anzeige
anzeige

Rezensionen

Larry June, The Alchemist

Larry June, The Alchemist

The Great Escape

The Great Escape

San Francisco – so faszinierend die Stadt ist – kann sehr eng, laut und stickig sein. Lokalheld und Szene-Größe Larry June hat das zum Anlass genommen, eine Flucht zu planen. Dafür hat er sich keinen geringeren als die Producer-Legende The Alchemist eingepackt und ist mit festem Griff um das lederummantelte Lenkrad eines teuren Sportwagens in die Berge Malibus gefahren, um »The Great Escape« aufzunehmen. Das Album, so viel sei verraten, klingt genauso, wie man sich einen Roadtrip entlang des unwirklich schönen Highway 1 der kalifornischen Küste vorstellt. Alchemist liefert mit seinen Produktionen die perfekten Beats, die sich mitunter aus verspulten Jazz-Samples und Siebziger-Jahre-Filmmusik zusammensetzen. Neben seinem Gespür für unkonventionelle, mitunter fordernde Samples ist die größte Stärke des Produzenten, den Künstlern die richtige Bühne für ihr Können zu schaffen. Bei Larry June sind das Beats, die seinen extrem coolen und abgeklärten Flow ergänzen. June hebt die Stimme nur, um eine von seinen eingängigen Hooks zu singen, die man ihm vor dem Album nicht unbedingt zugetraut hätte. Lyrisch weiß der Rapper ebenfalls zu überzeugen. Es gibt wohl wenige Musikerkollegen, die sowohl mit Luxusgütern als auch dem Genuss von Fruchtsmoothies nach dem Morgenspaziergang angeben können: »Drinking Juice in the Morning, calculate an hun’« (»89 Earthquake«). Auch die Features überzeugen: Vor allem die Songs mit Action Bronson, Curren$y und Wiz Khalifa zeigen, dass der Kalifornier bereit ist für die große Bühne. Jan Müller

Fargo

Fargo

Geli

Geli

Fargo bringt das Leuchten zwischen den dunklen Häuserschluchten zum Klingen. Ihre Veröffentlichung »Geli« widmen die vier Leipziger der 2018 verstorbenen Künstlerin Angelika Zwarg. »Dunkle Häuser«, eines ihrer Gemälde, zeigt Gebäude bei Nacht, die bedrohlich nah an einer roten Schlucht aufragen. Die Szenerie bricht ein gleißend helles Leuchten. Diese mystisch anmutende Ambivalenz aus hell und dunkel greift die Band nicht nur auf, indem sie Zwargs Gemälde als Albumcover auswählte, sondern auch mit ihren beeindruckenden Klangflächen. »Geli« versammelt in gewohnter Post-Rock-Manier eine kleine Anzahl an Songs in herrlich ausschweifender Länge und ohne Gesang. So pulsiert »Dresden« als schrammelnde, dröhnende Schwere der Instrumente. Demgegenüber kartographiert Fargo die Stadt »Regensburg« mit zarteren Linien. Von den Gitarren tropfen Melodien in den gediegenen, verträumten Klangfluss. Jener braust voran zum nächsten Track: »Berlin« suggeriert durch effektvollen Nachhall beeindruckende Weiten. Kühl wabern, raunen die Gitarren und beschwören Nebelschwaden. Der Rhythmus schreitet mit den Lichtern, die die klare Bassmelodie aussendet. »Pforzheim« durchdringt den Raum kraftvoll. Im Rausch der Musik scheinen die Gitarren mit ihren zeitweise fragilen Melodien gegen das sonst tonvolle Dunkel aufzubegehren. Die hellen Töne irrlichtern durch das brachiale, düstere Dröhnen. Zeitvergessen verliert man sich in den musikalischen Labyrinthen von Fargo – eine einnehmende, vielseitige Wucht. Claudia Helmert

