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Rezensionen

Kaleb Erdmann

Kaleb Erdmann

Die Ausweichschule. Berlin: Ullstein 2025. 298 S., 22 €

Kaleb Erdmann.

Als Robert Steinhäuser am 26. April 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium Amok lief, 16 Menschen tötete und dann sich selbst, war Kaleb Erdmann gerade Fünftklässler an derselben Schule. Erdmann sah den Täter, aber nichts von dem Blutbad. Es ist seitdem viel geschrieben worden über diese Gewalttat, und auch Erdmann wusste, dass er sich dieser Geschichte eines Tages stellen müsste. Nur wie? Wie schreibt man über etwas, das einer ganzen Schulgemeinschaft und den Angehörigen ein kollektives Trauma verpasst hat, zumal zwanzig Jahre später? Bin ich betroffen genug? – Erdmann macht genau diese Fragen zum Gegenstand seines zweiten Romans. Die Begegnung mit einem Dramatiker, der ein Theaterstück über einen Amoklauf schreibt, gibt dem Ich-Erzähler den entscheidenden Impuls, die Notizen über ein mögliches Erfurt-Romanprojekt wieder hervorzukramen. In »Die Ausweichschule«, das für den Deutschen Buchpreis 2025 nominiert ist, erzählt er von der Schwierigkeit, ein solches Thema literarisch zu bearbeiten, ohne ins Reißerische abzurutschen. Er gräbt tief, studiert Ermittlungsberichte, trifft ehemalige Mitschülerinnen und Mitschüler, befragt sein 11-jähriges Ich. Das Besondere ist, dass Erdmann auch die Ambivalenzen auslotet; dass er versucht, eine Sprache für diesen Amoklauf zu finden. Es ist kein abgeklärter Essay, sondern ein verletzlicher, persönlicher Text. Sorgfältig trägt der Autor seine Erkenntnisse zusammen, mal pointiert, dann wieder scharf analytisch. Vor allem aber: mit Fingerspitzengefühl. Kaleb Erdmann ist ein sehr intensives und beklemmendes Buch gelungen. Immer überlegt er während des Schreibens, die Sache ruhen zu lassen. Aber er zieht durch – und das auch, weil er darin seine Verantwortung als Schriftsteller sieht. Vincent Koch

Susanne Siegert

Susanne Siegert

Gedenken neu denken. Wie sich unser Gedenken an den Holocaust verändern muss. München: Piper 2025. 240 S., 18 €

Susanne Siegert.

Auf Tiktok und Instagram ist Susanne Siegert als »keine.erinnerungskultur« bekannt. Dort verwebt sie historische Fakten, Personen und Ereignisse aus der Zeit des Nationalsozialismus mit der Gegenwart (s. kreuzer 11/2024) und zeigt eindrücklich, »dass wir nicht Schuld, aber Verantwortung haben«, wie sie im kreuzer-Gespräch betont. Siegert verbindet wissenschaftliche Präzision mit einer klaren, schnörkellosen Sprache und versucht, Geschichte für alle zugänglich zu machen – ohne dabei an Tiefe zu verlieren. Von Opfer- über Täterrecherche oder der Frage nach neuen Interpretationen bestimmter Gedenktage hangelt sich Siegert auch in ihrem ersten Buch – ähnlich wie in ihren Videos – entlang historischer Ereignisse, die abseits der großen, in der Schule gelehrten Kapitel liegen. Sie lenkt den Blick auf das, was zu verschwinden droht – auf Geschichten, die in der kollektiven Erinnerung kaum noch Platz finden. Auf charmante und zugleich eindringliche Weise legt sie einem das Werkzeug zur eigenen Recherche in die Hand, ohne belehrend zu wirken. »Alle Bürger:innen spielen bei der Gedenkarbeit eine Rolle«, unterstreicht sie, »und es ist unsere Entscheidung, wie wir diese Rolle ausgestalten.« Es sei »unsere Verantwortung, nicht zu vergessen, dass wir Deutschen die Täter« gewesen seien und in fast allen Familien die Groß- oder Urgroßeltern dazugehört hätten. Siegert ermutigt deshalb, die eigene Familien- oder Ortsgeschichte aktiv aufzuarbeiten, sich den Tätergeschichten im eigenen Umfeld zu stellen und diese Auseinandersetzung nicht zu tabuisieren. Ihre Offenheit, auch die eigene Familiengeschichte im Buch zu beleuchten, verleiht dem Werk besondere Authentizität. Mit »Gedenken neu denken« plädiert Susanne Siegert, die in diesem Jahr für ihre Aufklärungsarbeit mit dem Margot-Friedländer-Preis ausgezeichnet wurde, für einen neuen, selbstkritischen Umgang mit unserer Vergangenheit. Sie zeigt Wege auf, wie Scham und Verdrängung überwunden werden können (...). Hannah Kattanek

Verena Keßler

Verena Keßler

Gym. Berlin: Hanser 2025. 192 S., 23 €

Verena Keßler.

