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Rezensionen

Catch the Killer

Catch the Killer

USA 2023, R: Damián Szifron, D: Shailene Woodley, Ben Mendelsohn, Jovan Adepo, 119 min

Es ist eine ausgelassene Silvesternacht, in der plötzlich die Hölle über einen Stadtteil in Baltimore hereinbricht: Mit schockierender Präzision ermordet ein Scharfschütze innerhalb kürzester Zeit 29 Menschen an mehreren Orten, jagt, als die Einsatzkräfte anrücken, die Wohnung in die Luft, von der aus er die Taten begangen hat, und ist danach spurlos verschwunden. Der FBI-Spezialist Jeffrey Lammark wird mit der Aufklärung des Massakers betraut und zieht bald die scharfsinnige, aber auch problembeladene Streifenpolizistin Eleanor Falco hinzu, um den Killer zu finden, bevor der erneut ausrastet, während die Behörden ihnen die Arbeit durch bürokratische Fallstricke erschweren. Der argentinische Regisseur Damián Szifron legt neun Jahre nach seinem Erfolgsepisodenfilm »Wild Tales – Jeder dreht mal durch!« endlich nach und hat sich dafür einen klassischen Thrillerstoff ausgesucht. Shailene Woodley und Ben Mendelsohn geben darin ein sehenswertes Ermittlergespann mit Ecken und Kanten ab, dessen Mördersuche spannend und realistisch vonstattengeht. Die Zeichnung ihrer Figuren gerät dabei ebenso überzeugend wie später die des Killers, dessen Taten schockierend, aber nicht reißerisch in Szene gesetzt werden. Gelungen ist bei alledem auch die Kameraarbeit von Javier Julia, der die Schauplätze angemessen düster einfängt, mit ein paar Kniffen aber auch das Innenleben der Charaktere spiegelt. Peter Hoch

Die Mittagsfrau

Die Mittagsfrau

D 2023, R: Barbara Albert, D: Mala Emde, Fabienne Elaine Hollwege, Laura Louisa Garde, 136 min

Das Leben ist nicht leicht als Frau im Nationalsozialismus – und als jüdische noch viel weniger. Helene Würsich – vor ihrer kaltherzigen Mutter nach Berlin geflüchtet – taucht in eine neue Welt der Bohème ein und widmet sich parallel ihrem Medizinstudium. Doch dann stirbt ihre große Liebe bei einer Protestaktion gegen die Nazis. Helene lässt sich mit einem Soldaten ein, der schließlich rausfindet, dass sie Jüdin ist, sie aber trotzdem heiraten und mit gefälschten Papieren schützen will. Von da an kämpft die emanzipierte Frau gegen Rollenbilder, ihren sich zum Tyrann wandelnden Ehemann und das Damoklesschwert der Aufdeckung ihrer wahren Identität. Dabei reizt sie immer wieder die Eskalationsstufen mit dem Mann und ihrem Kind aus. Der auf Julia Francks gleichnamigem Bestseller basierende Film verknüpft über 30 Jahre nahtlos und mit Flashbacks eine Vielzahl an Themen: die Tücken der Familienbande, die Spektren von Abhängigkeit und Macht, das Ringen um Herkunft und Identität, das Emotionschaos im Mutterdasein – alles vor dem Auf- und Abstieg des Nationalsozialismus. Doch getragen von den guten Schauspielerinnen und Schauspielern fügt sich der etwas zu lang geratene Streifen dennoch zu einem großen Ganzen. Dazu trägt auch die inszenatorische Poesie bei, die immer wieder mit Rauchschwaden, Lichtreflexionen und starken Bildern die Gefühlswelten intensiviert. Markus Gärtner

DogMan

DogMan

F/USA 2023, R: Luc Besson, D: Caleb Landry Jones, Christopher Denham, Marisa Berenson, 113 min