Dust Sucker

Dust Sucker

Ich sende dir Rosen Ray

Ich sende dir Rosen Ray

Ein penetrantes Gitarrenfeedback, ein kazooähnliches Tröten und schon gerät man in den Sog der Dust Sucker, hinein in den Pogo auf weißen Tennissocken. Außer Atem hält man nach dem ersten Song inne und realisiert, dass man hier gerade nicht von einer fünfköpfigen Band, sondern von einem Duo, bestehend aus einem Drummer und einer Gitarristin sowie Sängerin, über den Haufen gespielt wurde. Anerkennend taumelt man zur Bar, um sich ein Sterni zu holen und starrt gebannt in den Nebel im gedimmten Scheinwerferlicht, aus dem atmosphärische Gitarren-Klanglandschaften aufsteigen. Das aktuelle Album »Ich sende dir Rosen Ray« ist die zweite Veröffentlichung der Leipziger Band. Neun Songs, darunter auch der erste deutschsprachige, der sich wunderbar einfügt in die anderen auf Englisch geschriebenen Stücke. Im DIY-Stil aufgenommen und produziert, hat das Album einige berührende, nahbare Momente, die den lauten, lustigen Funpunk-Momenten dramaturgisch kongenial gegenüberstehen. Hören kann man Dust Sucker auf Bandcamp und Youtube oder auch live. Im April waren sie mit Wrackspurts auf Tour, Leipzig allerdings war noch nicht dabei – es lässt sich also auf ein zeitnahes Konzert hoffen. Fiona Lehmann

Hendrik Otremba

Hendrik Otremba

Riskantes Manöver

Riskantes Manöver

Messer-Sänger Hendrik Otremba wurde im Vorfeld der Veröffentlichung seines ersten Soloalbums nicht müde zu betonen, dass seine Stammband trotz des eingeschlagenen Solopfades weiterhin existieren würde, man gerade gar an einem neuen Album arbeite. Keine Frage: Die Liste jener Sänger, die die erste Soloplatte als Sprungbrett genutzt haben, um sich des alten, lästig gewordenen Kollektivs zu entledigen, ist lang. Otremba hingegen hat sich für den Soloweg entschieden, weil sich über die Jahre Ideen, Melodien, Fragmente und Songs angesammelt haben, die bei Messer aus verschiedenen Gründen keinen Platz gefunden haben. Und tatsächlich wird auf »Riskantes Manöver« musikalisch neues Terrain betreten, das sich explizit von den bisherigen Messer-Platten unterscheidet – insbesondere vom funky-dubbigen Sound von »No Future Days«. Stattdessen verbindet Otremba hier chansoneske Songs mit gelegentlichen Industrial- und Noise-Explosionen, die in der Verbindung mehr als einmal an die Einstürzenden Neubauten erinnern. Nicht umsonst sprach Otremba im Vorfeld davon, dass das Album musikalisch die härtesten und zugleich zerbrechlichsten Elemente in seiner musikalischen Laufbahn vereine. Exemplarisch genannt werden können an dieser Stelle die wunderschön-intime Piano-Ballade »Bargfeld« sowie die brutal-verzerrte Doom-Walze »Nektar, Nektar«, deren simples wie zugleich eindringliches Gitarrenriff in Kombination mit Otrembas verzweifeltem Höllengeschrei wie eine Reinkarnation Black Sabbaths aus den frühen Siebzigern daherkommt. Höhepunkt der Platte ist aber zweifellos das Duett mit Die-Heiterkeit-Frontfrau Stella Sommer in »Smog in Frankfurt«, einem überragenden Remake des Schlager-Hits von Michael Holm aus dem Jahr 1974. »Welten sollen aufeinanderprallen«, hat Otremba in Bezug auf seine neue Platte gesagt. Das ist ihm zweifellos gelungen, und man möchte hinzufügen, dass durch die Kollision gar eine neue Welt entstanden ist – wenigstens für die Dauer dieses Albums. Luca Glenzer

Rose City Band

Rose City Band

Garden Party

Garden Party

Hinter dem Projektnamen Rose City Band verbirgt sich Ripley Johnson. Zusätzlich ist der Musiker aus Portland bei den Wooden Shjips zugange und eine Hälfte des Moon Duo. Die neue Platte ist die konsequente Fortführung seines letzten Longplayers »Earth Trip«. Darauf wurde entspannt und endgültig der Übergang von Psychedelic-Rock zu Country vollzogen. In demselben Fahrwasser mäandert »Garden Party« höchst gemütlich vor sich hin. Dass der psychedelische Einschlag immer noch spürbar ist, zeigt aber allein schon das Cover. Statt dem üblichen Grillzeug und Saufkram gibt es auf dieser Party Fliegenpilze, Kräutertee und doppelte Böden im Rasen. Doppelte Böden im Sound gibt es erfreulicherweise keine. Die Pedal-Steel-Gitarre gehört inzwischen zur ansprechenden Grundausstattung. Zugegeben, die acht neuen Songs erfinden das Country-Rad nicht neu. Da wir aber den meditativen Gitarrensoli und der sanften Stimme von Johnson stundenlang lauschen könnten, stellt dies kein größeres Problem dar. Alle Hörerinnen und Hörer, die Built To Spill auf Opiaten mögen könnten, sollten zugreifen. Kay Engelhardt