Was man der Lektüre von Verena Keßlers »Gym« zugutehalten muss, ist das Training der Gesichtsmuskulatur. Die wurde für verschiedenste Grimassen der Überraschung, des Unglaubens und vor allem Ekels beansprucht. Zu viel soll nicht verraten sein, aber es wird gerne mal rohes Hackfleisch vom Vortag unter Fingernägeln herausgenuckelt. Alles für die Proteinzufuhr. Keßlers Protagonistin ist bereit. Namenlos und unter betont geheimnisvollen Umständen tritt sie einen neuen Job als Tresenkraft im Mega Gym an. Nicht ohne uns immer wieder wissen zu lassen, dass das eigentlich weit unter ihrem Niveau ist. Um ihren untrainierten Körper zu erklären, greift sie zur Notlüge, gerade erst ein Baby bekommen zu haben. Wer meint, dass der Roman nun die alltäglichen und gesellschaftlichen Fallgruben dieser erfundenen Mutterschaft erkundet, irrt. Auf der Hälfte der 200 Seiten wird dieser Handlungsstrang von einer neuen, alten Obsession der inzwischen fitten Protagonistin verdrängt. Body Horror trifft auf Body Building, Fitnesskult und Ehrgeiz einer unzuverlässigen Erzählerin. Das passiert durchaus fesselnd und fein nuanciert. Vor allem das Ende löst eine Gänsehaut aus, die längst nicht mehr nur mit Ekel zu tun hat. Nur der mehrmals im Klappentext versprochene Humor kommt etwas zu kurz. Angesichts der gigantischen Spiegel im Mega Gym bleibt dem Leser vielleicht ganz zu Recht das Lachen im Hals stecken. Alexandra Huth

Ulrike Draesner

Ulrike Draesner

penelopes sch( )iff. postepos. München: Penguin 2025. 304 S., 35 €

Ulrike Draesner.

Halten wir uns nicht damit auf, die zahlreichen Auszeichnungen und Veröffentlichungen der gleichermaßen produktiven wie anspruchsvollen Schriftstellerin Ulrike Draesner anzuführen. Es sei vorab nur gesagt, dass die 1962 in München geborene Autorin sowohl in Ausuferndem zu Hause ist als auch in der äußersten Verknappung. Zuletzt hatte sie 2021 in ihrer Dichtung »doggerland« Menschheitsgeschichte neu geschrieben. Nach dem Roman »Die Verwandelten«, dem Memoir »zu lieben« und der Poetikvorlesung »Sich ein Herz fassen« ist im August nun ein Langgedicht erschienen, das aus den Tiefen der Antike ein unbemanntes Boot auftauchen lässt. Wie der Titel schon verrät, hat sich Draesner nicht mit dem ewig wiedergekäuten Odysseus beschäftigt. Während Medea, Kirke und anderen antiken Frauenfiguren in den letzten Jahren literarisch zu neuem Recht verholfen wurde, ist es ein bislang äußerst schweigsamer, beinahe unscheinbarer Mensch, der nun mit einigen anderen auf 300 Seiten zu Wort kommt. »Die Figur erschien – und mit ihr eine Idee. Ich wollte Penelopes Geschichte in Überlappung mit dem Ende der Odyssee, wie es aus der Antike überliefert ist, erzählen. Vor allem aber wollte ich von Penelope erzählen in jenem dunklen Raum, in dem üblicherweise nur noch der Abspann läuft.« Die von Männern heraufbeschworene, treu webende Ehefrau lässt Draesner hinter sich. Stattdessen sticht Penelope nach der Rückkehr ihres kriegstraumatisierten Mannes selbst in See mit einer Crew aus hundert Frauen, einer schweigsamen Schildkröte und einem Gurkenglas. Die Details verraten es: Trotz der Ernsthaftigkeit und Genauigkeit, mit der die Autorin auch hier wieder Sprache (Altgriechisch, Englisch, Deutsch) und Narrativ (Mythen, Klischees, Tradiertes) auftrennt und neu verknotet, erhellen feiner Humor und übersprudelnde Lust am Spiel die Tiefe des Textes. Gegen patriarchale Übersetzungstraditionen und den antifeministischen Backlash. (...) Linn Penelope Rieger

Giselle Clarkson

Giselle Clarkson

Das außergewöhnliche Handbuch der Beobachtologie. Aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier. Frankfurt/Main: Moritz 2025. 119 S., 22 €, ab 8 J.

Giselle Clarkson.

Bei uns Älteren haben Asseln, Würmer, Spinnen und dergleichen nur einen einzigen Namen: Ungeziefer. Seit jeher haben diese kleinen Biester uns Menschen die Vorräte weggegessen, uns gestochen, gebissen, bekrabbelt und für allerhand Ekelreflexe gesorgt. Und wirklich sehen sie ja oft ganz schön monströs aus, auch wenn sie nur ganz klein sind. Dabei leben wir in Zeiten, in denen Insekten verschwinden und wir unsere Einstellung vielleicht ändern sollten. Außerdem sind diese winzigen Lebewesen faszinierend und selbstverständlich hat jedes einzelne eine wichtige Funktion innerhalb unseres Ökosystems. Und das schönste: Kleine Menschen müssen nicht weit laufen, um sie sich anzugucken. Oft widmen sie sich diesen Wesen sowieso ganz gern. Die Autorin Giselle Clarkson hat insofern etwas ebenso Witziges wie pädagogisch Vorausschauendes erfunden: eine neuartige Hilfswissenschaft für Menschen ab acht Jahren. Ihr »Handbuch der Beobachtologie« vermittelt spielerisch biologisches Grundwissen über die nächste Umgebung. In fünf Kapiteln machen wir uns mit Taxonomie, kindgerechten Handlungsanweisungen sowie einem Curriculum von Habitaten vertraut: »In einer feuchten Ecke«, »Auf dem Gehweg«, »An einem zugewucherten Fleck«, »Hinter dem Vorhang«. Vorgestellt werden einige bekannte Wirbellose, aber auch Schimmelpilze und Flechten. Das Buch lädt ein zum Staunen, Sammeln, Aufpassen, Sorgetragen – und natürlich zum Beobachten. Kleine Comics, Karikaturen und hochwertige Illustrationen bereichern das Leseerlebnis, jede Menge Fun Facts regen Fantasie und Hirnschmalz an. Zum Beispiel haben Schmetterlinge ihre Geschmacksorgane an den Füßen – schon gewusst? Juliane Zöllner

Morgan Talty

Morgan Talty

Sein Name ist Donner. Aus dem Englischen von Thomas Überhoff. Hamburg: Rowohlt 2025. 320 S., 25 €

Morgan Talty.