Der Hund gilt ja als der beste Freund des Menschen, insbesondere, wenn diese selbst nicht so freundlich sind. Von seinem christlich ver(w)irrten Vater und dem Bruder wird Douglas Munrow als Kind zu Kampfhunden in den Zwinger gesperrt. Doug (Caleb Landry Jones) verelendet, verlernt das Laufen und den Glauben an die Menschen, wird aber Alphatier und hat fortan eine getreue schwanzwedelnde oder zähnewetzende Meute Helfer um sich, die sich mit ihm durch alle Lebenslagen beißen. Luc Bessons Drama wird teilweise in Rückblenden erzählt, als Doug nach einer Festnahme von einer ebenfalls leidgeprüften Psychologin interviewt wird und dabei die entscheidenden Wendungen geklärt werden: Wie konnte er fliehen? Gab es trotzdem auch Liebe in seinem Leben? Wie lebt er überhaupt? In all diesen Szenen spielt Jones (u. a. »Three Billboards Outside Ebbing, Missouri«) nuanciert eine eindrückliche Mischung aus trotzigem Stolz und immer weiter blutender Verletzlichkeit – und erinnert zwangsläufig wegen seines zwischenzeitlichen Make-ups an Batmans Joker. Des Publikums Rätseln über das Gut/Böse-Schema des Protagonisten wird immer wieder auf harte Proben gestellt, denn der »Dogman« scheut nicht davor zurück, Gegner von seinen Vierbeinern zerfetzen zu lassen. So einfühlsam der Film über weite Strecken läuft, aalt er sich irritierenderweise gerade im letzten Drittel sehr im Blut. Trotzdem empfehlenswert, auch wegen Dougs ergreifender Performance als Edith-Piaf-Double. Markus Gärtner

Burning Days

Burning Days

TRK 2022, R: Emin Alper, D: Selahattin Paşalı, Ekin Koç, Erol Babaoğlu, 128 min

Das kleine Nest Yaniklar im Südwesten der Türkei. Das Meer ist nicht weit und doch bestimmt die staubige Steppe die Landschaft. Ein anhaltendes Trinkwasserproblem bringt die Menschen zunehmend auf die Barrikaden gegen ihren Bürgermeister. Zu allem Überfluss verschwinden auch immer mehr Häuser in Sinklöchern, die sich plötzlich im Boden auftun. Um das ungewöhnliche Nachgeben der Erde zu untersuchen, wird der junge Staatsanwalt Emre hierher versetzt. Er soll eine Klage prüfen und wird von Anfang an misstrauisch von den Dorfbewohnerinnen und -bewohnern beäugt. Als ein Romamädchen vergewaltigt wird, gerät Emre in Verdacht und ist bald selbst nicht mehr sicher, ob er vollkommen unschuldig ist. Autor und Regisseur Ermin Alper (»Eine Geschichte von drei Schwestern«) übt unverhohlene Kritik an seinem Land: Korruption bestimmt hier die Politik, Probleme werden ausgesessen, einfach weil es schon immer so war. Hinzu kommt eine immanente Homophobie gepaart mit dem türkischen Hedonismus, in dem Frauen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Eine bittere Kleinstadt-Groteske, die Western-Elemente in sich trägt, »reitet« Emre doch als einsamer Cowboy ins türkische Hinterland, wo ein raffgieriger Sheriff und seine zwielichtigen Schergen das Sagen haben. Gefasst ist das groteske Spiel in die wunderschönen Widescreen-Aufnahmen von Hristos Karamanis (»Soy Nero«). Lars Tunçay

Dalíland

Dalíland

USA/GB/F 2022, R: Mary Harron, D: Ben Kingsley, Barbara Sukowa, Ezra Miller, 97 min

New York, 1973: Wenige Jahre zuvor noch als Ikone des Surrealismus gefeiert, droht der Stern Salvador Dalís zu sinken. Der Maler steckt in einer Schaffenskrise und feiert lieber rauschende Partys mit jungen, hübschen Männern, als den Pinsel in die Hand zu nehmen. Seine nicht weniger exzentrische Frau Gala versucht derweil, die Finanzen im Griff zu behalten und ihren Mann anzutreiben. Aber auch sie pflegt nebenbei ihre Affären. Da kommt der junge Galerieassistent James in beiderlei Hinsicht gerade recht. Er soll dafür sorgen, dass Dalí arbeitet und gerät dadurch zwischen die Fronten des Paares. Geblendet vom rauschenden Leben in Dalís innerem Zirkel merkt er nicht, dass er eigentlich benutzt wird. Die ungewöhnliche, nicht immer einfache Beziehung zwischen Salvador und Gala Dalí steht im Mittelpunkt von Mary Harrons (»American Psycho«) rauschhaftem Biopic. Viel ist geschrieben worden über den Maler und seine Muse. Gala kam dabei selten gut weg, wurde sie doch oft als launenhafte Diva dargestellt. Barbara Sukowa verleiht ihr Konturen, die das Drehbuch von John Walsh nicht immer hergeben. Sie ist stets auf Augenhöhe mit ihrem Leinwandpartner Ben Kingsley, der sich die berühmte Figur zu eigen macht, wie man es vom Meister seines Fachs gewohnt ist. Erzählt wird die Geschichte durch die Augen des Assistenten, verkörpert vom Nachwuchstalent Christopher Briney, der sich hier im virtuosen Spiel zweier Schauspielikonen sonnen darf. Lars Tunçay