Mondëna Quartet

Mondëna Quartet

Circles

Circles

Das Mondëna Quartet gibt es seit 2019. Vier junge, klassisch ausgebildete Musikerinnen taten sich in Leipzig als Streichquartett zusammen. Ihre Musik bezeichnen sie selbst als Mischung aus Neoklassik, Pop, Folk und Filmmusik. Ihre Vielseitigkeit ist auf Streams und diversen ansprechenden Videos im Internet zu sehen und zu hören. Erfolge wie Nominierungen zum Opus-Klassik 2022 und Stipendien sprechen für sich. Das Quartett arbeitet auch als Begleitband mit unterschiedlichen Musikerinnen und Musikern wie Diana Ezerex, Felix Räuber, Sven Helbig und Felix Rösch zusammen. Seit 2019 hat sich viel getan, nun ist das Debütalbum erschienen: »Circles«, das ausschließlich Kompositionen der ersten Geigerin Shir-Ran Yiron enthält. Es sind fast alles circa fünfminütige stimmungsvolle Stücke, durchsichtig komponiert, makellos intoniert, trotz unterschiedlicher Charaktere eher ästhetisch als emotional. Die Vorliebe für sphärisch-lyrische Klänge überwiegt. Diese Musik kann für sich alleine stehen, lädt aber dazu ein, durch Bilder, Tanz, Gesang ergänzt zu werden, oder wie im letzten Stück auf dieser CD – »Remember« – durch Clemens Christian Poetsch am Klavier Silke Peterson

Aelbgut

Aelbgut

Leipzig 1723

Leipzig 1723

Das musikalische Leipzig feiert sich mal wieder: 300 Jahre ist es her, dass Bach seinen fürstlichen Kapellmeisterposten in Köthen gegen das Amt des Thomaskantors tauschte. Als er mit mehreren Kutschen im Frühjahr 1723 an der Pleiße aufschlug, berichtete sogar die Zeitung darüber – eine Seltenheit in Bachs Leben. Dabei war er zunächst nur »dritte Wahl« und konnte das Amt nur antreten, weil Telemann und Graupner aus unterschiedlichen Gründen ihre Berufungen ausschlugen. Accentus widmet nun dem langwierigen Bewerbungsverfahren eine CD und stellt die erhaltenen Probe-Musiken der drei gegenüber. Im informativen Beiheft vollzieht Bachfest-Intendant Michael Maul einen spannenden Zeitsprung und liefert höchst unterhaltsam den neuesten Stand der Forschung. Auch musikalisch ist die Scheibe des Solistenquartetts Aelbgut sehr erhaben – wenngleich auch die Besetzung mit einem Sänger pro Stimmgruppe wenig historisch ist. Aber wie die vier gemeinsam mit den Instrumentalisten der Capella Jenensis hier die Musikgeschichte zum Klingen bringen, das verdient wirklich höchsten Respekt. Hagen Kunze

Mira Mann

Mira Mann

Weich

Weich

Das anfängliche Rauschen löst sich auf, die Töne flirren vor sich hin, der Rhythmus surrt leichtfüßig und Synthies geben Rückhalt. Die Musik formt die Kulisse, vor der die hübschen Sprachbilder Mira Manns glänzen: »Die Welt drückt sich durch mich durch«. Die klare, warme Stimme der Solokünstlerin rezitiert bisweilen lakonisch im Hall, häufiger glühend deutlich. Dadurch formt ihre Lyrik Close-ups in die allgemeine Fluktuation: »Ich mache etwas und beobachte mich dabei (…) Welt, ich bin dein Groupie«. »Weich« betitelt Mira Mann ihr Debütalbum und skizziert ihr zartfühliges Drehbuch für die Gegenwart. Zwischen dem ersten Song »Unruhe« und dem abschließenden Track »Vertrauen« reihen sich Szenen von Verletzlichkeit, von Angst und Gedankenverlorenheit aneinander. Sie ist soft im Diskurs. Ihre reduzierten, berauschenden, nicht selten wabernden, bisweilen sogar seufzenden und pulsierenden Klänge positioniert sie als Scheinwerfer. Im tonvollen Lichtkegel strahlt ihre Poesie, leuchten die Worte. »Weich« ist eine filmische Kontemplation, bei der die Spoken-Word-Künstlerin gekonnt Regie führt. Mira Mann formt schon länger die deutschsprachige Popkultur: Sie schreibt (für Das Wetter und die Süddeutsche Zeitung), musiziert (ehemals auch als Teil der Gruppe Candelilla) und arbeitete als Veranstalterin (allen voran in München). Seit 2019 verknotet sie die Fäden aus Erfahrungen und Erlebnissen, um als Solokünstlerin zu beeindrucken – das gelingt ihr mit dem hier vorliegenden Debüt. Claudia Helmert