Zur Sommersonnenwende sandte der gütige Rowohlt-Verlag Morgan Taltys Roman »Sein Name ist Donner« aus, um allen Erdenwürmern ein für alle Mal klarzumachen, was es bedeutet, in einem Reservat der indigenen Penobscot in Maine, an Amerikas schrundigem Arsch, aufzuwachsen. Die Mutter ein Junkie, die Schwester ein Junkie, der Vater ein Säufer, der bereits morgens am Fernseher klebt und von seinem Stamm wegen Verbrechen gegen die Gemeinschaft aus dem Reservat geschmissen wurde. In diesem »bildungsfernen« und gruseligen Umfeld versucht der Protagonist Daniel, auch er sehr früh ein Junkie, irgendwie über die Runden zu kommen. Es ist ein abgründiges, aber gleichzeitig unaufgeregtes Buch. Wir folgen in nicht-linear erzählten Storys dem an Tragik reichen Leben des sympathischen Bruders Leichtfuß Daniel. Missbrauch, Drogen aller Art, Depressionen, Diebstähle, Gewaltorgien und unausgesprochene Lebenslügen säumen seinen Alltag. Einen Ausweg findet er nur schwer, und das ist eine Stärke des Buches, das im Original eine Sammlung von Kurzgeschichten war und sich in Deutschland in einen Roman verwandelte. Die brettharten, lose miteinander verbandelten Episoden formen sich zu einer Tragödie, die nichts mit indigener Romantik und »Der mit dem Wolf tanzt«-Kitsch zu tun hat. Morgan Talty, geboren 1991, hat in seinem Debütroman ein fiktives Porträt einer indigenen Gemeinschaft geschrieben. Der heutige Literaturdozent schöpfte dabei aus seinen Erfahrungen, er wuchs in einem Reservat nahe der kanadischen Grenze auf. Rund acht Millionen Indigene leben heute in den USA – etwa zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. Etliche Indigene gestalten ihr Zusammenleben in Tribal Nations, souveränen, selbstverwalteten Reservaten. Über das Leben dort weiß man wenig, Taltys Buch kann einen Einblick bieten. Frank Willmann

Gunda Windmüller

Gunda Windmüller

Yoga. Wie es wurde, was es ist. Kulturgeschichte eines globalen Phänomens. Hamburg: Rowohlt Polaris 2025. 304 S., 24 €

Gunda Windmüller.

Yoga ist heute allgegenwärtig und wirft dennoch Rätsel auf: Wie wurde aus der spirituellen Philosophie ein weltweites Phänomen? Mit viel Wumms schreibt die Amerikanistin, freie Journalistin und praktizierende Yoga-Lehrerin Gunda Windmüller eine spannende Kulturgeschichte. Dafür hat sie sich selbst auf Reisen begeben und weiß zahlreiche illustre Episoden, Erkenntnisse und Anekdoten zu teilen. Im gesetzten Plauderton, mit viel Witz und nie trocken, füllt sie die Seiten mit Transformationsgeschichten und stellt fehlgeleitete Mythen richtig. Dabei entsteht ein Bild über Yoga, das auch unschöne Seiten der Selbstkasteiung, der männlichen Kontrolle und eines historisch problematischen Frauenbildes darlegt. Mit Seitenhieben auf Harry Potter, Taylor Swift und fehlgeleiteten Körperkult bleibt das, was die Wahlberlinerin eine »unmögliche Geschichte« nennt, immer spannend und überraschend. Von den Upanishaden (einer Sammlung philosophischer Texte des Hinduismus) bis hin zu Yoga als nationalistischem Auftrag bei Premierminister Narendra Modi und »Indiens Version von Donald Trump«, Baba Ramdev, zeichnet die Autorin den Wandel von der spirituellen Philosophie hin zur sozialen Praxis nach. Am Ende dieser wilden Reise von Kolkatta nach Jena steht eine konfliktreiche Geschichte, die Yoga als globales Kulturphänomen und Ausgeburt des »Karma-Kapitalismus« beschreibt. Allerdings bleibt bei Windmüller Yoga auch eine Praxis, die Raum für kreative Entfaltung bietet und doch auch Teil einer gegenwärtigen Bewegung der Singularisierung ist. Yoga sei schlussendlich nur in »Orten und Kontexten« zu verstehen. Und doch: Mit David Hume, kosmischer Energie und etwas himmlischer Fügung gelingt Windmüller auf den letzten Seiten erfolgreich die Reise zum Selbst. Marcel Hartwig

Graham Swift

Graham Swift

Nach dem Krieg. Erzählungen. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. München: DTV 2025. 296 S., 25 €

Graham Swift.