Frauen in Landschaften

Frauen in Landschaften

D 2023, Dok, R: Sabine Michel, 87 min

Sie sind Politikerinnen, sie sind Frauen, Mütter, und sie sind Ostdeutsche. Eine Kombination, die im Bundestag immer noch selten ist, und gleich mit einer ganzen Reihe an Vorurteilen behaftet ist. In ihrem neuen Dokumentarfilm begleitet Regisseurin Sabine Michel (»Zonenmädchen«, »Montags in Dresden«) vier Frauen, die an unterschiedlichen Punkten ihrer politischen Karriere stehen: Yvonne Magwas (CDU), Anke Domscheit-Berg (Die Linke), Frauke Petry (ehemals AfD) und Manuela Schwesig (SPD). Mit Vorurteilen haben alle der vier Frauen zu kämpfen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, nur die Antworten, die sie darauf finden, unterscheiden sich stark. Sabine Michel fragt nach, begleitet die Frauen in ihrem Alltag und zu offiziellen Terminen. Angenehm offen erzählen die Politikerinnen der Regisseurin von ihren Erfahrungen: Von der Suche nach der eigenen Rolle in ihrer Partei, der Verantwortung gegenüber der eigenen Familie, von #metoo und dem Aufwachsen in der DDR. Sabine Michel lässt ihren Protagonistinnen viel Raum zur Reflexion des eigenen Werdegangs, der dankend angenommen wird. Deutlich wird: Es ist noch viel zu tun, wenn man Frauen vorwirft, als Mutter in die Politik gegangen zu sein, statt zu schauen, wie man junge Familien in dieser Situation unterstützen kann. So ist die Landschaft, in der sich die Frauen bewegen, kaum als »blühend« zu bezeichnen. Es bleibt ein steiniger Weg. Hanne Biermann

Millenium Mambo

Millenium Mambo

TW/F 2001, R: Hou Hsiao-Hsien, D: Shu Qi, Jack Kao, Chun-hao Tuan, 119 min

Bei den europäischen Filmfestivals ist der taiwanische Regisseur Hou Hsiao-Hsien Dauergast. 1989 gewann er mit dem Film »Eine Stadt der Traurigkeit« den Goldenen Löwen, sechs Mal waren seine Filme für die Goldene Palme nominiert. Bei uns ist das Kino des Autorenfilmers nach wie vor relativ unentdeckt. Da ist es umso erfreulicher, dass der Verleih Rapid Eye Movies nun ein zentrales Werk des Regisseurs in die deutschen Kinos bringt. »Millennium Mambo« greift nach der Zukunft, erzählt die Geschichte als Rückblende im Jahr 2011, das zur Entstehung und Handlung des Films im Jahre 2001 noch in der unbekannten Zukunft lag. Für Vicky steht die Zeit still. Vor Jahren hatte sie sich geschworen, Jack zu verlassen. Doch die beiden leben in einer gegenseitigen Abhängigkeit. Sie hatten sich jung verliebt. Die ambitionierten Träume gingen im Drogen- und Partyrausch verloren. Jetzt arbeitet sie in einer Bar als Hostess und wenn sie heimkommt, durchwühlt er aus Eifersucht jedes Mal ihre Handtasche. Als Vicky den Geschäftsmann Hao-Hao kennenlernt, keimt in ihr die Hoffnung auf einen Ausweg. Hou Hsiao-Hsiens rauschhaftes Porträt einer perspektivlosen Jugend in Taipeh erstrahlt zwei Jahrzehnte später in neuem Glanz. Davon profitieren vor allem die neondurchfluteten Bilder von Kameramann Mark Lee Ping-bing (»In the Mood for Love«). Und wir alle davon, dass Hou Hsiao-Hsiens Meisterwerk endlich in unseren Kinos entdeckt werden kann. Lars Tunçay

Passages

Passages

F/D 2023, R: Ira Sachs, D: Franz Rogowski, Ben Whishaw, Adèle Exarchopoulos, 91 min