Karies

Karies

Tagträume an der Schaummaschine I

Tagträume an der Schaummaschine I

Die Schaummaschine sorgt für euphorische Stimmung auf Dorfpartys und in der Großraumdisko. Wo andere Wodka-Red-Bull aus Plastikbechern trinken und sich halb-rhythmisch zu den aktuellsten Chart-Tracks verrenken, verliert sich die Stuttgarter Band Karies in ausgedehnten Tagträumen. Das jedenfalls suggeriert der Titel ihres mittlerweile vierten Albums: »Tagträume an der Schaummaschine I«. Wer sich als Karies-Fan der frühen Stunde nun auf krachige Post-Punk-Sound-Gewitter gefreut hat, könnte enttäuscht sein. Denn der Nachfolger des 2018 erschienenen Albums »Alice« ist deutlich Synthie-lastiger, elektronischer und Pop-orientierter geraten. Klar, verzerrte Gitarren gibt es auch hier zur Genüge, tragendes Element der Songs sind allerdings eher die elektronischen Sound-Landschaften, für deren Produktion vor allem Paul Schwarz (seit 2018 Drummer der Band) verantwortlich zeichnet. Zusammen mit den gewohnt kryptischen Karies-Lyrics erschafft »Tagträume an der Schaummaschine I« eine sehr eigentümliche, surreale, quasi traumhafte Atmosphäre, die durchaus gut zur Band passt. Man kann darin versinken wie in warmen, Stroboskoplicht-durchzuckten Schaumtürmen, während einen nicht mehr interessieren muss, was DJ Uwe weit hinten an den Plattentellern der Realität so veranstaltet. Die Texte wirken wie beiläufig aufgeschnappte Fetzen aus einer fernen Traum-welt: »Hab ich Angst? Lieg ich wach?« – wer hat sich das nicht schon mal gefragt, morgens bei Sonnenaufgang nach dem siebten Wodka-Red-Bull? »Alles oder nichts versäumen?« – Was denkst du, DJ Uwe, was denkst du? Yannic Köhler

Mallorca

Mallorca

Am Zusammenbruch

Am Zusammenbruch

In einem Monat, in dem Helene Fischer an fünf Abenden hintereinander die Bühne der Arena okkupiert und damit den ohnehin miserablen musikalischen Durchschnitt der Location weiter schamlos ins Bodenlose reißt, ist es eigentlich mal wieder an der Zeit, eingehender über die Zukunft des Schlagers nachzudenken. Alles geht vor die Hunde, hört man den Kulturskeptiker raunen – selbst jene Musik, der Marlene Dietrich und Hildegard Knef einst Anmut und Glanz verliehen. Doch Geschichte verläuft ja immer dialektisch, und das ist der Moment, Mallorca ins Spiel zu bringen. Mallorca? Nein, nicht das 17. Bundesland von Schland, sondern ein Leipziger Trio, das mit »Am Zusammenbruch« nun sein zweites Album veröffentlicht hat. Was das mit Fischer und der Zukunft des Schlagers zu tun hat? Ehrlicherweise nicht viel, nur dass die Band ihre Musik eben Future-Schlager nennt. Und auch sie ist irgendwie »atemlos durch die Nacht« unterwegs, nur eben nicht mit teurem Schampus ausgestattet im Backstage-Bereich des ZDF-Fernsehgartens, sondern eher mit schlechtem, dafür aber viel Bier (Hypothese!) und ein paar Schachteln Kippen im Keller der Ilse. Dort nämlich hat sich vor einigen Jahren das Leipziger Label Dran gegründet, auf dem Mallorca nun den Nachfolger ihres tollen Debüts »Melancholie & Wahn« veröffentlichen. Und auch auf »Am Zusammenbruch« dominieren statt Hyper-Pop-Beats weiterhin fuzzige Gitarren, treibende Drums und Texte, die assoziativ zwischen Alltagstrott, Straßen- und Innenleben Pingpong spielen. Wie schon auf dem Debüt sind auch dieses Mal wieder einige catchige Ohrwürmer darunter, wobei »Entweder und« und »Kontrollverlust« herausstechen. Jede Form von Experimentalität und Wagnis umkurvt das Trio dabei großzügig, was dem Hörfluss mehr zugutekommt als der Wahrscheinlichkeit, sich mit der Musik einen Eintrag in den Musikgeschichtsbüchern zu sichern. Aber darauf hat es das Trio – aller Zukunftsgewandtheit zum Trotz – wohl eh nicht abgesehen. (...) Luca Glenzer