Deutsche Leserinnen und Leser konnten den großartigen englischen Romancier und Erzähler Graham Swift seit den achtziger Jahren in deutscher Übersetzung kennenlernen; seine Romane wurden im Feuilleton hochgelobt und mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Im Zentrum all seiner Bücher steht die Wirkung des Erinnerns auf das Leben durchschnittlicher Menschen der englischen Mittelschicht, deren Schicksale er mit Ereignissen der jüngeren Zeitgeschichte verwebt. Diese historisch-biografischen Wechselwirkungen prägen auch die zwölf Kurzgeschichten in »Nach dem Krieg«. Swift spürt den Kollateralschäden nach, mit denen Kriegs- und Gewalterfahrungen die Lebensrealität und die Gefühlslagen seiner Protagonisten auf Dauer versehren. Er versteht es, aus scheinbar nebensächlichen Begebenheiten oder dem Sentiment, mit dem wiederentdeckte Gegenstände aufgeladen sind, Erinnerungen an traumatische Erlebnisse, aber auch an glückliche, jedoch vergangene Zeiten freizusetzen. Gewalterfahrungen im Krieg werden solange an die nächste Generation weitergegeben, bis diese Spirale durch Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit durchbrochen wird – ein deutscher Beamter mit Wehrmachtvergangenheit übernimmt etwa historische Verantwortung, weil er einen jungen britischen Soldaten auf der Suche nach seinen jüdischen Vorfahren begleitet. Mit Empathie und Menschenliebe konfrontiert Graham Swift uns in präzise beobachteten Momentaufnahmen mit den Versuchen seiner Heldinnen und Helden, aus dem Schatten der eigenen Vergangenheit in eine hellere Zukunft zu treten. Hartmut Mangold

Heike Geißler

Heike Geißler

Arbeiten. Berlin: Hanser 2025. 128 S., 20 €

Heike Geißler.

Die weltweite Ungleichheit wird immer größer: Reiche werden immer reicher und Arme immer ärmer. Das Märchen dazu lautet: Wer sich genügend anstrengt, kann alles erreichen. Der Kapitalismus serviert uns die Lüge, dass die Arbeitswelt für uns alle das Gleiche bereithält, und das hat Heike Geißler satt. In ihrem Essay »Arbeiten« beschäftigt sich Geißler mit der Frage: Was ist ein Mensch wert? Und: Warum scheint Arbeit diesen Wert zu bestimmen? Geißlers Analyse zeigt, was in unserer Leistungsgesellschaft zählt und was unbemerkt bleibt. Dabei unterscheidet sie zwischen materieller und unsichtbarer Arbeit: zum Beispiel Sorgearbeit. Ähnlich wie in ihrem Essay »Verzweiflungen« (Suhrkamp 2025) greift Geißler zu einem poetischen Ton, gepaart mit persönlichen Anekdoten und Beobachtungen, ergänzt durch Zitate anderer Schriftstellerinnen und Schriftsteller. So versucht die Autorin, ihre Gedanken zu sortieren. Den Begriff der Arbeit weitet sie allerdings so stark aus, dass fast jede Tätigkeit als Arbeit verstanden werden kann. Geißler möchte die Kraft wertschätzen, die in die Dinge fließt, die finanziell nicht entlohnt werden. Sie beobachtet die Menschen in ihrer Umgebung, macht ihre kranke Freundin zur Arbeiterin der Selbstfürsorge und die obdachlose Frau zur beruflichen Pfandflaschensammlerin. Aber wenn alles Arbeit ist, wird Arbeit dann zu allem und nichts? Was bleibt noch von der politischen Kraft des Begriffs? Immer wieder gelangt Geißler zu dem einen Punkt: Sie will die Arbeitswelt abschaffen, denn diese ist ausbeuterisch und macht die Menschen krank. Den Frust und die Verzweiflung kauft man Geißler auch in dieser Schrift ab. Erneut verendet der Kampf aber in der Theorie, der schriftlichen Anklage. Es bleiben eine müde Schriftstellerin und eine bedrückte Leserin. Nastasja Kowalewski

Ann-Sophie Henne, Robin Jüngling, Annika Le Large

Ann-Sophie Henne, Robin Jüngling, Annika Le Large

Miese Krise. Alles, was du über den Klimawandel wissen musst. Greifswald: Katapult 2024. 221 S., 22 €

Ann-Sophie Henne, Robin Jüngling, Annika Le Large.

»Wir beschreiben in diesen 49 Kapiteln keine radikal neuen Erkenntnisse«, geben die Autorinnen und der Autor im Vorwort des Büchleins zu. Im Netz seien alle relevanten Fakten über den Klimawandel längst recherchierbar. Sie selbst seien mit ihrem journalistischen Projekt nachhaltig-kritisch auf Instagram, einem Blog und mehreren Podcast-Plattformen unterwegs. Ist die Veröffentlichung eines Buches zur Thematik dann also überflüssig? Tatsächlich will sich beim Lesen der ersten Seiten Langeweile einschleichen, weil die verschiedenen Faktoren, die den Klimawandel beeinflussen, durchaus bekannt sind. Die Abschnitte sind pointiert geschrieben, mit relevanten Zahlen und Fußnoten versehen, aber es fehlt ihnen an Tiefe. Das Ansinnen erschließt sich bei fortschreitender Lektüre deutlicher, wenn Zusammenhänge von Umweltschutz und zum Beispiel sozialer Ungerechtigkeit, Kolonialismus und Patriarchat hergestellt werden; unangenehme Gefühle und »Mythen« werden thematisiert. Mithin greift das Team gängige Abwehrargumente auf und versucht, theoretische Widersprüche aufzulösen. Der nahenden Klimakatastrophe ins Auge zu blicken, ist menschlich enorm herausfordernd. Entsprechend ist auch der Diskurs von geistigen Bequemlichkeiten gekennzeichnet. Nach wie vor werden Fakten geleugnet und verdreht, Zweifel aufgebläht und unwissenschaftlicher Unfug behauptet. Das durchaus pädagogische Anliegen dieses Buches ist es, an der kritischen demokratischen Masse mitzuformen, die sich für dringend notwendige Veränderungen einsetzt und sie mitverantwortet. Es ist geeignet für Menschen, die sich noch einmal Klarheit verschaffen und für Diskussionen wappnen wollen, die unausweichlich sind. Juliane Zöllner