Wenn der Regisseur Tomas Freiburg den Raum betritt, ist der Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Neben Tomas hat es jeder schwer, allen voran sein Ehemann Martin. Der arbeitet als Grafikdesigner in Paris und hat sich in seine Rolle als stiller Beobachter gefügt. Nach 15 Jahren Zusammenleben führen die beiden eine zweckmäßige, aber liebevolle Beziehung in der Stadt der Liebe. Bis Tomas auf die Lehrerin Agathe trifft und eine Affäre mit ihr beginnt. Als er Martin davon erzählt, wie bereichernd die Beziehung zu einer Frau ist, sucht der sich seine eigene Affäre. Neid und Eifersucht treiben Tomas zurück zu Martin und Martin weg von Tomas. Ein toxisches, unheilvolles Beziehungsgeflecht, verkörpert von zwei Charakterdarstellern. Der exzentrische Tomas wird einnehmend gespielt von Franz Rogowski (»Transit«). In den Schuhen eines anderen Schauspielers würde man Tomas vermutlich hassen. Rogowski verleiht ihm einen unausweichlichen Charme. Die Kombination aus seiner extrovertierten Darbietung, dem nuanciert agierenden Ben Whishaw (»Das Parfum«) und der sinnlichen Verkörperung von Adèle Exarchopoulos (»Blau ist eine warme Farbe«) macht den geradlinig erzählten Film von Ira Sachs zu einem faszinierenden Beziehungsspiel. Die lose Schauspielführung des Regisseurs (»Junge Männer«) nehmen die Schauspieler dankbar auf. Die Intimität am Set überträgt sich auf die Leinwand, auf der sich das Leben abspielt, schmerzhaft roh und entwaffnend ehrlich. LARS TUNÇAY

Motherland

Motherland

UKR/SW/NOR 2023, Dok, R: Alexander Mihalkovich, Hanna Badziaka, 92 min

Manchmal reicht eine Einstellung, um die ganze Brutalität einer Situation zu verdeutlichen. Die Filmemacher Alexander Mihalkovich und Hanna Badziaka haben diese Einstellung gefunden. Eine Gruppe von Männern und Frauen wartet vor einem belarussischen Gefängnis auf die Freilassung ihrer Verwandten und Freunde. Stumm stehen sie beieinander, während hinter den Gefängnismauern die Schreie der Gefolterten erklingen. Kurze Zeit später öffnen sich die Gefängnistore. »Nicht klatschen«, sagt jemand. Anderswo bieten Sanitäter erste Hilfe an. Eine ehemalige Insassin zeigt der Kamera ihre Wunden. »Motherland« ist ein harter Film. Ungeschönt erzählt er vom heutigen Belarus. Von der Opposition dort und welchen Preis sie bezahlt, in ihrem Kampf gegen den Machthaber Alexander Lukaschenko. Die Filmemacher zeigen, wie Freunde aufeinander gehetzt werden. Wie junge Männer im Militär gebrochen werden. Und manche schlicht nicht mehr zurückkehren. Ihre Protagonistin Svetlana ist die Mutter eines verstorbenen Soldaten. Auf den belarussischen Ämtern versucht sie herauszufinden, was ihrem Sohn bei der Armee widerfahren ist. Selten werden Filme so dicht am Puls ihrer Epoche erzählt. »Motherland« beeindruckt als Dokumentation. Er ist aber auch jetzt schon ein bedeutendes Zeitzeugnis aus einem Land, das sich längst abgeschottet hat. Gewidmet ist er jenen Menschen, die in Belarus und der Ukraine für ihre Freiheit kämpfen. JOSEF BRAUN

Fallende Blätter

Fallende Blätter

FIN 2023, R: Aki Kaurismäki, D: Alma Pöysti, Jussi Vatanen, Janne Hyytiäinen, 81 min

Durch das Kino von Aki Kaurismäki (»Der Mann ohne Vergangenheit«) lernten wir Finnland kennen als einen dunklen Ort mit depressiven Menschen, die viel Alkohol konsumieren. Die Männer sind schweigsam und verbergen ihre Gefühle, worunter wiederum die Frauen zu leiden haben. Und doch haben wir Finnland durch die Filme von Aki Kaurismäki lieben gelernt. Denn tief unter der Traurigkeit liegen ein wundervoller lakonischer Witz und ein großer Sinn für Romantik. Sechs Jahre mussten wir auf neue Geschichten aus dem hohen Norden warten. Und das Warten hat sich gelohnt. »Fallende Blätter« ist 100 Prozent Kaurismäki mit schrägen Figuren, trockenem Humor, viel Alkohol und Liebe. Die verhinderte Beziehung zwischen dem Stahlarbeiter Holappa und der Supermarkt-Angestellten Ansa muss viele Hürden nehmen, bevor sie endlich erblühen kann. Der Tagelöhner verbringt die Zeit nach Dienstschluss im Schlagabtausch mit seinem Kumpel Huotari und viel Alkohol. Als er in einer Karaokebar auf Ansa trifft, fällt es ihm schwer, die Fassade der Coolness zu bewahren. Er verlässt das Lokal mit ihrer Nummer, doch die hat er schnell verloren und es braucht einige Wendungen des Schicksals, bis die beiden Liebenden wieder voreinander stehen. Im Vorbeifilmen verneigt sich der Regisseur vor seinen Idolen, zollt der Nouvelle Vague Tribut und versieht seine Liebesgeschichte mit wundervollen Gesangseinlagen. Für so viel Wille zur Virtuosität gab es den Großen Preis der Jury in Cannes. Lars TUNÇAY