Blond

Blond

Perlen

Perlen

Hauptsache es perlt, Hauptsache es knallt – nach »Martini Sprite« auch auf »Perlen«, dem zweiten Album von Blond. Und ja, Nina und Lotta Kummer sind die Schwestern der Brüder Kraftklub. Aber das tut nichts weiter zur Sache. Blond sind vielmehr etwas für diejenigen, die bei wesentlichen Themen wie Feminismus nicht mehr endlos diskutieren und argumentieren wollen, sondern eher Bilder sprechen lassen. Maßlos bunte und leicht überzeichnete Bilder. »Ich habe endlich meinen Therapeut – meinen Boy« oder der verwunderte Blick im Backstageraum: »Wir sind allein, wo sind all die anderen Frauen?«. Mit Bass, Schlagzeug und Gitarre zünden Blond ein Konfetti-Feuerwerk des Elektropop, jedes Lied wie ein einziger Refrain, der klebenbleibt wie ein statisch aufgeladenes Stück Frischhaltefolie. Elektropop als Protest, Judith Butler zum Tanzen. Blond sind mit diesem Ansatz in guter Gesellschaft und stehen damit in der Tradition von Bands wie Stereo Total und Doctorella. »Perlen« erscheint nicht zum Frauenkampftag am 8. März – das wäre zu einfach. Es erscheint am 14. April, dem Schau-in-den-Himmel-Tag. Und das ist fast noch schöner: Denn wenn wir mit zurückgelehntem Kopf in einen knallblauen Himmel schauen, fängt die Welt irgendwann an, sich zu drehen, und die Grenzen verschwimmen. Kerstin Petermann

Fever Ray

Fever Ray

Radical Romantics

Radical Romantics

»So, ich schreibe jetzt mal ein Album über Liebe.« – Was bei so vielen Musikerinnen und Musikern geradewegs in die Kitsch-Falle führen würde, ist bei Fever Ray gern angenommene und grandios gemeisterte Herausforderung. »Radical Romantics« ist das zweite Soloalbum von Karin Dreijer aka Fever Ray nach der Auflösung ihrer Band The Knife. Und wer die morbide Ästhetik und unwiderstehlichen Grooves der Schwedin kennt, muss nicht befürchten, dass es auf dem Album vor Schmalz und Kitsch trieft. Im Gegenteil: Fever Ray findet sehr abstrakte Bilder, um Gefühle wie Zusammengehörigkeit, Abhängigkeit oder Begehren zu zeichnen. Eines davon ist Kohlendioxid als stabile, untrennbare Einheit und als Element des Lebens. Darüber hinaus regiert in den zehn Songs wieder die faszinierend kühle Schönheit aus flächig-verzerrten Synthesizern, Cembalos und Beats, über denen Karin Dreijers kräftiger, aber auch entrückter und verrauchter Gesang schwebt. Er ist es auch, der die Songs zusammenhält. Denn mehr noch als auf dem Vorgänger ist die Produktion von einem Kollektiv geprägt, das aus Mitgliedern besteht, die kaum unterschiedlicher sein könnten: Da sind zum Beispiel Trent Reznor und Atticus Ross mit naturgemäß eher rockigeren Beats, denen Dreijers Bruder Olof einen Hyper-Pop entgegenhält. Als weiteren prägenden Einfluss bringt Nídia tanzbare Grooves ein. Das Ganze führt zu einer sehr sphärischen, aber faszinierend poppigen Mischung. Kerstin Petermann