Annett Gröschner

Annett Gröschner

Schwebende Lasten. München: C.H. Beck 2025. 282 S., 26 €

Schwebende Lasten

Hanna Krause ist ein Waisenkind, das von ihrer Halbschwester, einer Blumenhändlerin, aufgezogen wird. Sie entwickelt früh ein Gespür für Blumen, eröffnet frisch verheiratet ihren eigenen Laden im Magdeburger »Knattergebirge«, arrangiert Sträuße wie Kunstwerke und setzt sich in der Mittagspause manchmal in die nahe Johanniskirche. »Das Schiff öffnete sich in einen großen freien Raum, in dem sie atmen konnte, der einzige in der Umgebung, in dem nicht alles zu eng war. Einmal im Jahr bestach sie den Küster und kletterte ganz allein auf den Turm, um von oben auf ihre kleine Welt hinunterzuschauen.« Annett Gröschner, geboren 1964 in Magdeburg, lebt seit 1983 als Schriftstellerin in Berlin. Bekannt wurde sie mit ihren Romanen »Moskauer Eis« (2000) und »Walpurgistag« (2011). Zuletzt erschien ihr gemeinsam mit Peggy Mädler und Wenke Seemann verfasster Bestseller »Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat« (2024). In ihrem dritten Roman »Schwebende Lasten« erzählt die Performerin, Flaneurin und Geschichtensammlerin Gröschner nun nicht weniger als ein Jahrhundert Magdeburgs, inklusive seiner Industriegeschichte. Ihre Hauptfigur Hanna wird mehr als eine Handvoll Kinder gebären, Nazis, Krieg, Feuersturm und Volksaufstand überstehen, sich aus dem Armenviertel in eine Neubauwohnung und aus dem Blumenladen zu einem Kran aufschwingen. Der Roman endet an der Johanniskirche, die ausgebrannt stehenblieb, während Hannas kleine Welt aus dem Stadtplan verschwunden ist. Federleicht tuscht uns Annett Gröschner das pralle Porträt einer Lebenskünstlerin. Anne Hahn

Jean d’Amérique

Jean d’Amérique

Zerrissene Sonne. Aus dem Französischen von Rike Bolte. Trier: Litradukt 2024. 114 S., 13 €

Jean d’Amérique.

Tête Fêlée ist ein zwölfjähriges Mädchen, das in der Cité de Dieu, einer »Drecksgegend« am Rand von Port-au-Prince, zu überleben versucht. Als Protagonistin und Erzählinstanz gleichermaßen vermittelt sie einen Eindruck von den korrupten und elenden Verhältnissen Haitis. Armut, Gewalt, Missbrauch und Tod gehören zu ihrem Alltag. Hinzu kommt die Erfahrung der ersten großen Liebe. Zuletzt erfüllt sich die tragische Prophezeiung ihres Stiefvaters: »Du wirst allein sein in der großen Nacht.« Ein auf dem Buchrücken platziertes Zitat preist dieses Romandebüt von Jean d’Amérique als »shakespearehaft« an. Tatsächlich erinnern zum Beispiel die ironisch-typenhaften Nebenfiguren und die streng monokausale Konstruktion des Plots an den großen Dramatiker. Letztlich erzeugt die Mischung aus politischer Satire, einer verhängnisvollen Liebesgeschichte und vielerlei fantastisch-mythischen Elementen eine beeindruckende Energie. Nicht immer wirkt alles stimmig, so auch die poetisch verdichtete Sprache in den Gefühlspassagen. Manche lyrischen Einfälle sind genial, viele wirken allerdings rhetorisch hoffnungslos überfrachtet. Sprachbilder überlagern sich, milieuhafte Wendungen und pathetische Überformungen kommen sich in die Quere. Wie viel die Übersetzung von Rike Bolte da geglättet hat, kann die Rezensentin leider nicht beurteilen. Insgesamt vermittelt sich der Eindruck, wir würden Tête Fêlée (die Spinnerin) bei der Verarbeitung ihrer – teils beinhart geschilderten – traumatischen Erfahrungen begleiten. Das führt zu Problemen der Perspektive und der Glaubwürdigkeit. An Leidenschaft mangelt es diesem Buch also nicht gerade. Die Fülle und Durchmischung der literarischen Mittel sind überwältigend – und streitbar. Juliane Zöllner

Elvira Steppacher

Elvira Steppacher

Blöße. Wien: Braumüller 2024. 352 S., 26 €

Elvira Steppacher.

