeutlichen den Lesern die Verbindungen der Figuren untereinander. Dabei tummeln sich die skrupellosen Machtmenschen, für die nur das eigene Ego und der eigene Vorteil zählen, auf beiden Seiten. Eine Französin spielt eine zentrale Rolle, zwischen den vielen Männern steht sie für eine unglückliche Liebe zwischen Hass und Hingabe: »Nicht, dass sie Liszt nicht liebte – ihr Problem war, dass sie es tat.« – »Casablanca« lässt grüßen. Bernhard Robbens Übersetzung liest sich gut und flüssig. Der Roman spricht allgemein menschliche Probleme an und durch seine Botschaften ist er heute so aktuell wie bei seiner Erstveröffentlichung in den USA. Eine lohnende Lektüre, die zum Nachdenken anregt. Joachim Schwend

Iuditha Balint, Julia Dathe et al. (Hg.)

Iuditha Balint, Julia Dathe et al. (Hg.)

Brotjobs & Literatur. Berlin: Verbrecher Verlag 2021. 240 S., 19 €

Iuditha Balint, Julia Dathe et al. (Hg.).

Wie wird einer Autor, und vor allem: Wie bleibt sie es? Dieser Frage geht eine neue Anthologie nach, in der 19 Autorinnen Auskunft darüber geben, mit welchen Tätigkeiten sie ihre literarische Arbeit finanzieren. In den seltensten Fällen ist das der Buchverkauf. Häufiger sind es Lese- oder Workshophonorare, oft auch das Gehalt als Gabelstaplerfahrer oder Gestalttherapeutin. Die Texte in »Brotjobs & Literatur« reichen von überraschenden Lebensgeschichten bis hin zu zynisch-fröhlichen Tagebucheinträgen, immer wieder geraten die Herkunft und damit das eigene Verhältnis zur Arbeit in den Blick. Unter den versammelten Autorinnen sind glücklicherweise genug, für die Arbeit keineswegs »eher eine Art von Bezug oder Bezüglichkeit, die Möglichkeit, etwas zu geben oder mich in Verbindung zu setzen« (Swantje Lichtenstein) darstellt, sondern eine mal freudvolle, mal entfremdete Tätigkeit, ohne die sie kein Dach überm Kopf besäßen. Entbehrungsreich ist das Autorendasein für fast alle Beitragenden, und manch einer »rechnet sich, um nicht gänzlich die Lust daran zu verlieren, natürlich sein symbolisches Kapital schön«, wie Sabine Scho es mit sympathischer Offenheit beschreibt. Den Mythos, dass die Kunst in ihrer Größe diese Entbehrungen schon irgendwie aufwiegt, zerschlägt Scho dankenswerterweise: Schließlich verdienen an der Literatur beispielsweise Agentinnen oder Literaturhausleiter durchaus akzeptabel. In einem beliebigen Job zu arbeiten und sich dabei sein ökonomisches Kapital schönzureden, ist allerdings auch keine Lösung, und es ist auch nicht zu erwarten, dass das bedingungslose Grundeinkommen die Widersprüche des Spätkapitalismus auflösen wird. Vielleicht bringt Thorsten Krämer es auf den Punkt, indem er eine Parole ausgibt, die weit über den Literaturbetrieb hinausreicht: »Nicht ›Mehr Geld für Kultur!‹, sondern: ›Ein anderer Arbeitsmarkt!‹« Dem wäre noch einiges hinzuzufügen. Aber ich muss jetzt los. Geld verdienen. Katharina Bendixen