Patricia Kopachinskaja & Fazil Say

Patricia Kopachinskaja & Fazil Say

Janáček, Brahms, Bartók

Janáček, Brahms, Bartók

Patricia Kopachinskaja ist eine Ausnahmekünstlerin. Dass die moldauische Geigerin auf den großen Bühnen oft barfuß spielt, ist letztlich nicht wirklich wichtig. Einmalig ist ihr Ausdrucksvermögen, diese Mischung aus Wildheit, Zärtlichkeit, Humor, Wachheit und Intelligenz. Als Duopartner ebenbürtig ist der türkische Pianist und Komponist Fazil Say, mit dem sie jetzt eine CD eingespielt hat, auf der die bekannte Brahms-Sonate d-moll eingerahmt wird von der Sonate Leoš Janáčeks mit ihrer ganz eigenen geheimnisvollen Tonsprache und Bartóks erster Sonate. »Arrested in dissonances« sei er, hat Bartók von sich selbst gesagt und damit auch seine Musik beschrieben. Kopachinskaja und Say sind in dieser Musik zu Hause wie niemand sonst. Die Aufnahme wirkt spontan und sprechend, wie es bei Studioaufnahmen selten ist, das Finale mit seiner rhythmischen Urkraft und Spielfreude schier atemberaubend. Brahms’ vielgespieltes Werk kommt anfangs ungewohnt brüchig, verletzlich, geheimnisvoll daher. Die Balance der Instrumente ist hier vielleicht nicht ganz ideal, eine sehr persönliche Interpretation abseits ausgetretener Pfade ist es allemal. »Patkop« und Say sollte man nicht verpassen live zu erleben. Bis dahin mag diese CD mit ihrer fast greifbaren Körperlichkeit genügen. Silke Peterson

John Eliot Gardiner

John Eliot Gardiner

The Complete Erato Recordings

The Complete Erato Recordings

Als John Eliot Gardiner 2014 zum Präsidenten der Stiftung Bach-Archiv in Leipzig ernannt wurde, war das eine Sensation. Denn der Pionier der historischen Aufführungspraxis – kein lebender Künstler gewann mehr Gramophone-Awards – hatte einst Berührungsängste mit der Bachstadt. Davon ist nun keine Rede mehr, selbst ein lange in Gardiners Elternhaus zu bestaunendes Bach-Porträt fand nun seinen Weg nach Leipzig. Darum ist es für einheimische Musikinteressenten Pflicht, an einer gigantischen Sammlung mit Gardiner-CDs nicht vorbeizugehen. Erato hat auf insgesamt 64 Scheiben alle Aufnahmen, die der Brite zwischen 1976 und 1995 für das französische Label verfertigte, noch einmal in eine handliche Box gepackt. Die Edition verdeutlicht eine bewundernswerte Breite des Repertoires – von Monteverdi und Bach bis hin zu den von Gardiner für ihre Sinnlichkeit verehrten Franzosen des 19. Jahrhunderts, deren Musik natürlich auch auf Instrumenten der Entstehungszeit zu hören ist. Zweifellos eine würdige Ehrung zum 80. Geburtstag, den Gardiner in diesem Frühjahr feiert. Hagen Kunze

Neu Rot

Neu Rot

Halt an

Halt an

Es hat etwas gedauert. Die Release-Party, ein gefeiertes Konzert in der Nato, war schon im November 2021, aber da griffen pandemische Produktionsprobleme, die fortwirkten. Das Warten aufs Produkt ist allerdings nichts gegen den Zeitraum, der zwischen der Kassette in Kleinstauflage im Spät-DDR-Jahr 1988 und der Würdigung auf Vinyl liegt. Ein Weg, der Prinzip bei Tapetopia ist: die DDR-Subkultur in erneuten Umlauf zu bringen, zuerst nur auf LP, nunmehr jedoch, befördert durch die Engpässe und dann durch Absatzerfolge, auch erneut auf Tape. Ob als MC oder LP: »Halt an« offenbart die Sonderstellung der Band, die Wurzeln im lokalen Frühpunk hat. Zum wuchtigen Minimalismus einer komplexen Rhythmik kommen gezielte Einwürfe der Violinistin, eingebettet in schroffe Psychedelic-Sounds, die intelligente Texte transportieren. Mit eigenwilligen Referenzpunkten, irgendwo zwischen Post-Birthday-Party und den deutschen Alben von Peter Gabriel. Ein Meilenstein on the other side of Heldenstadt! Alexander Pehlemann