Ein Buch zum Zurücklehnen auf der Couch ist »Blöße« nicht: Für Elvira Steppachers zweiten Roman sollte man hellwach sein, um bei der Lektüre nicht in dessen Dichte unterzugehen. Im Mittelpunkt steht die Ich-Erzählerin Sibylle, die in den achtziger Jahren Taxidermie studiert – die Kunst der Haltbarmachung von Tierkörpern. Schnell löst sie sich von ihrem charismatischen Mentor und baut ein eigenständiges Verhältnis zu ihren Präparaten auf. Die Notwendigkeit, mit ihrer Arbeit Grenzen zu sprengen, wird für Sibylle drängender, als sie sich in Moira verliebt, eine radikale Tierschützerin. Zwischen den Polen Wissenschaft und Politik reibt sie sich immer stärker auf, zumal sie sich eigentlich zur Kunst hingezogen fühlt. Die Taxidermie eignet sich bestens, um das Spannungsfeld von Natur und Kultur, Wissenschaft und Politik sowie – naheliegend – Leben und Tod auszuloten. Dazu wendet sich Sibylle in Rückblicken an eine Mäzenin und hält Zwiesprache mit den Tieren, die sie präpariert. »Blöße« ist deshalb über weite Strecken ein inneres Gespräch mit imaginierten Gegenübern. Diese atmosphärische Abgeschlossenheit trifft auf sprachliche Dichte. Steppacher verwendet eine gehobene, manchmal artifiziell wirkende Sprache; Fachtermini und Ausführungen zur Wissenschaftsgeschichte gehören ebenso dazu wie Lyrisches. Auf den letzten Seiten, im Jahr 2032 angekommen, ist Sibylle eine international bekannte Künstlerin, die ihre Werke auf der Grundlage ihrer taxidermischen Kenntnisse schafft und mit ihnen auf die sich vollziehende ökologische Katastrophe Bezug nimmt. Um diese abzuwenden, ist sie bereit, technologisch noch unbekanntes Terrain zu beschreiten. »Blöße« ist ein Buch, das viele Gedankenwege anbietet – man muss nur bereit sein, sie zu betreten. Andrea Kathrin Kraus

Julia Friese

Julia Friese

Delulu. Göttingen: Wallstein 2025. 247 S., 22 €

Julia Friese.

Was will man eigentlich vom Leben? Für Res, die Protagonistin in »Delulu«, ist die Sache ziemlich klar: Sie will berühmt werden, am liebsten so berühmt wie Frances Scott, der größte lebende Popstar der Welt. Und dann bekommt die junge Journalistin endlich die Chance, ihr Idol zu treffen, doch ein versehentlicher Griff in eine Steckdose vereitelt es und auch alle weiteren Pläne, die Res im Leben noch hatte. Was folgt, ist ein Fiebertraum, ein Delirium oder einfach eine Sammlung überwiegend zusammenhangloser Gedanken über alles Mögliche. Erstaunlich oft geht es um Frühstücksflocken und Softdrinks, hin und wieder um Kindheitserinnerungen und ganz selten um das interessante Thema der Fremd- und Selbstwahrnehmung. Der Roman ist vollgepackt mit Metaphern und Vergleichen, die beim Lesen sofort Assoziationen mit eigenen Erinnerungen auslösen und quasi in jedem Satz ein neues Bild erschaffen. Und hier liegt das Problem von »Delulu«, denn es gibt kaum mal eine ganze Seite, die nur einem Erzählstrang folgt, geschweige denn eine nachvollziehbare übergeordnete Handlung. Ständig treten neue Figuren auf, von denen wir höchstens den Namen erfahren, aber nicht, was sie mit der Protagonistin zu tun haben. Zudem scheint das Buch noch als Chronik der Medienwelt der letzten 50 Jahre dienen zu wollen – je nischiger, desto besser. Eingestreute Zitate, kursiv und auf Englisch, machen die Verwirrung dann komplett. Kämpft man sich durch diesen Wust an Eindrücken, wird man hin und wieder mit gelungener Reflexion über den Pop- und Medienzirkus belohnt. Die hat man sich dann aber auch wirklich verdient. Alexander Böhle

Bergsveinn Birgisson

Bergsveinn Birgisson

Die Insel Kolbeinsey. Aus dem Isländischen von Eleonore Gudmundsson. Salzburg: Residenz 2025. 217 S., 26 €

Bergsveinn Birgisson.

Dieses Buch ist seltsam. Anfangs könnte man glauben, der Ich-Erzähler führe ein normales Leben, besuche lediglich seinen verrückt gewordenen Freund in der Klinik. Doch bald stellt sich heraus, dass das nicht ganz stimmt. Der Freund in der Psychiatrie hat ein verquollenes Gesicht, die Augen sind »vom Leiden ganz schwarz«, er beginnt zu schreien und eine Krankenschwester stürmt herein, wirft sich auf ihn, drückt ihn nieder. Er wird sediert und nun nimmt die Geschichte ihren Lauf: Der Mann, unser Erzähler, beschließt, seinen kranken Freund aus der Klinik zu entführen. Gespickt mit rätselhaften Schwarz-Weiß-Zeichnungen, Gedichten und nacherzählten Island-Sagas ist dieses Büchlein eine eigene, neu geschaffene Saga. Freund hilft Freund und beide werden verfolgt von Furie. Die Furie ist unerfreulicherweise die Krankenschwester und einzige Frau der Geschichte, was den Leserinnen bitter aufstoßen mag, denn die anfangs kurz eingeführte Freundin des namenlosen Ich-Erzählers verschwindet bald aus der Geschichte. So bleibt uns eine irre Verfolgungsjagd mit unterhaltsamen Episoden und einem wahrhaft unrealistischen Ende. Der 1971 in Reykjavik geborenen Forscher und Kenner altnordischer Literatur Birgisson veröffentlichte bereits mehrere Gedichtbände und Romane, zuletzt »Antwort auf den Brief von Helga« (Residenz-Verlag 2022). Für Birgisson-Fans ist der neue, in Island bereits 2021 veröffentlichte Roman ein Muss, für Einsteiger harte Kost – vielleicht sollte man vorher sein Debüt, den wunderbar zarten Liebesroman »Die Landschaft hat immer recht« lesen (aus dem Jahr 2003, deutsch 2018 ebenfalls bei Residenz), zusammen ergeben sie ein eiskristallscharfes Bild Islands. Anne Hahn

Alina Bronsky

Alina Bronsky

Pi mal Daumen. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2024. 271 S., 19,99 €

Alina Bronsky.