Die einfachen Dinge

Die einfachen Dinge

F 2023, R: Eric Besnard, D: Lambert Wilson, Antoine Gouy, Grégory Gadebois, 96 min

Zu dumm: Ausgerechnet auf einer entlegenen Straße in den französischen Alpen bleibt der immens erfolgreiche Unternehmer und Technik-Tausendsassa Vincent Delcourt mit seinem Cabriolet liegen. Doch eine glückliche Fügung will es, dass nur wenig später der wortkarge Pierre auf einem Motorrad vorbeikommt und sich seiner annimmt. Der Eigenbrötler bringt Vincent erst einmal zu seinem rustikalen Zuhause auf dem Berg und versorgt ihn mit einem köstlichen Omelett und einer Ruhegelegenheit, bevor er ihn abends zu seiner geschäftlichen Verabredung in den nächsten Ort bringt – und wegfährt, bevor Vincent eine Dankeseinladung konkretisieren kann. Beim folgenden TV-Interview erleidet der gestresste Geschäftsmann jedoch eine Panikattacke, was ihn viel früher wieder mit Pierre zusammenführen wird, als gedacht. Mit erfolgreichen Wohlfühlfilmen wie »Birnenkuchen mit Lavendel« und zuletzt »À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen« hat Regisseur Éric Besnard sich einen guten Namen beim frankophilen Publikum und den Arthouse-Kinobetreibern gemacht. Auch sein neuer Film dürfte dort wieder Anklang finden, denn die gewohnt hübsch bebilderte Geschichte über zwei Männer bei der Selbstfindung durch eine Lebenskrise, grundsolide verkörpert von Lambert Wilson und Grégory Gadebois, hält durchaus die eine oder andere nette Botschaft parat. Ohne die zuschauenden Gemüter bei deren Vermittlung zu sehr zu beanspruchen. Peter Hoch

Anhell69

Anhell69

KOL/RUM/FRA 2022, Dok, R: Theo Montoya, 72 min

Kolumbien wurde viele Jahre von Korruption, Polizeigewalt und einer rechtsextremen Regierung dominiert. Theo Montoya kam 1992 in Medellín zur Welt und wuchs wie viele seiner gleichaltrigen Freunde ohne Vater auf. Mit seiner Clique wollte er einen Horrorfilm über Geister drehen, doch sein potenzieller Hauptdarsteller, der auf Instagram »Anhell69« hieß, kam kurz nach dem Casting mit 21 Jahren ums Leben. Camilo Najar, so sein bürgerlicher Name, blieb nicht der Einzige aus Montoyas Freundeskreis, der viel zu früh verstarb. Ihm und sieben weiteren jung Verstorbenen ist dieser kunstvolle Essayfilm gewidmet, der Dokumentaraufnahmen aus einem Land der Unruhen und des Protests mit Interviewszenen und Ansätzen des eigentlich geplanten fiktionalen Films verwebt. In Letzterem geht es um Spektrophilie, also den Sex mit Geistern, die hier sinnbildlich für die Queerness der meisten Beteiligten verwendet wird. Es leben zwar mehr LGBTs in Medellín als in jeder anderen kolumbianischen Stadt, sie sind aber auch dort nicht vor gewalttätigen Übergriffen geschützt. Viele von Montoyas Freunden sagen in den Interviews, dass sie im Hier und Jetzt leben, dass Zukunft für sie keine Bedeutung hat. Dass zwei von ihnen schon kurze Zeit danach tot waren, unterstreicht diesen Fatalismus. Ein atmosphärisch stimmungsvolles Filmexperiment, das auf der DOK Leipzig mit der Goldenen Taube ausgezeichnet wurde. Frank Brenner

Geschlechterkampf – Das Ende des Patriarchats

Geschlechterkampf – Das Ende des Patriarchats

D 2023, R: Sobo Swobodnik, D: Margarita Breitkreiz, Isabel Thierauch, Reyhan Sahin, 101 min