Jonatan Leandoer96

Jonatan Leandoer96

Sugar World

Sugar World

Jonatan Leandoer, der den meisten als Yung Lean bekannt sein dürfte, hat ein neues Album. Der Schwede, der als einer der Erfinder des Cloud-Rap gilt, wagt mal wieder Neues. Sein Alternative-Rock-Projekt, dessen Name die ID seines My-Space-Profils sein könnte, steht auf den ersten Blick in starkem Kontrast zu seinen Autotune-lastigen und verspulten Veröffentlichungen als Yung Lean. Dass Leandoer aber auch Balladen kann, sollte spätestens seit Songs wie »Agony« auf »Stranger« (2017) klar sein. Auf »Sugar World« bedient er sich der Achtziger-Jahre-Ästhetik von Schlagermusik und Soundtracks von Kitschfilmen. Das Album kann als zeitgenössisch-weirder Kuschelrock verstanden werden, bei dem sich Referenzen der Hiphop-Kultur finden, wenn Songs »Open (Copenhagen Freestyle)« heißen oder Pillen in rauen Mengen konsumiert werden. Inhaltlich erinnert das Album an eine Soap-Opera im Rausch, die aber auch verträumt-traurige Qualitäten hat: »Walk inside a lonely heart / There’s nobody left around / And the champagne bottles hit the ground«. Auch wenn der Schwede nicht alle Töne trifft (oder vielleicht deswegen), hat die Platte einen Charme, der an die Solo-Alben eines Pete Doherty erinnert. Das liegt auch an der Produktion des Dänen Frederik Valentin, der das passende 80s-Soundbild kreiert. Es fühlt sich an wie das europäische Pendant zu einem US-High-School-Film: mit Höhen und Tiefen, bis man nach Ende der Prom-Night allein auf dem Dancefloor schunkelt. Gibt es noch ein Happy-End in der »Sugar World«? Gut möglich. Jan Müller

Freche Mode

Freche Mode

Busy wie die Sonne

Busy wie die Sonne

»Vielleicht löse ich mich auf«, raunt eine Stimme, nachdem der säuselnde Synthie sich der auflauernden Gitarre mit rhythmischem Repetitiv hingibt. Erhascht von den einsetzenden Drums, groovt der Track »Swimming Pool« eingängig. Er ist der erste des jüngst erschienenen Debütalbums von Freche Mode aus Leipzig. 2019 fanden die beiden Gründungsmitglieder Yannic und Eric in Dresden zueinander. Dazu gesellte sich Nietzsche, der in der Bandbio frei herbeizitiert wird. In seinen Ausführungen zum Rausch (bzw. zum »Dionysischen«) hat er bereits im 19. Jahrhundert »freche Mode« anerkannt. Zudem steuerte eine Künstliche Intelligenz das willkürlichste aller möglichen Plattencover bei – warum nicht. Die beiden Musiker reihen alle flink aufgeschnappten Eindrücke und Beobachtungen für schmucke, obgleich mitunter willkürlich wirkende Lyrics aneinander. So besingen Freche Mode mit klarem, wohligem Timbre unter anderem »Angenehme Temperaturen (jetzt und forever)«, den »Riss im Display« oder »Liebe in Zeiten des Mindestlohns«. Diese nonchalanten Wortketten stehen dem Zeitgeist hervorragend! Jener tanzt beeindruckend unbeschwert mit den lockenden Synthieklängen und berauscht sich am unaufhaltsamen Wirbel der Gitarrentöne. Der vereinnahmende Songreigen »Busy wie die Sonne« rahmt die strahlende Gegenwart. Die beiden Musiker von Freche Mode schöpfen aus dem Aufgewühltsein ein wuseliges Texttreiben und heben sich mit ihren wundervoll eingängigen Melodien über die Hektik des Alltags, die wir doch alle kennen. Claudia Helmert

Agar Agar

Agar Agar

Player Non Player

Player Non Player

Ein Videospiel-Charakter, der alleine auf einer verlassenen Insel gefangen ist und sich vor lauter Einsamkeit und Langeweile von den Klippen stürzt, aber leider (oder zum Glück) jedes Mal wieder auf der Insel spawnt – das ist das absurd-tragische Setting des Musikvideos zum Agar-Agar-Song »Trouble« aus dem neuen Album »Player Non Player«. Ein Faible fürs Absurde und Surreale hatte das französische Elektro-Pop-Duo schon immer, in seinem zweiten Album wird das Ganze nun in virtuelle Welten versetzt. »Player Non Player« geht nämlich gut und gerne als eine Art Videospiel-Konzept-Album durch: Angefangen beim Titel und der Ästhetik des Artworks über die Musikvideos bis hin zu den Lyrics über Monster, Drachen oder Typen auf Pferden. Zum Album wird später im Jahr dann auch noch ein gleichnamiges Videospiel erscheinen, das laut Angaben der Entwickler eine Mischung aus Puzzle-Game und queerem Dating-Simulator sein soll. Kein Wunder also, dass sich Agar Agar ganze fünf Jahre Zeit gelassen haben, um an diesem transmedialen Pop-Projekt zu schrauben. Auch musikalisch wirkt »Player Non Player« sehr viel ausgereifter als seine Vorgänger. Es wurde deutlich mehr mit Klängen und Effekten herumexperimentiert, an Knöpfen gedreht und Reglern geschoben. Der Sound ist dichter, filigraner, ausgefeilter, dadurch aber auch weniger eindringlich. Der schräge Punk-Charme und erfrischend ungestüme Synthie-Minimalismus, der Agar Agar so besonders gemacht hat, bleibt hier ein wenig auf der Strecke. Aber nun ja, Musiker müssen sich nun leider (und zum Glück) ja auch irgendwie weiterentwickeln. Yannic Köhler