In dunklen Zeiten sollte man sich hin und wieder zurückziehen und mit herzenswarmen Geschichten beschäftigen dürfen. Die Erfolgsautorin Alina Bronsky schafft es, eine solche Wärme inmitten eines Hörsaals einer mathematischen Fakultät zu erzeugen. Die Handlung ihres Romans setzt zu Semesterbeginn ein, zwei Studierende machen miteinander Bekanntschaft: Moni und Oscar. Moni hat drei prekäre Jobs, einen unfähigen Mann, eine deprimierte Tochter und drei Enkel. Oscar wiederum ist zarte 17 Jahre alt und geschlagen mit unsäglicher Arroganz. Weil er selbst aus wohlhabenden Verhältnissen kommt, hat er null Verständnis für Monis Leben, in dem es 53 Jahre lang nur darum ging, für andere da zu sein und das eigene Talent zu vernachlässigen. Andersherum ist es Moni, die schnell begreift, dass der hochbegabte Oscar autistische Züge hat und ab und zu jemanden braucht, der ihn beruhigt oder mit Käsebroten versorgt. Die Figuren sind leicht überspitzt dargestellt, was den vielen anspruchsvollen Themen, die hier aufgeworfen werden – Frausein, Älterwerden, Autismus-Spektrum-Störung – eine niemals unangemessen wirkende Leichtfüßigkeit verleiht. Die Geschichte einer wachsenden Freundschaft ist lustig und spannend erzählt und enthält viele weitere kuriose Charaktere. Und wie es sich für eine ernstzunehmende Komödie gehört, reifen die Figuren an- und miteinander. Die heimliche Heldin des Romans ist Moni. Sie ist voll von absurden Widersprüchen und zugleich kraftvoll und emanzipativ. Kein Wunder, dass dieser Frau innerhalb der mathematischen Fakultät bald die Herzen zufliegen. Dass sich die Autorin mit Moni selbst beschenkt hat, verrät sie übrigens in einem Interview, das dem Roman vorangestellt ist.– Nichts gegen dieses Geschenk einzuwenden! Juliane Zöllner

Christian Kracht

Christian Kracht

Air. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2025. 224 S., 25 €

Christian Kracht.

Christian Krachts neuer Roman beginnt mit einer ausschweifenden Beschreibung eines Zimmers »in einem kleinen Haus am Wasser«, über die man erstmal hinwegkommen muss, bevor es so richtig losgeht – vermeintlich. Doch rasant verschlungene 220 Seiten später liest man den Anfang nochmal und stellt fest, dass es sich bei diesem Einstieg um das erste von vielen Verwirr- und Versteckspielen handelt und die Beschreibungen keineswegs sonderlich ausschweifend sind, sondern in angemessener Länge vieles von dem andeuten, was uns Lesende noch erwartet und nun – beim zweiten Hinsehen – vollkommen sinnvoll erscheinen. Die Erzählung beginnt mit Paul, einem Inneneinrichter in seiner Wahlheimat auf den Orkney-Inseln. So weit, so realistisch. Bereits mit dem zweiten Kapitel wird aber deutlich, dass jede Erwartungshaltung provisorisch über Deck geworfen werden sollte. Die Erzählung wechselt zu dem Mädchen Ildr, das einen geheimnisvollen Fremden trifft (Spoilerwarnung: Wortwitz). Dieser Mann, denn Ildr für einen Magier hält, begleitet sie daraufhin für eine ungewisse Reise durch ungewöhnliche Landschaften. Diese beiden erzählten Welten scheinen recht weit voneinander entfernt zu sein, doch Farben, Muster, Formen, Figuren, Orte und Ästhetik verknüpfen die Geschichten miteinander, noch bevor die Handlung dazukommt, dies ebenfalls zu tun. Und so gerät man auch beim Lesen immer tiefer in den Strudel des Fantastischen – oder besser gesagt des Traumartigen –, der einen erst wieder entlässt, wenn sich der rote Kreis am Ende schließt. Eine Bedeutung all dessen herauszufinden, kann wohl nur nach mehrmaliger Lektüre gelingen. Joachim Kern

Sandra Richter

Sandra Richter

Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben. Eine Biografie. Berlin: Insel 2025. 478 S., 28 €

Sandra Richter.

Noch eine Biografie über Rainer Maria Rilke – muss das sein? Die eine oder andere über den Dichter der »Duineser Elegien« und des »Panthers« gibt es ja schon. Sandra Richter, Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, teilt solche Bedenken nicht. In »Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben« beleuchtet sie in kurzen Kapiteln das Leben des Dichters (1875–1926) anhand ausgewählter Themen: Neben familiären Prägungen und der Ehe mit Clara Westhoff sind das vor allem Rilkes Beziehungen zu seinen Zeitgenossen – darunter Auguste Rodin, Lou Andreas-Salomé und Eleonora Duse, aber auch sein Verleger AntonKippenberg, Gründer der Insel-Bücherei. Diese Herangehensweise macht die Lektüre kurzweiliger als das chronologische Vorgehen »von der Wiege bis zur Bahre«. Allerdings stehen die Kapitel recht isoliert zueinander, wodurch es schwerfällt, sich in die Lebensrealität Rilkes hineinzuversetzen. Richter zielt darauf, dem von Heidegger und Adorno geprägten Dichter-Bild ein differenzierteres entgegenzusetzen: Statt wie diese Fundamentalontologie (Heidegger) oder Proto-Faschismus (Adorno) in Rilkes Werken aufzuspüren, zeichnet die Autorin nach, wie kritisch der Dichter sich selbst und die herrschenden Verhältnisse betrachtete. Die von ihm stets postulierte Einsamkeit und politische Enthaltsamkeit stehen dabei im Kontrast zu seinem geselligen Leben und dem Gespür für wichtige historische Ereignisse, bei denen er mittendrin war, wie in der Münchner Räterepublik. Auch diese innere Widersprüchlichkeit, die Richter an vielen Beispielen herausarbeitet, macht Rilke zu einem Angehörigen der europäischen Moderne – und zu einem Künstler, der uns heute noch etwas zu sagen hat. Andrea Kathrin Kraus