Marga hat das Patriarchat gründlich satt. Als Schauspielerin Anfang 40 mit migrantischer Herkunft ergattert sie trotz vielversprechenden Karrierestarts kaum noch Engagements. Dabei spürt sie immer mehr, wie geschlechterspezifisch ungerecht es in der Branche zugeht. Und auch sonst springen sie an jeder trostlosen Berliner Ecke patriarchale Strukturen an. Auf der Straße, im Späti und in den Öffis tummeln sich übergriffige Männer, selbst der Callcenter-Chef wähnt sich genüsslich in einer Machtposition. Und bei jedem Termin beim Arbeitsamt sitzt derselbe Berater im Strickpullunder da, der nichts von ihrer Situation versteht und trotzdem über deren Verlauf mitentscheiden darf. Da hilft nur: sich zur Wehr setzen und Banden bilden. Denn das Patriarchat zu zerschlagen, ist nichts für Einzelkämpferinnen, da stimmt auch Theresa Bücker bei einer gemeinsamen Bootstour mit der Protagonistin zu. Neben der Autorin begegnen uns noch zahlreiche andere Stimmen des Feminismus in »Geschlechterkampf« – manche in Form ihrer zitierten Gedanken, wie Laurie Penny oder Audrey Hepburn, andere, wie Bücker oder Lady Bitch Ray, leibhaftig. Anhand der Biografie der Hauptdarstellerin versucht »Geschlechterkampf – das Ende des Patriarchats« Geschlechterfragen in einer thesenhaften Annäherung zu erkunden. Am Ende wird klar: Um mit den vorherrschenden Strukturen zu brechen, müssen feministische Kämpfe vereinigt werden. SARAH NÄGELE

Talk To Me

Talk To Me

GB 2023, R: Danny Philippou, Michael Philippou, D: Sophie Wilde, Joe Bird, Alexandra Jensen, 94 min

In einer Teenagerclique kursiert gerade ein seltsamer mystischer Gegenstand: Eine Keramikhand soll es dem Berührenden ermöglichen, Geister verstorbener Menschen in sich aufzunehmen, die dann durch ihn sprechen. Mia hat vor nicht allzu langer Zeit ihre Mutter durch eine Tablettenüberdosis verloren. Ihr Vater ist ihr bei der Trauerarbeit keine allzu große Hilfe, stattdessen findet sie Trost bei ihrer besten Freundin Jade und deren Familie. Als die Freundinnen ebenfalls an den Ritualen mit der Geisterhand teilnehmen, erscheint Mia schließlich ihre verstorbene Mutter. Das Langfilmdebüt der beiden durch Youtube-Clips bekannt gewordenen australischen Zwillingsbrüder Danny und Michael Philippou erfindet das Horrorgenre natürlich nicht neu, ist aber für ein Erstlingswerk erstaunlich clever gemacht und tiefgründiger als erwartet. Denn die beiden Filmemacher entfalten darin einen interessanten Diskurs über Leben und Tod, beschäftigen sich mit Trauerbewältigung, der Notwendigkeit, loslassen zu können, und tangieren sogar kurz das Thema Sterbehilfe. Von diesen inhaltlichen Aspekten abgesehen gelingt es den Brüdern aber auch sehr überzeugend, eine spannende Gruselatmosphäre aufzubauen, die das Publikum effektvoll in ihren Bann zieht, ohne dass das Regieduo dabei häufig auf die dankbaren, aber doch recht platten Jump-Scares zurückgreifen müsste, die heutzutage oft eingesetzt werden. Frank Brenner

Past Lives – In einem anderen Leben

Past Lives – In einem anderen Leben

USA 2022, R: Celine Song, D: Greta Lee, Yoo Teo, John Magaro, 106 min

Der Blick über die Theke ans andere Ende einer Bar weit nach Mitternacht. Eine Koreanerin und ein Koreaner unterhalten sich, ein Amerikaner sitzt gelangweilt daneben. Zwei Stimmen aus dem Off überlegen, was ihre Geschichte sein könnte. So bringt Regisseurin Celine Song in ihrem autobiografisch geprägten Debüt das Spiel mit dem Schicksal ins Rollen. Schließlich erzählt das Leben manchmal die besten Geschichten. Dies ist jene von Nora und Hae Sung: In ihrer Kindheit waren sie Freunde, teilten den Schulweg miteinander und den Wettstreit um gute Noten. Mit zwölf trennten sich ihre Wege. Nora wanderte mit ihrer Familie nach Kanada aus. Zwanzig Jahre später liegt ihre Kindheit weit zurück. Sie lebt zwischenzeitlich in New York. Ihre Arbeit als Übersetzerin ist hoch angesehen und bei einem Schreibworkshop lernt sie Arthur kennen und lieben. Eines Tages erhält sie eine Facebook-Anfrage von Hae Sung, der unterdessen als Manager in Seoul arbeitet. Zwischen den beiden entwickelt sich ein angeregter Austausch. Als Hae Sung beschließt, für ein paar Tage nach New York zu reisen, bringt das Noras Leben gründlich durcheinander. Einfühlsam und charmant schildert »Past Lives« das Gefühlschaos, wenn ein Mensch, mit dem man die Vergangenheit verbindet, plötzlich in die Gegenwart tritt und das sorgsam sortierte Leben zwischen den Kulturen gründlich auf den Kopf stellt. Damit ist Celine Song eine universelle Geschichte über Migration gelungen, die von einem wundervollen Schauspielensemble getragen wird. Lars Tunçay