Yo La Tengo

Yo La Tengo

This Stupid World

This Stupid World

Diese Band kann nichts, aber auch wirklich gar nichts aus der Ruhe bringen. Man stelle sich einmal vor, die gegenwärtigen Weltkrisen würden sich bis zur Entsetzlichkeit weiter zuspitzen: Es ist anzunehmen, dass Yo La Tengo auch dann noch in schöner Regelmäßigkeit Alben produzieren würden, die eine so stoische Gelassenheit vermitteln wie sonst nur eine milde Küstenbrise. Das ist nicht auf Weltabgewandtheit zurückzuführen und schon gar nicht auf Zynismus, sondern – das sei der Band an dieser Stelle einfach mal unterstellt – auf eine unbeugsame Zuversicht. Die jedenfalls wird auf »This Stupid World«, dem neuen Album, einmal mehr vermittelt. Und natürlich klingt die darauf enthaltene Musik im Grunde genommen genauso wie die vorangegangenen Alben auch, but so what? Yo La Tengo haben in 39 (!) Jahren Bandgeschichte einen Sound erschaffen, der schlicht nicht zu reproduzieren ist – von niemandem, außer der Band selbst. Dabei streifen sie mittels Effekt-aufgetürmter Gitarren einmal mehr die Sphäre des Noise, ohne dabei noisy zu klingen. Denn am Ende biegen sie immer ab in lieblichere, aber nie kitschige Gefilde. Im Grunde genommen spielen sie dabei verkappten Folk-Pop, der auch mit einer verstimmten Westerngitarre am Lagerfeuer funktionieren würde. So wie in der vorab veröffentlichten Single »Fallout« oder dem von Drummerin Georgia Hubley gesungenen »Aselestine«. Im Titeltrack breitet sich dann doch soundtechnische Unruhe aus, aber wie sollte es auch anders sein, wenn man die Dummheit der Welt besingt? Der darauf folgende Abschlusstrack »Miles Away« glättet mit sphärischen Sounds und der unvergleichlichen Stimme Hubleys wieder die Wogen, so dass man in Ruhe davongleiten kann – wenigstens in Gedanken. Luca Glenzer

Jordi Savall

Jordi Savall

Beethoven: Sinfonien Nr. 6–9. Le Concert des Nations

Beethoven: Sinfonien Nr. 6–9. Le Concert des Nations

Hand aufs Herz: Das Beethoven-Jahr 2020 ging doch fast komplett in der Pandemie unter. Verglichen mit der Bedeutung, die dieser Komponist hat, war das Ergebnis an Neueinspielungen rund um den 250. Geburtstag mickrig. Darum ist man sogar beruhigt, dass mit etwas Verspätung nun der große Jordi Savall eine Neuaufnahme der vier letzten Sinfonien vorlegte, die das Zeug hat, in die Eliteliga aufzusteigen. Was außergewöhnlich ist, denn unter den gefühlt 200 Gesamtaufnahmen gibt es mit Sicherheit zwei Dutzend herausragende Editionen. Warum also braucht die Welt die Deutung des 80-jährigen Katalanen, der sich mit seinem Ensemble Le Concert des Nations eher als Experte für Barockes einen Namen gemacht hat? Ganz einfach: Beethoven kann nicht frischer klingen als hier. So vielschichtig wurden die Sinfonien bisher kaum präsentiert. Mal sind sie tänzerisch, dann wieder voller dramatischer Wucht, stets aber bis ins Detail durchdacht. Last but not least: Die liebevolle und aufwendige Edition im Eigenlabel Alia Vox hebt sich auch optisch ab von der sonst üblichen Massenware der großen Labels. Hagen Kunze