Lea Ruckpaul

Lea Ruckpaul

Bye Bye Lolita. Berlin und Dresden: Voland & Quist 2024. 312 S., 24 €

Lea Ruckpaul.

Sich an Vladimir Nabokovs weltberühmter »Lolita« abzuarbeiten, aus der Perspektive von ebenjener fälschlicherweise zum Symbol der verführerischen Kindsfrau gewordenen Dolores zu erzählen statt aus der des Täters Humbert Humbert, kann das gelingen? Lea Ruckpaul, Schauspielerin und Autorin von szenischen Texten, wagt dies in ihrem Prosadebüt. Dolores hat bei ihr ihren Tod nur vorgetäuscht und kämpft noch als Erwachsene mit den Geistern der Vergangenheit. Sie erzählt aus der Perspektive der Frau, die sich erinnert, und zeitgleich aus der des Mädchens, das den Missbrauch erlebt hat. Das liest sich teils sehr drastisch, benennt klar, was passiert – der Übergriff eines Erwachsenen an einem Kinderkörper. In metaphernreicher Sprache lässt Ruckpaul, der man den Theater-Hintergrund anmerkt, Dolores wüten, sie verzweifeln, sie schließlich einen Ausweg in ein selbstbestimmtes Leben finden. Nicht immer gelingt dabei die zumindest anfängliche Parallelführung zu Nabokovs Geschichte, hier und da tun sich inhaltliche Lücken auf und man wünscht sich, Ruckpaul hätte sich schon früher selbstbewusst vom Original entfernt – etwa dann, wenn sie den eigentlich unzuverlässigen Erzähler Nabokovs in dessen Perspektive stützt, wenn sie schildert, wie Dolores ihn vor ihrer Abfahrt ins Sommercamp überfallartig küsst – und damit zumindest an dieser Stelle, sicher unbeabsichtigt, den Mythos der verführenden Kindsfrau eher untermauert als untergräbt. Das Untergraben des Mythos gelingt der Autorin jedoch insgesamt. Ihre starke, auch die Lesenden in ihrer Anklage nicht auslassende Sprache trägt den Text auch über die inhaltlichen Unebenheiten hinweg. Eva Burmeister

Serhij Zhadan

Serhij Zhadan

Chronik des eigenen Atems. 50 und 1 Gedicht. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Berlin: Suhrkamp 2024. 124 S., 20 €

Serhij Zhadan.

Es ist nicht so, dass der Tod stumm wäre. Er beherrscht zum Beispiel das Russische in allen Registern, scherzt und poltert, zitiert Klassiker und Ganoven, kennt die ausgesuchteste Höflichkeitsformel, aber auch ein dreckiges Wörtchen, wenn es ihm angebracht scheint. Höchst flexibel und schnell wie eine Künstliche Intelligenz. Und doch hat er keine Sprache. Er äfft sie allenfalls nach. Ihm geht es wie einem jungen, von sich selbst hingerissenen Anfänger der Dichtung: Jede Silbe bedeutungsschwer wie ein Fallbeil, jeder Einfall von einer Weite und Leere wie der interstellare Raum. In Serhij Zhadans neuem, in der Ukraine 2023 erschienenem Gedichtband ist Sprache etwas, das sich zwischen Menschen ereignet, die sich einander »an der Stimme erkennen«, sei es in der Fremde des Exils, sei es im heimischen, bis zur Unkenntlichkeit zerbombten, vom Feind infiltrierten »Grenzland«. Sprache ist hier »die Freude, den Gleichgesinnten an einer winzigen Regung des Gesichts zu erkennen«, ist Selbstbeschwörung und Takt, ist Aufmerksamkeit für die zarten Lebenszeichen und Lettern im Schnee, ist Anteilnahme an der eigenen Stummheit: »Möge ich genug Geduld aufbringen, dein Schweigen anzuhören.« Diese Sprache braucht »den Mut zu benennen / und laut auszusprechen «, den Mut zu erinnern, zu bezeugen, zu widersprechen, aber: »Die Sprache braucht jene, / die leise sprechen / und überzeugend schweigen.« Zhadans Gedichte bewegen sich leise wie Meldegänger an der Grenze eines dröhnenden Schweigens, einer von Panzern überrollten, von Raketen und Drohnen überflogenen Grenze. Als vier Monate dauernde Zäsur klafft diese zwischen den beiden Teilen dieser »Chronik des eigenen Atems«, die in und um Charkiw entstandene Gedichte aus der Zeit vor dem 24. Februar 2022 und von danach versammelt. In ihrem Ringen um Sprache, um Sinn und um Menschlichkeit im Moment größter Gefahr erinnern sie an Davids Psalmen. Max Zschorna