Last Contact

Last Contact

GB/D/EST 2023, R: Tanel Toom, D: Lucien Laviscount, Kate Bosworth, Thomas Kretschmann, 117 min

Der Wind peitscht gegen das Metall und droht die Station in Stücke zu reißen, während die Mannschaft versucht, dem Meer ein paar Fische abzuringen. Am nächsten Morgen scheint die Sonne über dem endlosen Meer, das 90 Prozent der Erdoberfläche bedeckt, seit die Menschheit sich gegenseitig und schließlich die Natur zerstört hat. Nur noch zwei Kontinente sind übrig und führen seit Jahrzehnten einen Krieg um die Vorherrschaft. Die Station ist der letzte Außenposten und Hüter einer Waffe, die den Krieg beenden und die Menschheit endgültig auslöschen könnte. Daher hat es sich Kommandeur Hendricks zur Aufgabe gemacht, den Posten mit allen Mitteln zu verteidigen. An seiner Seite sind aber nur noch die zweite Befehlshabende Cassidy, der Soldat Sullivan und Mechaniker Baines. Als Zweifel über den Sinn der Mission aufkommen, riecht Hendricks eine Meuterei. Die Prämisse des zweiten Langfilms von Tanel Toom ist vielversprechend, die Spannung in der Auftaktsequenz hoch. Aber beides ist irreführend. Denn dem oscarnominierten estnischen Regisseur geht es mehr um die Charakterisierung seiner Figuren. Die sind allerdings allesamt recht eindimensional, so dass auch die Crew aus Kate Bosworth, Lucien Laviscount, Martin McCann und Thomas Kretschmann nicht wirklich viel daraus machen kann. Was in Erinnerung bleibt, ist vor allem das interessante Endzeit-Szenario, das durch die überzeugende visuelle Gestaltung zum Leben erweckt wird. Lars Tunçay

Im Herzen Jung

Im Herzen Jung

F/B 2021, R: Carine Tardieu, D: Fanny Ardant, Melvil Poupaud, Cécile de France, 115 min

Eine flüchtige Begegnung, kaum mehr als ein kurzes Gespräch auf einem Krankenhausflur, reicht für Shauna und Pierre aus, um sich zueinander hingezogen zu fühlen. Aber erst 15 Jahre später laufen sich die beiden durch einen Zufall erneut über den Weg. Shauna ist inzwischen 71 Jahre alt, Pierre 45, beide sind nicht auf der Suche nach einer neuen Liebe: Er hat Frau und Kinder, Shauna ist mit ihrem Mutter- und Großmutterdasein ebenfalls ausgefüllt. Und doch entwickelt sich eine Affäre zwischen ihnen, ungeachtet des Altersunterschiedes. Was zentrales Motiv des Films sein möchte, ebenjene 26 Jahre, fällt aber dramaturgisch zunächst weder optisch noch physisch besonders ins Gewicht. Nur das Umfeld des Paares wird nicht müde, auf den deutlichen Abstand zwischen Shauna und Pierre hinzuweisen. Fanny Ardant und Melvil Poupaud geben sich größte Mühe, die Anziehung und Unsicherheiten ihrer Figuren zu verkörpern, aber die Geschichte bleibt oberflächlich. Erst die letzten 20 Minuten von »Im Herzen jung« lassen erahnen, wohin der Film mit einem klareren Fokus hätte gehen können. Grundlage für den Film ist die Erzählung der verstorbenen Drehbuchautorin Sólveig Anspach, die sich dafür vom späten Liebesglück ihrer Mutter inspirieren ließ. Hanne Biermann

Ernest & Célestine: Die Reise ins Land der Musik

Ernest & Célestine: Die Reise ins Land der Musik

F 2022, R: Julien Chheng, Jean-Christophe Roger, D: Lambert Wilson, Pauline Brunner, Michel Lerousseau, 79 min

Vor zehn Jahren erzählte der oscarnominierte Zeichentrickfilm »Ernest & Célestine« von der ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem Bären und einer Mäusedame. Zwischenzeitlich leben die Freunde Ernest und Célestine in einer Wohngemeinschaft. Der Frühling ist da und Bär Ernest erwacht mühsam aus dem langen Winterschlaf. Als die quirlige Mäusedame Célestine die geliebte Geige des Bären holen will, um die Lebensgeister von Meister Petz zu wecken, stolpert sie und das Instrument ist hin. Nur der Geigenbauer Octavius kann sie reparieren. Doch der lebt in Ernests Heimat, die der Bär vor langer Zeit verlassen hatte. In seiner Erinnerung ist Charabien das Land, in dem es überall Musik gibt. Als die beiden dort eintreffen, müssen sie aber feststellen, dass die Richter alle Töne bis auf einen verboten haben. Gemeinsam treffen sie auf die geheimnisvolle Mifasol, Anführerin des Wiederstands, und bringen mit viel Mut, Ideen und Witz die Musik zurück in die Straßen von Charabien. Mit pointierter Kritik an irrationalen Dogmen erzählt die Fortsetzung eines der schönsten Animationsfilme der vergangenen Jahre in detailverliebten Zeichnungen ein turbulentes musikalisches Abenteuer. Ein liebevoll gestalteter, klassischer Trickfilm mit subversiver Botschaft. Vorlage für die fantasievollen Abenteuer von Ernest und Célestine war die Kinderbuchreihe »Mimi und Brumm« von Gabrielle Vincent. Lars Tunçay

Brother’s Keeper

Brother’s Keeper

TRK/RUM 2021, R: Ferit Karahan, D: Samet Yildiz, Ekin Koç, Mahir Ipek, 85 min

Es ist ein einprägsames Bild. Drei Jungen stehen in einer Dusche und gießen sich mit einer Schale abwechselnd Wasser über den Kopf. Das Drama entsteht durch den Kontext. Die Jungen leben in einem Internat in den Bergen von Ostanatolien. Sie sind Kurden, die mit harter Hand zu »aufrechten Türken« erzogen werden sollen. Weil sie sich um die Wasserschale gestritten haben, müssen sie sich mit kaltem Wasser abduschen. Bei Außentemperaturen von minus 34 Grad, während nebenan der Badezimmerpräfekt steht und sie anschreit. Regisseur Ferit Karahan ist selbst Kurde und war auf einer ähnlichen Schule wie der im Film gezeigten. In Interviews hat er wiederholt darauf hingewiesen, mit »Brother’s Keeper« auch eigene Erfahrungen zu verarbeiten. Vermutlich erklärt sich so die besondere Sensibilität seiner Aufnahmen. Das Changieren zwischen Wut und Empathie für die Schüler, aber eben auch die Lehrer, die oft zu drakonischen Maßnahmen greifen, um die Ordnung zu erhalten. Den Rest erledigt ein durchweg überzeugender Cast. Einen Tag nach dem Vorfall unter der Dusche öffnet der junge Memo seine Augen nicht mehr. Sein bester Freund Yusuf bringt ihn ins Krankenzimmer. Doch dort gibt es nur Aspirin. Während draußen der Schnee fällt und die Wege unpassierbar macht, verschlechtert sich die Gesundheit des kleinen Memo und zwingt Lehrer und Schüler zu einem Blick in den Abgrund. »Brother’s Keeper« ist ein bemerkenswerter Film von zärtlicher Wucht. Josef Braun

Forever Young

Forever Young

F 2022, R: Valeria Bruni Tedeschi, D: Nadia Tereszkiewicz, Sofiane Bennacer, Louis Garrel, 126 min

Regisseurin Valeria Bruni Tedeschi besinnt sich in »Forever Young« auf ihre eigene Zeit am Théâtre des Amandiers im Pariser Vorort Nanterre in den achtziger Jahren. Der Film folgt drei Schauspielstudierenden, die mit großen Hoffnungen ihre Ausbildung starten. Ein Großteil der Handlung dreht sich um die destruktive Affäre zwischen Stella und Etienne. Sie ein schönes, naives Naturtalent, er gequälte Künstlerseele voller selbstzerstörerischer Impulse. Diese altbekannte Dynamik zwischen überholten Stereotypen ist möglicherweise bewusst gewählt, schließlich blickt der Film auf ein lange vergangenes Jahrzehnt, allerdings wirkt das Endergebnis eher staubig-frustrierend als rührend-nostalgisch. Dazu kommt das Pathos, mit dem jede Szene überladen scheint. Nichts, was diese jungen Menschen erleben, ist banal. Und das nicht im handlungstragenden, sondern im anstrengenden Sinne. Das Zuschauererlebnis ist geprägt durch den Impuls, die Charaktere anzuflehen, das alles und vor allem sich selbst doch bitte nicht so ernst zu nehmen. Darüber trösten auch die schönen Bilder nicht hinweg, die »Forever Young« bietet: Denn das Skript entbehrt jeglicher Rechtfertigung dafür, diese über stattliche zwei Stunden zu zeigen. Als Musikvideo hätte das Werk vermutlich Potenzial, in seiner jetzigen Form wirkt es durch seine theatralische Überfrachtung wie missglückte Satire. LAURA GERLACH